Kitabı oku: «Der Nagel», sayfa 2

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Dresden, Mittwoch, 31. Mai 1944, 04:55 Uhr

Hans Friedel wirkte mit seinen fast dreißig Jahren noch sehr jugendlich, hatte einen neugierigen Blick und meistens ein freches Lächeln um den Mund, das in einem kleinen Grübchen auf der rechten Seite endete. Er hatte für sein Alter bereits viel erreicht und war durch seine erfolgreiche Arbeit zu einem der verantwortlichen Leiter der Entwicklung eines neuen Waffensystems aufgestiegen. Zusammen mit seinem besten Freund Dieter Kuhn hatte er das Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule in Dresden 1937 unter den Jahrgangsbesten beendet und war anschließend einem Aufruf der Partei gefolgt, als Wissenschaftler für die Raketenentwicklung in einem Forschungszentrum in Peenemünde zu arbeiten. Die Aufgabe war lukrativ und für beide gleichermaßen interessant.

Hans konnte die Entwicklung der Raketentechnologie bereits von Kind an verfolgen. Sein Vater hatte nach dem verlorenen Weltkrieg weiter im Geheimen für das Militär gearbeitet. Als ab Mitte der zwanziger Jahre die ersten Tests mit Raketen durchgeführt wurden, war dieser von Anfang an dabei und einer der führenden Köpfe der damaligen Ingenieurgruppe. Die Familie war bald darauf von Dresden nach Berlin gezogen, da die Hauptstadt als Wohnort für die Arbeit des Vaters besser geeignet war. Der Kontakt zu seinem Freund Dieter aber war nie abgerissen. Regelmäßig besuchten sie sich in den Schulferien und verbrachten viel Zeit mit Studien und Überlegungen, die im Zusammenhang mit den Forschungsaufgaben von Hans Vater standen. Beide tüftelten für ihr Leben gern und die Raketentechnologie hatte sie, wie viele andere Deutsche zu diesem Zeitpunkt auch, in den Bann gezogen. Sie diskutierten mit Hans Vater und strebten danach, ihn mit einer eigenen, gewonnenen Erkenntnis in seiner Arbeit ein Stück voranzubringen. Doch ihre weitreichenden Gedanken und Ideen konnten damals noch nicht umgesetzt werden. Anders sah es dagegen nach dem Studium aus. Natürlich gab es nach wie vor eine riesige Anzahl ungelöster Fragen. Mit Übernahme der Forschungen durch das Militär standen jetzt fast unbegrenzte, finanzielle Mittel zur Verfügung und dem immer stärker wachsenden Heer an Ingenieuren und Wissenschaftlern war es im Laufe der vergangenen Jahre gelungen, für viele der Probleme eine Lösung zu erarbeiten. Einige der Grundideen, die Hans und Dieter bereits in ihrer Jugend angestellt hatten, konnten mittlerweile angewandt und umgesetzt werden. Aufgrund ihres Wissens stiegen beide innerhalb kürzester Zeit zu den führenden Köpfen in der Gruppe um Wernher von Braun und Walter Dornberger auf. Ihrer Arbeit war es wesentlich mit zu verdanken, dass am 3. Oktober 1942 der erste erfolgreiche Start einer A4-Rakete gelang.

Hans legte beide Arme um seine Frau und drückte sie fest an sich. Schon seit dem Aufstehen spürte er ein flaues Gefühl im Magen und gleich nach dem ersten Bissen des Frühstücks kam es ihm vor, sein Magen drehe und wende sich und versuche, die Aufnahme von Nahrung zu verweigern. So begnügte er sich mit einer Tasse dünnen Kaffees. Er war nervös und das war bei ihm selten. Unruhig lief er in der Küche umher.

»Ich kann einfach nicht ruhig bleiben und warten.« Er sah seine Frau an. Auch für sie war die Situation neu und eine Mischung aus Ungewissheit und Angst stand ihr unübersehbar ins Gesicht geschrieben. Hans ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Er drückte sie an sich und konnte ihre Anspannung spüren. »Wann holst du die Kinder wieder?« Er wusste genau, dass er dies auch schon mehrfach gefragt hatte.

»Am Nachmittag«, antwortete sie mit einem erzwungenen Lächeln. Sie fuhr ihm mit dem Zeigefinger über das Grübchen an der Wange, dann küsste sie ihn noch einmal.

