Kitabı oku: «Die Chancengesellschaft», sayfa 2
Besonders viele soziale Aufsteiger im Sinne der Generationenmobilität gibt es unter den Professoren der Ingenieurwissenschaften und der Informatik. Nach Befragungen der Forscher Manfred Nagel und Gerhard Müller12 haben 64 Prozent der Befragten Eltern, die beide nicht studiert haben. Überdurchschnittlich viele Professoren stammen aus handwerklich geprägten Familien. Die in letzter Zeit gesunkene Zahl der sozialen Aufsteiger in den Ingenieurwissenschaften erklären die Forscher mit dem Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft und der Zunahme der Akademikerquote. Kinder sozial „Angekommener“ könnten nun einmal selbst keine sozialen Aufsteiger mehr werden. Wie sehr Bildung und Weiterbildung Karrieren fördern, zeigen die Ergebnisse der Aufstiegsfortbildung. Im Handwerk machen Jahr für Jahr mehr als 20 000 Gesellen die Meisterprüfung. Als Motiv für die Meisterprüfung geben die Jungmeister vor allem den Wunsch an, beruflich voranzukommen und persönlich aufzusteigen. Die Meisterschule bleibt damit die wichtigste Aufstiegsfortbildung für die nichtakademischen Teile der Gesellschaft. 2010 strebte – wie in den Vorjahren – fast die Hälfte der Meisterjahrgänge in die Selbstständigkeit. Knapp ein Zehntel ist bereits selbstständig, für die anderen steht dieser Schritt in absehbarer Zeit an.
Was junge Handwerker motiviert, die Meisterprüfung abzulegen, haben die Handwerkskammern13 in den Jungmeisterumfragen 2010 wissen wollen. Mehr als die Hälfte gibt als Grund „die Freude an der Weiterbildung“ an. Fast zwei Drittel äußern den Wunsch nach beruflichem Aufstieg. Auch das Kernmotiv „berufliche Selbstständigkeit“ wird durch die Umfrage bestätigt. Jeweils rund vier von zehn Befragten betonen den Zusammenhang „Meisterprüfung – Selbstständigkeit“ und „Aufstieg durch Selbstständigkeit“. Im Meisterbrief sehen sie die Basis für verantwortliche Aufgaben als Führungskraft im Angestelltenverhältnis. Bei den Industrie- und Handelskammern haben seit der Wiedervereinigung mehr als 830 000 Menschen eine Prüfung als Fachkaufmann, Fachwirt, Industriemeister, Bilanzbuchhalter oder Betriebswirt gemacht. Die Weiterbildung hat sich für sie gelohnt: 70 Prozent sind aufgestiegen oder haben einen größeren Verantwortungsbereich erhalten, 61 Prozent haben mehr verdient.
Der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen der Weiterbildung wird sich noch erhöhen, wenn in den kommenden Jahrzehnten aufgrund des demografischen Wandels der Fachkräftemangel zunehmen und sich der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft beschleunigen wird. Je nach Berechnungsart könnte das deutsche Erwerbspersonenpotenzial bis 2025 um bis zu sieben Millionen schrumpfen. Die voraussehbaren Engpässe auf dem Arbeitsmarkt können kaum durch eine höhere Zuwanderung überwunden werden. Not tun eine höhere Erwerbsbeteiligung der Älteren und der Frauen sowie eine Qualifizierung für die stark expandierenden unternehmensnahen Dienstleistungen. 2008 und 2009 haben etwa ein Viertel aller Beschäftigten an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen. Das ist ein guter, aber kein ausreichender Wert. Wer sich qualifiziert, wird angesichts des steigenden Fachkräftemangels weitaus bessere Beschäftigungs- und Aufstiegschancen als in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haben.
Beim Blättern im „Buch der Bildungsrepublik“14 findet man Dutzende von faszinierenden Aufstiegskarrieren gerade auch von Migranten oder deren Kindern. Handicaps und Benachteiligungen von jungen Menschen mit einer familiären Zuwanderungsgeschichte abzubauen, ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern auch der Ausschöpfung des Nachwuchspotenzials, auf das die alternde und schrumpfende deutsche Gesellschaft angewiesen ist. Wie groß diese Herausforderung ist, spiegelt sich darin, dass 40 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien − fast dreimal so viele wie deutsche Jugendlichen − keinen beruflichen Abschluss haben und 17,5 Prozent die Schulen ohne Abschluss verlassen. Die Wahrscheinlichkeit von Hauptschülern mit einem Migrationshintergrund eine Lehre zu beginnen, liegt nur bei 32 Prozent, fast 60 Prozent landen zunächst in Übergangssystemen. Das erhöht nicht nur die Armutsgefahr und das Risiko der Arbeitslosigkeit, sondern erschwert die Integration.
