Kitabı oku: «Auf der anderen Seite der Schwelle», sayfa 7
Kapitel 8
Und so war mit dem schleichenden Vergehen der Zeit auch wieder mal ein Tag der „Sprecherlaubnis“, für Totila und Sebastian herangerückt. Totila wurde als erster geholt und im Erdgeschoß in diese Zelle geführt, die er von einem ersten Besuch seines Vaters her schon kannte. Dort musste jeder Häftling seine abgewetzten Klamotten für den Besuch gegen eine nagelneue Gefangenenuniform tauschen. So „fein“, gemacht führte man ihn dann über den Hof, neben der Einfahrt ein paar Stufen hoch in den „Sprecherraum“.
Totilas Vater, Pfarrer Kunzmann, wartete dort bereits an einem Tisch auf das Erscheinen des Sohnes. Allen Besuchern wurde vor dem Erscheinen des zu Besuchenden jedes Mal von neuem klar gemacht, dass über Anstaltsangelegenheiten nicht gesprochen werden dürfe und dass andernfalls die Sprecherlaubnis sofort abgebrochen werden müsste. Das Gleiche predigte man auch dem Gefangenen vor jedem Besuch von Angehörigen und dass politische Themen verboten seien. Etwas, das man aber in fast jedes Gespräch hineininterpretieren könnte, meinte Sebastian. Und überhaupt, das träfe auf jeden zu, der dort diese halbe Stunde Besuch empfing, die sich „Sprecherlaubnis“, nannte und den Besucher, jedoch mehr noch den Besuchten, eher sprachlos werden ließ.
Totila betrat schließlich diesen ‚Sprecherraum‘, bemüht um ein fröhliches Lächeln, begrüßte den Vater und ließ sich auf einem Stuhl ihm gegenüber nieder.
Rechts von ihm an der Stirnseite, saß mit gespitzten Ohren der Wachtmeister.
Es waren nicht alle so, es gab wenige, denen das Ganze peinlich zu sein schien, die einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufsetzten und zur Seite, zum Fenster hinaus blickten.
Gespräche bei diesen Besuchen verliefen dann zumeist so, dass der Besucher oft angestrengt über ganz banale Familienangelegenheiten, Geschwister und Verwandte monologisierte, während der Besuchte, also der Gefangene, sich mehr oder weniger aufs bloße Zuhören beschränkte. Mit am Tisch saß ja schließlich immer ein Wachposten, sei es ein Unteroffizier, Feldwebel oder auch Leutnant der Volkspolizei, der aufmerksam jedes Wort mithörte.
Und so teilte Pfarrer Kunzmann dort am Tisch seinem Sohn ganz offizeill mit, dass der ihn hier das letzte Mal als DDR-Bürger sähe und die Kirchenleitung ihn schon zum 1.September nach West-Berlin versetzen würde. Er hoffe ihn dann weiterhin mit Einreise- und Sprecherlaubnis besuchen zu können. „Mit meinem Herzen steht’s nicht zum besten“, fügte er dann zögerlich etwas leiser hinzu und Totila sah Trauer in den Augen seines Vaters. Gegebenenfalls würde auch seine Mutter ihn besuchen kommen, fuhr der Pfarrer fort und bestellte Grüße von Bruder und Schwester, die ja seit eh und je bei der Mutter in West-Berlin lebten. Die Schwester stehe kurz vor ihrem Lehrerinnen-Examen, berichtete er. Der jüngere Bruder habe das Gymnasium abgebrochen und eine Elektrikerlehre begonnen. Er wolle danach einen Fachschulabschluss anstreben.
Totila kannte das ja alles. Neu war lediglich, dass der Bruder mit Versetzung in die elfte Klasse nun tatsächlich als sogenannter Einjähriger, eine alte längst überholte Bezeichnung fand er, das Gymnasium verlassen hatte. „Das hat der ja immer vorgehabt“, reagierte er auf die Mitteilung des Vaters.
„Ja natürlich“, antwortete der, „nur dass es jetzt entschieden ist, allerdings gegen den Willen seiner Mutter, die ihn lieber mit Abitur gesehen hätte“, fügte er lächelnd hinzu.
„Ich hab ja auch kein Abi“, warf Totila grinsend ein. „Als Kugelkreuzbandit hat man darauf eben kein Anrecht im Arbeiter- und Bauernstaat …“ „Halten Sie sich an die Vorschriften, sonst brechen wir gleich ab!“, drohte der Uniformierte.