Von draußen war das Geräusch eines Motors zu hören. Elisabeth löste sich aus seinen Armen, ging zum Fenster und schob den schweren Vorhang zur Seite. »Der Wagen ist da!«

Hans war erleichtert. Endlich konnte er etwas tun, auch wenn sie damit dem Abschied wieder ein Stück näher kamen. Er schloss den Koffer mit einem nicht vollends überzeugten Gefühl, alles dabei zu haben. Mit dem Koffer in der einen und der Aktentasche in der anderen Hand folgte er seiner Frau durch das Treppenhaus nach unten. Der Wagen stand direkt vor dem Haus.

Hans und Elisabeth saßen schweigend im Fond der schwarzen Limousine. Als mitverantwortlicher Leiter dieses Sonderauftrags hatte er gewisse Privilegien, die sich, neben zusätzlicher Arbeit, auch darin äußerten, dass er auf Wunsch einen Wagen gestellt bekam. Der Fahrer trug eine SS-Uniform, aber Hans wusste auch so, dass ihm die Vergünstigungen aufgrund der Anweisungen von Heinrich Himmler zuteilwurden. Sie waren Bestandteil des umfassenden Versuchs der SS, die Raketenentwicklung mehr und mehr unter ihre Kontrolle zu bringen.

Sie fuhren an Plakaten vorbei, auf denen Jungen als Flakhelfer angeworben wurden, um Männer für die Front freizustellen. Mädchen sollten ihren Beitrag als Krankenschwestern erbringen. Andere forderten die Bevölkerung zum totalen Krieg auf oder mahnten zum vorsichtigen Umgang mit Informationen.

Hans hielt Elisabeths Hand. Regelmäßig wandte er sich ihr zu, lächelte und drückte ihre Hand. Elisabeth konnte im Schein der Straßenlaternen sein Grübchen erkennen. Dann ging Hans Blick wieder nach draußen. Das flaue Gefühl im Magen hatte etwas nachgelassen, während sie nun durch die ihm vertrauten Stadtteile fuhren.

Als die ersten Gebäude des Flughafens in Sicht kamen, verringerte der SS-Mann die Geschwindigkeit und der Wagen rollte an dem lang gezogenen Hansahaus vorbei zum Eingangsportal.

Der Flugplatz Dresden Klotzsche war in den 30er Jahren neu gebaut worden und die Gebäude zeugten von einer schlichten Schönheit und Eleganz. Vom Flughafen aus hatte man einen herrlichen Rundblick über die Stadt und er war bequem mit der Straßenbahnlinie 7 oder per Autobusverkehr zu erreichen.

Der Fahrer hielt den Wagen unmittelbar vor den Stufen der Treppe, die den Eingangsbereich umgab.

Hans stieg aus und sein Blick fiel auf den Parkplatz, der in einer Senke neben der Straße angelegt war. Schemenhaft konnte er einige Militärfahrzeuge erkennen. Zivilfahrzeuge gab es keine, was sicherlich daran lag, dass der zivile Luftverkehr bereits im Frühjahr 1940 eingestellt worden war. Er ging zum Heck des Wagens, um den Koffer zu holen. Dabei hob er den Kopf und betrachtete den verglasten Eingangsbereich. Die vielen Fenster schimmerten tiefschwarz. An der linken Seite strahlte etwas Licht aus dem Inneren der Abfertigungshalle und beleuchtete schwach die Uhr in der Mitte des Portals. Der lange Zeiger wies fast senkrecht nach oben, er war nur schwer auszumachen. Der Kleine war überhaupt nicht zu erkennen.

»Ich bringe den Koffer noch rein.« Der Fahrer hatte das Gepäckstück bereits in der Hand.

»Danke«, erwiderte Hans geistesabwesend. Er sah nach oben auf die große Uhr. Sein Magen machte eine erneute Drehung und er hatte das Gefühl, dass diesmal die Zeit gegen ihn arbeite.