Die Frage, wohin Deutschland steuert, entscheidet sich auch an der Antwort, welche Ausbildungs- und Aufstiegschancen es seinen Migranten bietet. Fast jeder fünfte Einwohner Deutschlands (19 Prozent) bzw. 15,6 Millionen von 82,1 Millionen hatte 2008 einen Migrationshintergrund. Darunter waren 7,3 Millionen Ausländer und 8,3 Millionen Deutsche. Aus der Türkei stammten 2,9 Millionen. Im Handwerk haben 400 000 bis 450 000 Mitarbeiter (acht bis neun Prozent gegenüber 7,1 Prozent in der Gesamtwirtschaft) einen ausländischen Pass, aber noch weitaus mehr kommen aus eingebürgerten Migrantenfamilien. Und in den Lehrgängen der Bildungsstätten des Handwerks haben weitaus mehr, nämlich 70 bis 80 Prozent der Teilnehmer einen Migrationshintergrund. Um den Trend zu verdeutlichen, formuliert der Zentralverband des deutschen Handwerks: „Der Meister der Zukunft ist ein Türke“. „Der Türke“ steht als Synonym für eine Person mit Migrationshintergrund. Damit will das Handwerk bewusst machen, dass es aufgrund des demografischen Wandels immer schwieriger werden wird, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft für eine handwerkliche Ausbildung zu interessieren. Die Gruppe der Migranten stellt für das Handwerk ein großes Potenzial zur Nachwuchssicherung dar, und an Aufstiegswillen mangelt es den meisten Migrantenkindern nicht. Stellvertretend für viele andere benennt es der in seinen ersten Schuljahren unter einer Legasthenie leidende Fernsehmoderater, der „fröhlichste Morgenwecker der Nation“, Cherno Jobatey: „Mein Ticket aus den Berliner Hinterhöfen war Bildung, Wissen, Glück und jede Menge harte Arbeit.“15
Wie die hier zusammengetragenen Daten zeigen, sind die Alternativen „Absteiger- oder Aufsteigerrepublik“ nicht zur Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung geeignet. Die „Absteigerrepublik“ ist ein Zerrbild, das die von Millionen Menschen wahrgenommen Aufstiegschancen ausblendet, die „Aufsteigerrepublik“ ist ein Wunschbild, das das Schrumpfen der Mittelschicht und die Abstiege in die Hartz-IV-Grundsicherung ignoriert.
Doch die Polarisierung der Gesellschaft in „die da unten“ und „die da oben“ hat zugenommen. Zumindest scheint es so, wenn man den Medien Glauben schenkt. Nach dem Motto „Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht“ finden sich Berichte über Probleme und Versäumnisse öfter auf den Titelseiten als Meldungen über Gelungenes. In manchen Fällen ist es auch die Angst, der „Hofberichterstattung“ verdächtigt zu werden, die die Medien lieber zur überkritischen Brille greifen lässt.
Erstaunlicherweise scheint die heutige junge Generation in Deutschland von den Schreckensmeldungen unberührt. Sie hat sich weder durch die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 noch durch die unsicher gewordenen Berufsverläufe und -perspektiven von ihrer optimistischen Grundhaltung abbringen lassen. Fast zwei von drei Jugendlichen blicken ihrer Zukunft zuversichtlich entgegen und fast drei von vier sind überzeugt davon, sich ihre beruflichen Wünsche erfüllen zu können. Mit dieser guten Nachricht wartete die Shell-Jugendstudie des Jahres 2010 auf. Für die Studie wurden mehr als 2.500 Jugendliche im Alter von zwölf bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Glaubens- und Wertvorstellungen sowie ihrer Einstellung zur Politik befragt. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Die Jugend des Jahres 2010 zeichnet sich durch Optimismus und Selbstvertrauen aus, persönlicher Erfolg ist ihr wichtig, Fleiß und Leistungsbereitschaft stehen bei den meisten hoch im Kurs.