„Tu ich ja“, entgegnete Totila. „Keine internen Angelegenheiten. Daran habe ich mich gehalten.Und Kugelkreuzbandit? Mit genau dieser Bezeichnung hatte man mich von der Oberschule verwiesen.“
Der Unterleutnant am Tisch schüttelte energisch den Kopf. „Auch politische Gespräche sind hier nicht erlaubt, das wissen Sie doch!“
Totila hob die Schultern. „Tja, dann ist ja alles Erlaubte schon gesagt. Worüber sollen wir nun noch reden?“, fragte er den Vater. „Gibt es für dich schon einen Nachfolger in Großräschen?“
Pfarrer Kunzmann schüttelte den Kopf. „Das wird der Lehmann aus Mitte erst mal kommissarisch mit übernehmen.“
„Bis die auf deine Stelle wieder einen strafversetzen, zum eigenen Schutz natürlich.“
Der Pfarrer lachte kurz auf. „Das denke ich nicht“, sagte er, „Großräschen eignet sich jetzt nicht mehr dazu.“
„Ein Agentennest“, sagte Totila augenzwinkernd.
„Zum letzten Mal, keine politischen Gespräche!“, erfolgte prompt die Drohung des Unterleutnants am Tisch.
Immerhin erstaunlich nachsichtig erschien es Totila.
„So eine Sprecherlaubnis bringt es lediglich mit sich, dass man sich mal wieder sieht. Das ist dann aber auch schon alles“, erklärte Totila wieder in seiner Zelle.
„Sprechen kann man über fast gar nichts, alles ist verboten. Was man auch sagt, entweder sind’s Anstaltsangelegenheiten oder politische Gespräche. Man kann eigentlich nur sagen: Mir geht es gut. Ich bin gesund und fragen: Wie geht’s der Oma, was macht die Schwester, lebt der Hund noch … Dazu reicht dann eine halbe Stunde alle Vierteljahre längst aus.“
„Auch auf Sebastian wartete bald darauf seine Mutter, als er extra fein gemacht den ‚Sprecherraum‘ betrat.
„Ein Besucheranzug“, sagte er zur Begrüßung grinsend mit der Hand an sich hinabweisend, bevor er sich an den Tisch setzte.
Der Unterleutnant dort guckte bereits skeptisch.
Das Gespräch zwischen Mutter und Sohn begann dann auch lapidar: Ja, er sei gesund. Es ginge ihm gut. Er bekäme auch Bücher auf die Zelle. Es war klar, dass die Mutter sich unter seiner Zelle natürlich nichts Zutreffendes vorstellen konnte. Doch dann erwähnte die Mutter Christa Richter, Sebastians junge Freundin aus Leipzig, und ob sie ihr von seinem Geschick schreiben solle. Sie habe es noch nicht getan, doch nun sei ein Brief von ihr eingetroffen mit der Frage, weshalb er so unendlich lange nichts habe von sich hören lassen.
„Natürlich, schreib ihr was los ist“, sagte er. „Die weiß ja noch gar nichts.“
„Wer weiß aber, wie sie das aufnehmen wird?“, fragte die Mutter und in ihrer Stimme schwang Besorgnis mit.
„Weiß ich auch nicht“, erklärte Sebastian und hob unschlüssig die Schultern.
„Ich hoffe“, sagte er, „ich hoffe sie wird’s verstehen.“
Das erwies sich dann schon als eine wichtige Mitteilung bei diesem ‚Sprecher’.
An seine junge Freundin Christa hatte er bei den ganzen neuen Eindrücken in der zurückliegenden Zeit nur selten denken können. Wie alt ist sie jetzt eigentlich, fragte er sich dort am Tisch … Sie müsste sechzehn werden. Ob sie noch weiter zur Schule geht?
Des Weiteren erfuhr er von seiner Mutter noch, dass seine Großmutter eine Fleischvergiftung überstanden habe und es ihr bereits viel besser ginge. Und schließlich Eberhard, sein jüngerer Bruder: Der sei faul in der Schule „wie ihr alle“, betonte die Mutter, bringe aber gute Zensuren nach Hause.