Der Kofferraum wurde mit einem lauten Knall zugeschlagen und holte Hans aus seinen Gedanken zurück. Er schaute sich nach Dieter um. Hier draußen vor dem Eingang war er nicht. Dann legte er den Arm um seine Frau und sie gingen die Treppe hinauf. Der SS-Mann hielt ihnen die Flügeltür auf, dann stellte er den Koffer in der Halle ab und verabschiedete sich von Hans mit einem »Heil Hitler«. Zu Elisabeth sagte er noch: »Ich warte am Wagen auf Sie«, dann war er verschwunden.

Wieder spürte Hans ein Ziehen im Magen. Dabei sorgte er sich mehr um sich als um seine Familie. Dresden war bisher ein sicherer Ort gewesen. Aber jetzt ging es um ihn. Sein Ziel war ein von den Deutschen seit Jahren besetztes Land. Eine Gegend, die zurzeit massiv von den alliierten Bombern angegriffen wurde. Was, wenn er nicht zurückkommen würde?

»Entschuldigt bitte«, keuchte Dieter und riss Hans damit aus seinen Gedanken. Mit einem Koffer unter dem Arm kam er auf die beiden zu gerannt. »Unsere Kleine hat gestern starkes Fieber bekommen und uns fast die ganze Nacht auf Trapp gehalten.« Dann atmete er tief ein und aus. »Guten Morgen, Elisabeth.« Er gab ihr die Hand. Sie nickte und lächelte kurz.

Dieter streckte Hans ebenfalls die Hand entgegen. »Jetzt geht‘s los, alter Freund. Ich hoffe, du hast alles dabei.« Er war noch außer Atem, was seine Freude und Begeisterung aber nicht schmälerte. Er hatte kein schlechtes Gewissen wegen des bevorstehenden Einsatzes. »Wir sind im Krieg und da muss jede Möglichkeit wahrgenommen werden, diesen auch zu gewinnen«, hatte er schon mehrfach wiederholt, wenn er darauf angesprochen wurde. Dieter schaute auf seine Armbanduhr. »Es wird Zeit. Ich gehe schon mal vor, dann könnt ihr Euch noch in Ruhe verabschieden.« Als er sich Elisabeth zuwandte, sah er in ihren Augen die Sorge um Hans. »Uns passiert schon nichts. Ich passe auf ihn auf.«

Sie sah ihn sorgenvoll an.

»Versprochen«, fügte er einen Moment später hinzu. Er bestätigte das Versprechen mit einem Nicken. Dann nahm er seinen Koffer, lächelte Elisabeth noch einmal zu und ging durch die Abfertigungshalle auf die Ausgänge zum Rollfeld zu.

Hans küsste und umarmte seine Frau. »Gib acht auf dich und die Kinder.« Mit dem Handrücken fuhr er ihr über die Wange. »Wenn es möglich ist, melde ich mich, sobald wir da sind.«

Er nahm seine Frau in die Arme. Elisabeth liefen die Tränen übers Gesicht. Sie hatte Angst um ihn. Ihre Hand klammerte sich an seiner fest und er spürte, wie sich ihre Fingernägel in seine Handflächen bohrten. Dann löste er sich von ihr und schaute sich nach Dieter um. Der stand bereits in der offenen Tür zum Rollfeld. Hans nahm seinen Koffer und gab Elisabeth noch einen Kuss auf die tränennassen Lippen. Ein letzter Blick in ihre Augen und mit einem aufmunternden Lächeln drehte er sich um und durchquerte mit schnellen Schritten die Halle. Er quetschte sich an Dieter vorbei und gemeinsam gingen sie auf die Junkers 52 zu, die nicht weit von der Halle entfernt auf dem Rollfeld stand.

Mit einem ohrenbetäubenden Lärm flog eine gerade gestartete Maschine über sie hinweg und stieg langsam der in einem dunklen Grau schimmernden Wolkendecke entgegen.

Berlin, Mittwoch, 31. Mai 1944, 08:30 Uhr

Carl Richert saß auf dem Rücksitz und war auf dem Weg zum Flughafen Tempelhof. Ihr schwarzer Mercedes hielt hinter einem Pferdekarren, der mit Kartoffeln und Äpfeln beladen war. Neben dem Pferd stand ein alter Mann. Seine Hosen waren völlig verschmiert und die Füße steckten in ausgelatschten, löchrigen Halbschuhen. Schlurfend zog er das Tier an den Zügeln vorwärts, als die Soldaten einen Militärlastwagen durch die Sperre winkten und die Schlange sich wieder in Bewegung setzte.