Die jungen Menschen wollen aus ihrem Leben etwas machen, vorwärts kommen, Erfolg haben und aufsteigen. So fatalistisch, wie andere Umfragen Glauben machen, sind viele nicht. Sie ahnen oder wissen auch, dass sie die Unternehmer ihres Lebens sind, dass der Schlüssel zum persönlichen Erfolg bei ihnen selbst liegt, bei ihrer Bildungs- und Leistu ngsbereitschaft.
Wie kann man sie in diesem Bemühen besser unterstützen als mit Beispielen, mit Vorbildern, die sie ermutigen, an die eigene Kraft zu glauben, an die eigene Selbstwirksamkeit, wie dies die Psychologen nennen. Der römische Dichter und Philosoph Seneca wusste: „Die Menschen glauben den Augen mehr als den Ohren. Lehren sind ein langweiliger Weg, Vorbilder ein kurzer, der schnell zum Ziel führt.“ Im Grunde ist es ein ganz altmodisches Konzept, weswegen in den Medien Anregungen und Tipps gerne von „Prominenten“ gegeben werden. Man muss aber nicht prominent sein, um ein gutes Vorbild abzugeben. Die folgenden Porträts zeigen solche Vorbilder. Sie kommen aus unterschiedlichen Welten, aber alle haben sie aus den Steinen, die ihnen im Weg lagen, schöne Dinge gebaut. Sie haben keinen Fahrstuhl zum Erfolg vorgefunden. Der schweißtreibende Weg nach oben führte sie über eine Treppe mit vielen Stufen. Was sie eint, ist der Mut, den ersten und viele weitere Schritte zu tun, um ihre Vorstellung von Erfolg und Glück zu verwirklichen.
Jeder ist der Unternehmer
seines Lebens
„Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt“
Nach dem griechischen Dichter Hesiod
Hans-Olaf Henkel
Der Freiheitskämpfer
„Jeder Mensch verdient eine zweite Chance“
In den Bestseller-Listen stehen die Bücher von Hans-Olaf-Henkel im Januar und Februar 2010 auf einem der vorderen Plätze, unter den Wirtschaftsbüchern auf Platz eins. Sein sechstes Buch geht weg wie warme Semmeln.
Den Erfolg kann sich Henkel selbst nicht so recht erklären. Für das Buch wird nicht stark geworben. Den Leitmedien der Nation ist es nur Kurzrezensionen wert, einige ignorieren es. Vielleicht liegt es am Titel, meint der bald siebzigjährige Autor. „Die Abwracker“ hat Henkel sein Buch zur Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 genannt. Der Heyne-Verlag hat die Unterzeile hinzugefügt: „Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen“.
Das Buch ist eine scharfsinnige Analyse der Ursachen der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und eine knallharte Abrechnung mit Versagern unter Staatsbankern, Politikern, Spitzenbeamten und Managern. Henkel weist ihnen einen neuen Platz in der Gesellschaft zu: Die Hall of Shame.
Es ist ihm gleich, ob den von ihm Angeklagten die Scham- oder Zornesröte ins Gesicht steigt. Er bekennt sich zu seiner Subjektivität, der Innenansicht einer Krise, die er als Privatmann und als Aufsichtsratsmitglied großer Unternehmen miterlebt hat. Dieses persönliche Erleben der Krise, der Verführungen, der Verantwortungslosigkeit, der Überforderung und Fehlentscheidungen, erzählt im fesselnden Ich-Stil, macht „Die Abwracker“ spannend wie einen guten Kriminalroman.
„Im Auge des Hurrikans“ wollte Henkel das Buch zunächst nennen, aber als die Abwrackprämie fast zum Unwort des Jahres 2009 geworden wäre, fand er „Die Abwracker“ besser. Die politische Klasse kommt darin schlecht weg. Henkel sieht sie in der Verantwortung für das drohende Platzen der „Beschäftigungsblase“, der „Schuldenblase“, der „Sozialversicherungsblase“ und auch dafür, dass sein 13-Punkte-Reformprogramm wohl in der Ablage verschwinden dürfte.