„Na, was willst du mehr“, sagte er und grinste dazu, „der kann sich diese Faulheit einfach leisten.“
„So was mögen die in der Schule aber nicht.“
„Ja natürlich, weil er noch immer die falschen Eltern hat. Etwas hat sich’s ja schon geändert … aber das würde jetzt hier zu weit führen“, sagte er, als er sah, dass der Zensor am Tisch bereits die Ohren spitzte.
„Übrigens“, fuhr die Mutter fort, „der Langenbach ist nach Altdöbern versetzt worden und jetzt dort Rektor am Lehrerbildungsinstitut.“
Langenbach, erinnerte Sebastian sich, Langenbach, der als Lehrer vor allen Schülern erklärt hatte, er, Sebastian Sebaldt, gehöre einer untergehenden Klasse an und der dann mit allen Mitteln versucht habe, schon seine Grundschulkarriere zu ruinieren. Langenbach, dieser einstige HJ-Fähnleinführer, Afrika-Korps-Kämpfer und spätere SED-Parteisekretär der Schule, den alle Kollegen fürchteten, war dann derjenige gewesen, der ihn mit seinem Hass endgültig politisch geweckt hatte: Heiligtümer des Stalinismus … Er hatte sich in sie vertieft und nur Ausgrenzung, Unterdrückung und Vernichtung gefunden, schlecht verpackt in sprachlichem Kitsch aus Wolkenkuckusckheim wie er das nannte. Wenn etwas untergeht, hatte er sich gesagt, dann dieser unbegrenzte Machtanspruch, an dem auch Hitler schon zu Recht gescheitert war.
Doch jetzt saß er an diesem Tisch und seine Mutter litt darunter, ihn so sehen zu müssen in dieser gezeichneten Kluft. Seine Schwestern, erzählte sie noch, hätten beide nach der 8.Klasse eine Lehre als Schaufensterdekorateure begonnen.
„So etwas ähnliches hatte ich mir schon gedacht“, sagte Sebastian.
Und irgendwie war dann diese halbe Stunde auch verflogen. „Die Zeit ist um!“, verkündete der Zensor und erhob sich auffordernd. „Verabschieden Sie sich.“
In den Augen seiner Mutter erblickte Sebastian Tränen und sie tat ihm sehr leid.
„Mach dir keine Sorgen“, versuchte er zu trösten, „ich stehe das hier schon durch.“ Aber das waren eben auch nur Worte und er ahnte in seiner angespannten Lage den Schmerz der Mutter nicht wirklich. Er sah seine Situation wie unter einem Blitzlichtstrahl ohne Zeit, alles gleichermaßen vor Augen: Die stark beengten äußerst primitiven Verhältnisse, in denen er wohl Jahre würde verbringen müssen, wovon die Mutter zum Glück nichts wusste, wie etwa das mit dem Kübel für die Notdurft in den überbelegten Zellen, der für jeweils vier Menschen ausreichen musste und dass das nur möglich sein konnte, wenn alle diesen Kübel zu bestimmten Zeiten der Reihe nach hintereinander benutzten. Sonst ginge da nichts, denn geleert wurde dieser stets randvoll erst wieder am Abend.
An heißen Sommertagen etwa war die schweiß- chlor- und uringesättigte Luft in den Zellen förmlich zu schneiden. Doch von all dem konnte seine Mutter nichts wissen, die ihren Sohn in einer „Löwengrube“, betrauerte, wie immer sie diese sich auch vorstellen mochte.
Sagen konnte er ihr dazu nichts. Aber es sei schon gut, dachte er, dass die Familie draußen von den Verhältnissen hier drinnen nichts wusste; doch die Genossen Volksrichter und Staatsanwälte wussten recht gut Bescheid, über die mittelalterlichen Zustände in ihrem humanen Strafvollzug. Dann verließ Sebastian den ‚Sprecherraum‘, drehte sich an der Tür noch einmal um, sah seine Mutter mit Tränen in den Augen am Tisch sitzen und winkte ihr zu. „Grüß alle von mir“, sagte er, und versuchte es aufmunternd klingen zu lassen. Schon war er draußen, die wenigen Stufen hinab auf den Hof. Dort nahm ihn ein Wachtmeister aus dem Zellenbau in Empfang. „Gehen Sie!“, und er lief vor ihm her quer über den Hof und in den Zellenbau zurück. Dort tauschte er seine Besucheruniform wieder gegen seine abgewetzten Klamotten. Die Vorstellung ist vorüber, sagte er sich. Irgendwie empfand er das auch als Erleichterung. Diese von Zensoren streng belauerten Vorführungen begriff er als entwürdigend. Seine Mutter würde das vielleicht nicht so sehen.