Carl arbeitete bereits seit sieben Jahren in der deutschen Hauptstadt. Er liebte das Land und die Leute. Immerhin hatte er einen großen Teil seiner Jugend hier verbracht.

Sein Vater Arvid kam in den zwanziger Jahren als Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft nach Deutschland. Die Familie kaufte ein Haus in Berlin und er ging dort zur Schule. Seine Mutter, eine gebürtige Deutsche, hatte ihn von Anfang an zweisprachig aufgezogen, sodass ihm der Wechsel von der schwedischen auf eine deutsche Schule zumindest keine sprachlichen Probleme bereitete. Er genoss hier eine unbeschwerte Jugend und verbrachte viel Zeit in der Natur und am Wasser. Viele seiner Spielgefährten waren ebenfalls Söhne von Gesandtschaftsangehörigen. Der Kontakt zu einheimischen Jungen gestaltete sich etwas schwierig, auch wenn er nie ganz nachvollziehen konnte, warum. Die Bekanntschaften blieben meist oberflächlich und nur selten sah es so aus, als ob sich daraus eine tiefere Freundschaft entwickeln könnte. Nur zu einem Jungen aus dem Nachbarhaus gelang es zeitweise, ein intensiveres Verhältnis aufzubauen, das darin gipfelte, dass sie in einem Sommer besonders viel miteinander unternommen hatten. Doch schon im folgenden Herbst verflachte das wieder.

Carl wuchs sehr behütet auf, da seine Mutter und die Haushälterin Brita versuchten, Probleme von ihm fernzuhalten. Wann immer es ging, kamen sie ihm zu Hilfe und das führte dazu, dass er manche Erfahrung erst in fortgeschrittenem Alter machen musste. Was in solchen Momenten nicht gerade das Ansehen bei seinen Freunden förderte.

Nach der Schule zog er zurück nach Schweden, um dort zu studieren. Sein Vater war mittlerweile schwedischer Gesandter in Deutschland geworden und besorgte ihm nach dem erfolgreichen Studium eine Stelle an der Gesandtschaft in Berlin.

Carl trug einen dunklen Anzug. Das Jackett war offen und unter seinem weißen Hemd zeigte sich ein leichter Bauchansatz. Neben ihm auf dem Sitz lagen zwei schwarze Aktenkoffer. Beide hatten einen Ledergriff, mit jeweils einem Schloss auf jeder Seite. Die Koffer waren verschlossen, die Schlüssel trug er in der Innentasche des Jacketts.

Er blickte aus dem Fenster, während der Wagen langsam vorwärts rollte. Die Häuser entlang der Straße wiesen unterschiedlich starke Schäden durch Luftangriffe auf. Manche hatten nur zersprungene Fensterscheiben, die provisorisch mit Karton abgedeckt waren. Andere teilweise massive Beschädigungen an den Dachböden oder an mehreren der oberen Stockwerke. Dazwischen riesige Haufen aus Steinen und verkohlten Brettern. Von Häusern, die völlig dem Erdboden gleichgemacht waren. Carl dachte an die Menschen, die einmal darin gewohnt hatten. Familien, deren Existenz zerstört war, von denen viele wahrscheinlich nicht mehr am Leben waren. Er dachte an die Kinder, die ihre Eltern oder Geschwister verloren hatten, an die Frauen und Mütter, die sehnsüchtig auf eine Nachricht ihrer Männer und Söhne von der Front warteten. Und an die Großeltern, die jetzt zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert einen Weltkrieg miterleben mussten. Er dachte an das Leid, das dieser Konflikt über alle Menschen gebracht hatte, unabhängig davon, auf welcher Seite sie lebten und kämpften. Er hatte sich vorgenommen, seinen Beitrag zu leisten, damit der Krieg so schnell wie möglich beendet wurde und diejenigen, die für all das verantwortlich waren, zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

Sein Blick fiel auf die SS-Soldaten, die die Fahrzeuge durchsuchten und die Papiere der Insassen kontrollierten. Er wurde langsam unruhig. Auf seiner Haut bildeten sich Schweißperlen. Er dachte an den Inhalt eines der Koffer. Wenn sie dies entdecken, würde man ihn sofort verhaften und als Spion erschießen. Schweiß lief ihm über die Stirn direkt ins Auge. Er kniff es zusammen. Es brannte höllisch.