Um „politische Korrektheit“ hat sich Henkel nie geschert, obwohl ihm die Reaktionen auf seine zuweilen provozierenden und polarisierenden Äußerungen nicht gleichgültig sind. Nach dem Erscheinen der „Abwracker“ hat ihn, obgleich er keine E-Mail-Adresse angegeben hat, eine Welle elektronischer Post überflutet. Er hat viel Zustimmung, aber auch üble Beleidigungen erhalten. Henkel tröstet sich damit, dass diejenigen, die ihn verunglimpfen, das Buch nicht gelesen haben.
Henkel liebt es trocken und direkt. Er weiß zuzuspitzen, spricht und schreibt Klar-Text, nicht um Auflage zu machen, sondern um aufzurütteln. Der ehemalige IBM-Top-Manager und frühere Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie ist ein bekennender Neoliberaler. Er ist Verfechter einer wertgebundenen, Regeln setzenden Ordnung, einer Wirtschaftsordnung der verantworteten Freiheit, in der sich Fürsorge für die Gesellschaft und die Freiheit die Waage halten. Ohne marktwirtschaftliche Befreiung können nach seiner Auffassung die Volkswirtschaft und die Gesellschaft nicht gesunden.
Mit dem scharfzüngigen Kämpfer für eine Marktwirtschaft ohne Attribute und Streiter gegen den Neosozialismus liegen viele über Kreuz. Es sind gerade die Reibflächen, die Henkel bietet, die ihn zu einem begehrten Gast in den Talkshows der Nation machen. An diesen Reibflächen lässt sich eine heiße Diskussion entzünden. Das schätzen die Dramaturgen der Shows. Wenn dann noch jemand das Charakterfach des kompromisslosen Marktwirtschaftlers so beherrscht wie Henkel und kämpft wie der letzte Samurai, ist er für die Regie eine Pflichtbesetzung. Es findet sich auch kaum ein anderer Wirtschaftssprecher, der es in der freien Rede mit Henkel aufnehmen könnte. „Der deutsche Vorstandschef“, spottet Henkel, „trennt sich eher von seiner Frau als von seinem Manuskript“.
Manche Menschen tragen einen Kompass in sich. Er hilft ihnen, ihr Leben lang Kurs zu halten. Für Henkel ist dies die Suche nach Freiheit. Sie steckt hinter der Auflehnung des kleinen Jungen gegen seine Mutter, hinter dem Aufbegehren gegen die Internatslehrer, hinter dem Abweichen von vorgezeichneten Karrierewegen. Henkel braucht zur Entfaltung seiner Talente und Fähigkeiten Freiräume so nötig wie Fische das Wasser. „Freiheit ist eine Macht, die nur der entdeckt, der sie sich erarbeitet“, schreibt Henkel in seinen 2001 erschienen Erinnerungen. Er hat seine bei Econ verlegten Memoiren – seinen ersten Bestseller – mit dem Titel „Die Macht der Freiheit“ versehen. Diese Erinnerungen, viele Interviews und Moderationen aus meiner Chefredakteurszeit sowie ein Anfang Februar 2010 geführtes, mehrstündiges Gespräch bilden die Grundlage für dieses Porträt.
Henkel akzeptiert das Etikett des „Freiheitskämpfers“ noch aus einem anderen Grund. Es passt für ihn auch, weil er sich als Mitglied von amnesty international für die Freiheit anderer Menschen engagiert, viele Petitionen geschrieben hat und weil er überzeugt ist, dass Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 2000 hat er statt persönlicher Geschenke um Spenden für ai gebeten. 130 000 D-Mark sind zusammengekommen. Das in dem Wort „Freiheitskämpfer“ mitschwingende Pathos mag er allerdings nicht. Dazu ist er zu sehr Hanseat.
Über Henkels Kindheit liegt wie ein dunkler Schatten der frühe Tod des geliebten Vaters. Hans Henkel wird nur 39 Jahre alt. Das Glück, das der Vater mit seiner kleinen Familie und der florierenden Generalvertretung für Papierbedarf hat, endet abrupt. Hans Henkel stirbt im Januar 1945 im Kessel von Budapest. Als Hans-Olaf Henkel Jahre später erfährt, dass sein Vater auf dem Gräberfeld des Budapester Zentralfriedhofes zusammen mit neuntausend deutschen Soldaten bestattet ist, kann er die Tränen nicht unterdrücken. Er besucht den Friedhof und entdeckt den Namen des Vaters auf einer von drei Bronzetafeln. Im Abstand von wenigen Jahren kehrt er immer wieder an das Grab zurück.