Aber dann hatte ihn bereits seine Zelle wieder. Als er in seinen alten Klamotten durch die geöffnete Türe trat, stand ihm das gewohnte Geruchsgemisch wie eine Wand entgegen.
Wenige Tage später hieß es für den Abteilungsleiter aus dem Berliner Ministerium für Verkehr: „Sachen packen!“ Ungewissheit durchzog die Zelle. Ganz gleich wen es traf, diese Unsicherheit ergriff mehr oder weniger jeden und sie konnte ja jeden von ihnen auch jeden Tag treffen. Das blieb allen stets bewusst.
Kapitel 9
Nach einigen Tagen zu dritt in der Zelle, krachten eines Nachmittags wieder mal Schloss und Riegel und durch die aufgesperrte Türe trat mit seinem Bündel, das er an sich gepresst hielt, ein Neuzugang: Ein relativ großer, blasser, dicklicher Mann in mittleren Jahren, der mit einer weiten Stirnglatze und leichten Hängebacken älter aussah, als er es möglicherweise wirklich war. Er schwitzte, sein rundes Gesicht glänzte feucht und er wuchtete sein Bündel scheppernd auf das obere freie Bett und wandte sich dann den anderen in der Zelle zu: „Lipka“, sagte er, „Franz Lipka“, und hielt den dreien nacheinander seine leicht schweißige Hand hin, eine kleine, weiße leicht fettgepolsterte Hand.
Eine Frauenhand, dachte Sebastian als er sie in seiner Hand fühlte und seinen Namen dazu nannte.
Dann sah der Neue, Franz Lipka, sich um, wischte sich mit dem weißen Handrücken über eine weite, feuchte, leicht gerötete Stirn und beäugte misstrauisch den Kübel im rostigen Gestell in der Ecke neben der Tür.
„Was haste denn mitgebracht?“, ließ schließlich der West-Berliner Journalist sich hören. Alle drei standen noch in der Nähe des Fensters und Lipka vor der Tür, neben Kübel und Heizungskörper.
„Was denn mitgebracht?“, fragte er, guckte dazu unsicher und zwinkerte etwas.
„Na was sie dir aufgebrummt haben, wie viele Jahre?“
„Zwölf“, sagte er nach kurzem Zögern und das klang ein wenig abweisend.
„Na ja, das geht ja schon“, erklärte der Journalist aus West-Berlin.
Dann konnte Lipka erst mal in Ruhe sein Bett machen, das hieß lediglich die schmierige Decke am Fußende auf dem bucklig gestopften Strohsack zusammen zu legen. Laken und Kopfkissen gab es ja nicht. Dann galt es noch Schüssel, Becher, Löffel, Zahnbürste und Seife ins Regalfach zu räumen.
Schließlich wurde ihm gesagt, er möge seine Botten ausziehen, das poltere sonst auf dem Dielenboden zu sehr.
Als sie am nächsten Tag von der Freistunde zurück kamen, winkte der Stationskalfaktor den Journalisten und Sebastian, bevor sie eingeschlossen wurden, eilig beiseite.
„Euer Neuzugang“, sagte er dann und wies mit einer Kopfbewegung auf den großen dicklichen Mann, der mit hängenden Armen wartend vor der Zellentür stand, „war Oberstaatsanwalt am Obersten Gericht der DDR in Berlin. 12 Jahre wegen Vergehens am Volkseigentum oder so ähnlich. Kein Politischer. Hat sich nach einer Wohnungsdurchsuchung ’ne beschlagnahmte wertvolle Briefmarkensammlung unter ’n Nagel gerissen und das fanden seine Genossen wohl gar nicht so schön.“
„Und uns hat er gestern auf Nachfrage gesagt, er sei Magistratsangestellter gewesen. Was wirklich dahinter steckt …?“ Sebastian hob die Schultern.
„Na das kann ja noch spannend bei euch werden“, sagte der Kalfaktor und huschte davon, als der Schließer sich auch ihrer Zelle näherte.