Vor ihrem Fahrzeug befanden sich nur noch ein halbes Dutzend Fahrradfahrer, ein ziviler Wagen und der alte Mann mit seinem Pferdegespann. Die Soldaten sprachen mit jeder einzelnen Person, die sie kontrollierten. Sie verglichen deren Papiere mit einer Liste. Doch bisher hatten sie noch jeden durchfahren lassen.

Was passiert, wenn ich die Koffer öffnen muss? dachte Carl und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen. Sie hatten keine Berechtigung, ihn zu kontrollieren. Sein Ausweis wies ihn als Mitarbeiter der schwedischen Gesandtschaft aus und auf dem Fahrzeug waren die entsprechenden Zeichen angebracht. Er stand unter diplomatischer Immunität. Laut internationalem Recht durften sie ihn nicht anhalten oder durchsuchen. Doch interessierten sie sich überhaupt für irgendwelche Vereinbarungen? Deutschland hatte schon viele Verträge abgeschlossen und wieder gebrochen. Unzählige Menschen wurden verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Neutrale Staaten waren angegriffen und Menschenrechte missachtet worden. Warum sollten sie gerade jetzt die internationalen Übereinkommen beachten und ihn durchwinken?

Er spürte das Hemd an seiner Haut kleben.

Sie mussten ihn einfach durchlassen. Der Inhalt des einen Koffers musste unbedingt nach Stockholm. Die Informationen waren von weitreichender Bedeutung und konnten sich so massiv auf den weiteren Kriegsverlauf auswirken, dass er sie auf jeden Fall außer Landes bringen musste. Die Alliierten mussten davon erfahren, damit sie entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen konnten. Deutschland durfte diesen Krieg nicht gewinnen.

Der letzte der Radfahrer stieg in die Pedale und radelte davon. Der zivile Wagen dahinter fuhr an und hielt direkt neben einem der Soldaten, der das Fahrzeug kontrollierte. Der alte Mann vor ihnen zog am Zügel und langsam setzte sich das Pferd mit dem Karren in Bewegung.

Was würde er tun, wenn sie ihn verhaften wollten? Würde er versuchen zu fliehen? Vielleicht schaffte er es ja, in einem der beschädigten Häuser zu verschwinden und irgendwo hinten wieder rauszukommen. Er drehte sich um und blickte die Häuserfront entlang. Auf den nächsten fünfzig Metern waren zumindest im Erdgeschoss alle in Ordnung und die Türen geschlossen. Erst danach gab es Lücken. Fünfzig Meter waren zu weit, er würde es nicht schaffen. Sie würden ihn erschießen.

Vor ihnen setzte sich der Pferdekarren in Bewegung. Die Soldaten hatten das zivile Fahrzeug fahren lassen. Nach einem Meter blieb das Pferd plötzlich stehen. Der alte Mann zog ruckartig am Zügel. Das Pferd verweigerte noch einen Moment den Dienst, trottete dann aber doch weiter.

Mit einem Ruck fuhr ihr Wagen an und jetzt direkt bis zur Straßensperre. Der Fahrer öffnete das Fenster und gab dem Soldaten ihre Ausweise. Der betrachtete sie ausgiebig, dann ging er zu seinem Vorgesetzten, der an der Absperrung lehnte. Sie unterhielten sich kurz, dann kamen beide auf sie zu. Carl verschränkte die Hände. Seine Finger waren feucht, er schwitzte stark.

Der ranghöhere Soldat beugte sich zum Fahrer herunter.

»Steigen Sie bitte aus!«

Carl spürte, wie es ihm erneut den Schweiß aus den Poren trieb. Sein Hemd klebte mittlerweile komplett am Rücken. Der andere Soldat ging um den Wagen herum, öffnete die Tür und forderte auch ihn auf, auszusteigen. Langsam hob Carl sein rechtes Bein und setzte es auf die Straße. Er rutschte auf dem Sitz noch ein Stück an die offene Tür heran und stieg aus.

Der Soldat betrachtete den Ausweis und musterte ihn eingehend. Offenbar verglich er das Foto mit seinem Gesicht. Zum Glück ist das Bild recht neu, ging es Carl durch den Kopf. Plötzlich bückte sich der Uniformierte und schaute auf den Rücksitz.