Der Vater Hans Henkel war ein Erfolgsmensch, die Mutter, eine nordische, aus einfachen Verhältnissen stammende Schönheit, war es auch. Sie wollte aufsteigen, hatte den Willen zum Glück und fand es in der Ehe mit dem tüchtigen und lebenslustigen Geschäftsmann Hans Henkel. Hans-Olaf, sechs Jahre nach seiner Schwester Karin geboren, ist in seinen ersten Schuljahren alles andere als ein Erfolgsmensch. Das eine Mal fliegt er von der Schule, das andere Mal muss er sie verlassen, weil er nicht mitkommt, dann wieder muss er eine neue Schule besuchen, weil er umzieht. Während seiner Kindheit besucht er sieben Schulen und lebt in drei Heimen.
Mit der Mutter, die nicht weniger erfolgreich als der Vater die Generalvertretung weiterführt, stößt der kleine Hans-Olaf immer häufiger zusammen. Sie ist ihm nicht nur zu exzentrisch, sondern auch zu streng, zu autoritär. Der aufmüpfige Sohn verträgt das nicht. Selbstkritisch räumt Henkel ein, er habe seiner Mutter mit seinen ständigen Widerworten und dem Infragestellen ihrer Autorität häufig Unrecht getan. Die drei Henkel-Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, fühlen sich nicht innig geliebt. Noch heute klingt ihnen die Warnung der Mutter im Ohr: „Schafft euch bloß keine Kinder an.“ Die Kinder sind der Mutter, die schon durch das Geschäft stark gefordert ist, zu einer Last geworden, die sie schwer allein tragen kann. Da sie selbst auf eigenen Füßen stehen muss, sollen auch ihre Kinder früh selbstständig werden. Das Fördern früher Selbstständigkeit ist ein eigentlich Erfolg versprechendes Erziehungsprinzip. Aber Hans-Olaf Henkel, von der Mutter für einundeinhalbes Jahr in ein strenges katholisches Nonnenstift gesteckt, fühlt sich ausgestoßen.
Nach zwei weiteren Schulwechseln und erneuten Auseinandersetzungen meldet die Mutter den Vierzehnjährigen im „Rauhen Haus“ an. Der Name trügt, wie Henkel bald bemerkt. Er rührt nicht von rauen Erziehungsmethoden, sondern von der rauen Außenfassade des ersten Hauses des 1832 gegründeten Wichern-Stiftes her. Aus dem Stift hat sich die Diakonie entwickelt. Das „Rauhe Haus“ gilt als Heim für problematische Kinder. Die Kinder und Heranwachsenden werden dort nach dem Familienprinzip erzogen. Ein Diakon betreut wie ein älterer Bruder jeweils zehn bis zwölf Kinder. Henkel verbringt ein halbes Jahr im „Rauhen Haus“. Die Fürsorge der Diakone tut ihm gut. Der Knoten platzt. Er fühlt sich an die Hand genommen und beginnt zu lernen. Später, auf der Hochschule für Wirtschaft und Politik, wird er bei Ralf Dahrendorf eine Abschlussarbeit mit dem Thema schreiben: „Die soziale Herkunft der Diakone der Inneren Mission und Gründe für den Eintritt in die Diakonie“.
Anderes als zu lernen bleibt ihm auch nicht übrig, denn die Mutter hat ihm Auswege versperrt. Henkel entdeckt, dass ihm im „Rauhen Haus“ mehr Freiheit gewährt wird, wenn er sich anstrengt. Das weckt seinen Ehrgeiz und trägt Früchte. Nach kurzer Zeit steigt er in eine andere Familie auf, in der es weniger streng zugeht. Er wird einer der besten Schüler in der Klasse und darf das Heim verlassen. Es ist ein erstes Erfolgserlebnis, er hatte aus eigener Kraft etwas erreicht. Auf einer Schule im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel macht Henkel die mittlere Reife. Das Abschlusszeugnis fällt durchschnittlich aus.