Das ist ja ’n Ding, überlegte Sebastian, betrat seine Zelle zusammen mit diesem Lipka, dem vorgeblichen Berliner Magistratsangestellten und betrachtete sich den mit einem kurzen Blick von der Seite. Dieses große ungelenke Dickerchen, ein leibhaftiger Oberstaatsanwalt des Obersten Gerichts der DDR? Und jetzt sitzt der Kerl selbst hier im Knast? Das ist richtig komisch. Eben bin ich noch von solchen Genossen als Kriegstreiber verurteilt worden, und nun hockt so einer in meiner Zelle … Lipka wurde schließlich gefragt, was für ein Magistratsangestellter er denn gewesen sei?
„Gerichtsangestellter“, sagte er.
„Gericht?“, fragten die in der Zelle. Was für ein Gericht und was er da gemacht hätte?
Aus den grinsenden Gesichtern schloss Lipka, dass alle Bescheid wussten und ein Versteckspiel ihn nur lächerlich würde aussehen lassen. Doch die würden ihn schon nicht zerreißen und so sagte er lapidar: „Staatsanwalt. Ich war Staatsanwalt.“
„Oberstaatsanwalt“, sagte der West-Berliner Journalist, „das ist bekannt.“ Dann stand er auf und sah herab auf den Franz Lipka, den dicklichen Mann mit den Hängebacken, der auf einem Hocker in der Ecke saß, in dieser schäbigen zu engen Uniform mit zu kurzen Ärmeln. „Also Oberstaatsanwalt warst du“, sagte er, „am Obersten Gericht der DDR.“
Lipka nickte.
„Schlimm genug! Wie viel Todesstrafen für Politische hast du denn beantragt?“
„Für Politische war ich gar nicht zuständig“, beeilte Lipka sich zu versichern.
„Aber politische Häftlinge gibt’s bei euch offiziell doch gar nicht. Für euch sind wir alle hier, „und er fuhr dazu mit der Hand durch die Zelle, „ausnahmslos Kriminelle.“
Lipka schüttelte den Kopf. „Ich war auf Wirtschaftsstraftaten spezialisiert“, sagte er.
„Auch da ist ja vieles politisch“, konterte der Journalist. „Ich denke nur an die Aktion ‚Ungeziefer‘, so hießen bei euch doch die Hotelbesitzer an der Ostsee, Ungeziefer, das ausgetilgt gehört. Menschen die ihr mit miesen Steuertricks kriminalisiert habt, um sie zu enteignen und verschwinden zu lassen. Hast du dabei mitgemacht, warst du beteiligt?“
Lipka schüttelte energisch verneinend den Kopf. „Damit war das Oberste Gericht nicht befasst“, sagte er. „Dafür war ausschließlich das Bezirksgericht Rostock zuständig.“
„Wenn’s darauf ankommt seid ihr alle für nichts zuständig gewesen. Das war auch schon vor fünfundvierzig so, alle gehorchten nur Anordnungen und Befehlen. Du doch auch“, wandte der Journalist sich an den Staatsanwalt, „wenn nicht unter Hitler, dann jedenfalls unterm Spitzbart.“
Der schien sich vom ersten Erschrecken recht rasch erholt zu haben. „Natürlich gab’s Gesetze und Anordnungen wie in jedem Staat.“
„Die gab’s bei Hitler auch“, konterte der Journalist.
„Die DDR betreibt im Gegensatz zur BRD eine durch und durch antifaschistische Politik“, entgegnete Lipka mit Empörung in der Stimme.
„Wieso im Gegensatz zur Bundesrepublik?“ Der Journalist war dabei die wenigen Schritte im schmalen Gang zwischen den Betten bereits einige Male hin und her gelaufen, blieb dann aber mit Absicht ganz dicht vor Franz Lipka stehen, der dort auf seinem Hocker saß und blickte auf ihn hinab.