»Was ist in den Koffern?«, fragte er, drückte Carl auf die Seite und zog die beiden Koffer aus dem Wagen.

London, Mittwoch, 31. Mai 1944, 08:50 Uhr

Die kleinen Scheibenwischer tanzten auf der Scheibe hin und her und führten einen fast aussichtslosen Kampf gegen den starken Regen. Obwohl schon kurz vor neun Uhr, war es an diesem Morgen noch ungewöhnlich dunkel. Lieutenant Baker saß hinter dem Steuer und wartete. Er stand bereits zwanzig Minuten vor dem Haus und beobachtete die Wassertropfen, die in breiten Strömen über die Frontscheibe liefen und am unteren Ende ohne erkennbare Logik nach rechts oder links abbogen. Es schüttete zeitweise so stark, dass man durch die Scheibe nichts mehr sehen konnte. Er schaltete wiederholt die Scheibenwischer ein, die sich mit unübersehbarer Mühe gegen den Regenschwall nach oben kämpften. Baker schaute auf seine Armbanduhr. Gleich neun Uhr. Lange durfte es nicht mehr dauern, sonst würden sie es nicht rechtzeitig zur Besprechung schaffen. Viele Straßen waren nur provisorisch geflickt. Es gab also keine Möglichkeit, Zeit gutzumachen. Und bei dem Sauwetter konnte er sowieso nicht schnell fahren. Das Prasseln auf das Autodach ließ etwas nach und Baker schaute durch die Frontscheibe in den Himmel. Soweit das Auge reichte, hingen graue Wolken über den Häusern und auch die Vorhersage machte keine Hoffnung auf eine baldige Änderung der Wetterlage.

Er zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm aufgerissen wurde und mit einem »Shit« setzte sich ein Mann in einem dunklen Mantel auf den Rücksitz. Fast zeitgleich wurde die gegenüberliegende Tür geöffnet und ein zweiter sprang in den Wagen.

»Verdammtes Sauwetter.«

Lieutenant Baker startete den Motor und stellte das Gebläse an, damit die beschlagenen Scheiben wieder frei wurden. Ein kurzer Blick nach hinten, dann fuhr er los.

»Für wann ist der Termin bei Churchill angesetzt?«

»Die Besprechung beginnt um halb zehn, Mr Petrie. Wir werden rechtzeitig da sein«, sagte Baker in einem beruhigenden Ton, war sich aber nicht sicher, ob sie das schaffen würden.

Lieutenant Baker kannte Mr Petrie seit drei Jahren. Er war als persönlicher Fahrer für den Chef des MI5 abkommandiert und hatte mittlerweile viele weitere Aufgaben übernommen. Mr Petrie schätzte es nicht, ständig neue Mitarbeiter zu bekommen und so arbeitete er mit den meisten schon seit seiner Amtsübernahme 1941 zusammen. Er wusste, dass er sich auf Baker verlassen konnte. Und Baker kannte die Ansichten, die Marotten, wie auch die Vorlieben seines Chefs genau, sodass sich in diesen drei Jahren ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte und sie mittlerweile perfekt aufeinander abgestimmt waren.

»Wir brauchen unbedingt die Informationen aus Stockholm«, hörte Baker Petrie zu seinem Assistenten sagen. »Ich will Churchill nicht über unsere Aktivitäten unterrichten, ohne ihm gleichzeitig die ersten Erfolge aufzeigen zu können. Wenn das klappt, werden wir einen Triumph gegen die Deutschen feiern, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Dann werden wir ihre letzte Trumpfkarte vernichten und endgültig den Krieg gewinnen.« Er zögerte kurz, dann ergänzte er: »Und wenn nicht, haben wir ein riesiges Problem. Wann soll das Flugzeug in Stockholm landen?«

»So gegen halb elf.«

Petrie schaute auf seine Uhr. »Dann müsste er zumindest schon den deutschen Luftraum verlassen haben. Wir probieren später noch einmal, ob wir zur britischen Gesandtschaft durchkommen. Bei diesem Sauwetter kriegt man einfach keine vernünftige Verbindung.«

»Ich habe veranlasst, dass man uns auf jeden Fall informiert, sobald Informationen aus Schweden eintreffen. Auch wenn die Besprechung noch nicht fertig ist.«

»Gut, Frank.«

Petrie schaute aus dem Fenster. Die Straßen waren fast menschenleer. Einzelne Soldaten gingen mit eingezogenem Kopf durch den Regen, eine Frau kämpfte mit ihrem Regenschirm gegen den ständig wechselnden Wind.