„Na die ganzen alten Nazis in Behörden und Ministerien der BRD“, antwortete der, „wie zum Beispiel der Globke …“
Der West-Berliner Journalist lachte. „Also wenn euch nichts weiter einfällt, dann kommt ihr immer mit dem Globke. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht auch einige dunkle Flecken in der Bundesrepublik, Das ist aber so, wenn man nicht im Paradies lebt, wie ihr hier in euerem Arbeiter- und Bauernparadies“, sagte er grinsend. „Die einfache Erklärung aber ist“, fuhr er fort, „alle Spezialisten, vor allem die in den diversen Verwaltungen, waren seinerzeit entweder emigriert, saßen in der Kriegsgefangenschaft oder waren eben mehr oder weniger exponiert in der NSDAP gewesen. Zum Aufbau neuer staatlicher Strukturen wurden halt möglichst schnell Fachleute gebraucht und die Auswahl war nicht riesengroß. Also wenn diese Leute nicht allzu stark belastet waren, musste man sich eben ihrer bedienen, auch in Wirtschaft und Industrie. Daraus wurde kein Hehl gemacht, im Gegensatz zur DDR …“
„Na na na“, empörte der einstige Staatsanwalt sich und richtete sich dazu auf seinem Hocker gerade auf, „das sind unhaltbare Unterstellungen.“
Der Journalist lächelte. „Na ja, die Antifaschismuskeule … aber hier gibt’s doch überall auch alte Nazis, das ist nicht zu bestreiten, nur werden die eben verheimlicht. Und eure Planwirtschaft, also da kann doch jeder Trottel mitmischen. Das mutiert zum bloßen Glasperlenspiel und hat mit der Realität kaum noch zu tun.“
Mit seinen Bemerkungen hatte der Journalist aus West-Berlin sich schon recht weit aus dem Fenster gelehnt. Sebastian und Totila wechselten miteinander fragende Blicke. Was war mit diesem Oberstaatsanwalt, der sich immer noch als Genosse gerierte. Sebastian versuchte sich in dessen Lage zu versetzen: Da fällt ein Oberstaatsanwalt, also ein in weit herausgehobener Stellung am Obersten Gericht der DDR agierender Genosse, wegen eines kriminellen Vergehens ganz tief hinab in eine Zuchthauszelle voller politischer Gegner, also Leuten, deren Bestrafung er einst im Namen des Volkes gefordert hatte. Rasch begriff er dann aber nach einem kurzen Schock, dass ihm hier von geknebelten Gegnern keine Gefahr drohen würde. Die gezielten Provokationen dieses ‚Westberliner Zeitungsschmierers‘ allerdings drängten ihn in eine politische Ecke, aus der er gerade ganz tief gefallen war. Peinlichkeit kannte er nicht. Solche ihm ziemlich unangenehmen Zellengenossen aber würden nun wohl auch künftig sein täglicher Umgang sein, ein Umgang, den er auf alle Fälle aber würde akzeptieren müssen, wofür er schon sorgen wollte. Und so legte sich dieser Lipka bereits ganz früh eine Haltung zurecht, mit der er bis zu einer Befreiung durch befreundete Genossen, woran er fest glaubte, zu überdauern hoffte. Eine Gemeinsamkeit mit diesen Verbrechern hier würde es für ihn jedenfalls nicht geben.
Dieser einstige Oberstaatsanwalt hatte seine Genossen und damit zugleich den Staat und das Volk bestohlen und so zumindest intern das Ansehen eines Staates beschädigt, als dessen Anwalt er stets aufgetreten war. Die DDR-Bewohner draußen erfuhren von solchem Umgang der Genossen unter sich natürlich nichts.
Was aber dieser Westberliner da sagte, diese Gleichsetzung der antifaschistischen Arbeiter und Bauernmacht mit dem Faschismus selbst, das hieß Verächtlichmachung, meinte Lipka, war Boykotthetze und Staatsverleumdung … Unsicherheit und Furcht, die ihn ganz zu Anfang in dieser Zelle noch beunruhigt hatten, waren längst gewichen. Schließlich lebte er noch immer in der DDR, auch hier im Zuchthaus. So dürfe man über diesen Staat jedenfalls nicht reden, der immer noch sein Staat sei, sagte er sich. Doch eine andere Wahl hatte er ja längst nicht mehr. Eine Erkenntnis, die er möglichst beiseite schob.