David Petrie war seit 1941 Chef des Security Service MI5, dem britischen Inlandsgeheimdienst. Er hatte damals den erfolglosen Mr Harker abgelöst und war von Churchill beauftragt worden, aus dem MI5 eine schlagkräftige Truppe aufzubauen. Dazu stellte dieser ihm die entsprechenden Mittel zur Verfügung. Als die direkte Bedrohung durch die Deutschen, nach deren Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941, nachließ erleichterte dies seine Arbeit und es gelangen ihm verschiedene Erfolge. Der Größte war das sogenannte double-cross-System. Dabei wurde den in Großbritannien enttarnten feindlichen Spionen nach ihrer Verhaftung die Möglichkeit gegeben, falsche Informationen an den deutschen Geheimdienst zu senden und somit den Feind in die Irre zu führen. Im Gegenzug konnten die Agenten dadurch einer sicheren Todesstrafe entgehen. Petrie schaffte es, ein besonders effektives Netzwerk aufzubauen und in vielen Fällen gelang es ihm, den Gegner erfolgreich zu täuschen und zu falschen Reaktionen zu veranlassen. Er verbrachte seine gesamte Zeit damit, das System zu verbessern und arbeitete seit Jahren fieberhaft daran, den Deutschen immer größeren Schaden zuzufügen.

Ein unerwarteter Schlag erfasste plötzlich den Wagen. Das rechte Vorderrad sackte kurz ab, um sofort darauf mit Wucht wieder nach oben zu kommen. Lieutenant Baker riss das Steuer herum, damit nicht auch noch das Hinterrad in das Schlagloch fuhr.

»Passen Sie doch besser auf, Baker.« Petrie sammelte verärgert die Unterlagen zusammen, die er auf seinen Oberschenkeln liegen hatte.

»Entschuldigung«, erwiderte Baker.

Er hatte keine Chance gehabt, das Loch zu erkennen. Die Straße war durch den Regen mit Pfützen übersät, in jeder konnte sich ein Loch verbergen. Baker verringerte die Geschwindigkeit etwas, nur um kurz danach aber wieder zu seinem ursprünglichen Tempo zurückzukehren. Die Zeit drängte, wenn sie pünktlich bei Churchill sein wollten.

Lieutenant Baker lenkte den Wagen durch mehrere Nebenstraßen, um den Weg abzukürzen. Als sie wieder zu einer der großen Hauptverkehrsstraßen kamen, wurden Sie von einem Militärpolizisten angehalten, der mitten auf der Straße stand. Das Wasser lief ihm über den Stahlhelm und fiel von dort in einem breiten Vorhang auf seine Uniform. Er hatte die Arme ausgestreckt und versperrte ihnen die Durchfahrt. Hinter ihm passierte eine Militärkolonne die Kreuzung. Sie hatten Glück, denn nach fünf weiteren Lastwagen war die Kolonne durch und die Fahrbahn wurde wieder freigegeben.

London war in den letzten Monaten überfüllt mit Soldaten der verschiedensten Nationen. Die Vorbereitungen für die Invasion in Frankreich waren in vollem Gange. In einer logistischen Meisterleistung wurden eine Unmenge von Schiffsraum, Waffen und Ausrüstungen und eine große Zahl Soldaten für den bevorstehenden Sturm auf die Festung Europa an der britischen Küste zusammengezogen.

»Noch eine Minute, Sir.« Baker blickte in den Rückspiegel. Petrie hob seinen Kopf und die dunklen Augen sahen ihn kurz an.

»Danke, Baker.«

Der Regen hatte etwas nachgelassen, als Baker vor der Downing Street Nr. 10 in Whitehall hielt.

David Petrie klappte den Kragen seines Mantels nach oben, stieg aus und lief mit dem Koffer in der Hand in das Gebäude. Frank folgte ihm. Die beiden Wachposten neben der Tür nahmen Haltung an.

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