„Du als früherer Staatsanwalt“, ließ der Journalist sich wieder hören, „was hast du denn nun wirklich ausgefressen, dass deine Genossen dir zwölf Jahre übergebraten haben?“
„Darüber rede ich nicht. Das geht nur mich was an. Außerdem“, erklärte Lipka, „werde ich nicht lange hier bleiben.“
„Wie soll das gehen? Deine Revision hatte keinen Erfolg.“
Lipka winkte ab. „Ich habe auch Freunde an den richtigen Stellen …“ „Rausholen könnten die dich bloß, wenn du unschuldig wärst“, unterbrach der Journalist den einstigen Staatsanwalt. „Deine Strafsache ist ja nichts Politisches wie wir gehört haben. Und wenn du schuldig bist, aber bald wieder rauskommen würdest, durch einflussreiche Genossen wie du sagst, dann wäre das schon Korruption und die gibt’s ja, das ist bestimmt deine feste Meinung, in der DDR nicht.“
Lipka schüttelte den Kopf. „Es gibt da übergeordnete Prinzipien“, erklärte er, „da ist das kein Problem.“
„Na ja, auch das sind Schwarze Kassen“, gab der Journalist zu bedenken, „und ob sie die für dich anzapfen?“ Er hob die Schultern und schüttelte den Kopf.
„Kommt wohl darauf an“, sagte er, „wie viel du weißt vom Dreck an manchen Stecken. Doch nur als Oberstaatsanwalt und sei’s am Obersten Gericht, glaube ich, bist du nicht wichtig genug. Ich weiß es natürlich nicht.“ Achselzuckend wandte er sich ab und trat zum Fenster, „aber ich sehe das so“, fügte er noch hinzu.
„Du wartest auf Freunde wie wir auf eine Amnestie“, wandte Totila sich an den einstigen Oberstaatsanwalt, „aber kommen wird beides nicht.“
„Unsinn“, empörte Lipka sich. „Ich habe Freunde, durchaus einflussreiche Freunde. Und einige sind mir noch was schuldig. Ich warte jedenfalls nicht auf eine Amnestie.“
Auch er wurde eines Tages aus der Zelle verlegt.
„Sollen auch andere noch ihren Spaß an dem haben“, kommentierte der Journalist diese Verlegung.
Als eine positive Besonderheit erwies es sich, dass die Ausscheidungen von nur drei Leuten den Kübel längst nicht mehr so randvoll werden ließen. Dennoch musste die Prozedur: alle schnell noch auf den Kübel früh am Morgen und abends der Reihe nach hintereinander, abgestimmt erfolgen, denn jedes Mal vor der Freistunde und vor dem Einschluss am Abend, krachten immer sehr rasch die Schlösser und Riegel der Türen hintereinander den Gang hinauf: „Dalli dalli!“ Kübel raus, Kübel rein.
Nach Wochen eines eher gemischten Wetters war es draußen noch einmal richtig heiß geworden, der ewig gleiche Ablauf Tag für Tag … mindestens dreißig Grad schätzten die Gefangenen und das wirkte sich vor allem unter’m Flachdach in der obersten Station, auf das die Sonne brannte, verheerend aus. Die wieder einmal neueste Anordnung lautete: Es sei bei Arreststrafe verboten die Jacken aufzuknöpfen, geschweige denn sich ihrer zu entledigen und die Fensterklappen zu öffnen. Das erwies sich in den überbelegten Zellen, zumal mit den Chlor und Urin ausdünstenden Kübeln in der Ecke als Katastrophe, als eine abgefeimte Art von Folter, meinten die Gefangenen.
Die Minderheit der Kriminellen gab den Politischen die Schuld an diesen drastischen Auflagen. Die Zelleninsassen drängten sich dann abwechselnd gegen die Türspalten, um vom Gang her die dort vergleichsweise frischere Luft zu atmen.
Und immer wieder mal klapperte der Deckel des Spions draußen an der Tür.
Jedem war natürlich klar, dass dort Schließer wieder mal auf der Jagd nach Arrestkandidaten waren. Sinnlos, sich wegen so einer Schikane zwei Wochen in den Arrest bei Wasser und Brot schicken zu lassen. Die machten sich wahrscheinlich auch wieder mal nur einen Spaß daraus, etwa mit Wetten: Wer erwischt die meisten. So ähnlich dachten sicherlich viele der Gefangenen und so blieb eine nennenswerte Jagdstrecke wohl aus. Von den Kalfaktoren jedenfalls war nach dieser spontanen Aktion der Schließer nichts von Arrestierungserfolgen zu hören. Als nach etwa acht Tagen die Temperaturen draußen etwas nachließen, durften Jacken aufgeknöpft und Fensterklappen wieder geöffnet werden.