Erste unternehmerische Erfahrungen sammelt der Kaufmannssohn mit sechzehn Jahren. Die Mutter ist zu ihrem neuen Lebensgefährten, dem Shanty- und Balladen-Sänger Richard Germer, an die Elbchaussee gezogen und hat ihre bisherige Fünfzimmer-Wohnung dem Sohn überlassen. Sie zahlt die Miete weiter. Hans-Olaf, der nur zwei der fünf Zimmer für sich benötigt, kann drei Zimmer untervermieten und von den Einkünften leben. Damit hat die Mutter erreicht, was ihr schon immer wichtig gewesen ist: Den Kindern zu ermöglichen, auf eigenen Füßen zu stehen. Hans-Olaf Henkel genießt die Freiheit und lernt, mit Geld umzugehen.
Am liebsten wäre er nach der mittleren Reife auf die höhere Handelsschule gegangen, um das kaufmännische Abitur zu machen. Aber die Mutter hat dem Sechzehnjährigen schon eine Lehrstelle als Speditionskaufmann bei Kühne und Nagel besorgt. Die Ausbildung bei der international tätigen Speditionsfirma, die häufige Tätigkeit im Hamburger Hafen, das Aufsuchen der Konsulate, wecken in ihm das Fernweh. Es wird ihn Zeit seines Lebens begleiten.
Als das Ende seiner Lehrzeit näher rückt, seine Freunde und Freundinnen das Abitur machen und sich auf ein Studium vorbereiten, nagt es an Henkels Selbstbewusstsein. Er möchte nicht von seinen Freunden überholt werden, will nicht als der hängen gebliebene Mittelschüler gelten, der es nur zu einer Lehre gebracht hat. „Das hat mich unwahrscheinlich gewurmt“, erinnert er sich. Eine verletzungsbedingte Stiefelunverträglichkeit bewahrt ihn davor, zur Bundeswehr eingezogen zu werden. Henkel wägt zwischen drei sich ihm bietenden Alternativen ab: Entweder bei Kühne und Nagel als kaufmännischer Angestellter zu bleiben, oder das mütterliche Geschäft, den Verkauf von Papierprodukten, zu übernehmen. Darin kann er aber nicht den Sinn seines Lebens sehen. Die dritte eröffnet sich ihm bei der Lektüre der Zeitung. Er hat sich schon als älterer Schüler zu einem gründlichen, vor allem an Politik interessierten Zeitungsleser entwickelt. Henkel entdeckt einen Artikel über ein Institut des zweiten Bildungsweges. Es heißt damals noch „Akademie für Gemeinwirtschaft“, für gemeine Wirtschaft, wie Henkels Freunde lästern. Später wird aus dieser Akademie die Hochschule für Wirtschaft und Politik. 2005 wird die Hochschule, an der viele Gewerkschaftsführer, Politiker wie Björn Engholm und Unternehmenschefs wie Heinz Ruhnau ausgebildet werden, als Fachbereich Sozialökonomie in die Hamburger Universität eingegliedert.
Henkel beschließt, sich um einen Studienplatz an der Akademie zu bewerben, obwohl er erst neunzehn Jahre alt ist. Das Aufnahmealter liegt bei zwanzig Jahren. Um die 80 Studienplätze bewerben sich 1800 junge Menschen. Das Prüfungsthema für die schriftliche Arbeit lautet: „Nutzen und Fragwürdigkeit des Vorstoßes des Menschen in den Weltraum“. Henkel schildert das Pro und Kontra und kommt zu dem Ergebnis, die Menschen sollten sich auf das Abenteuer einlassen. Später erfährt er, sein Aufsatz sei mit „Sehr gut“ bewertet worden.
Er besteht die schriftliche Prüfung und wird zu einem Gespräch eingeladen. Einer der strengen Herren der Prüfungskommission bemerkt, dass Henkel für die Zulassung zum Studium zu jung ist und weist ihn mit der gut gemeinten Bemerkung ab, er könne in einem Jahr wiederkommen. Für Henkel bricht eine Welt zusammen. Er reklamiert, Alter hin oder her, er habe doch die schriftliche Prüfung bestanden, und protestiert, die Abweisung raube ihm alle Perspektiven. Henkel redet sich in Rage. Dann kommt ihm die rettende Idee, die Unternehmerkarte zu spielen. Trotz mangelnder Erfahrung ist ihm klar, dass die Akademie im Vergleich zu den traditionellen Universitäten unter dem Imageproblem leidet, die Kaderschmiede der Gewerkschaften und der Gemeinwirtschaft zu sein. Unternehmerkinder an der Akademie könnten helfen, denkt sich Henkel, das Image zu korrigieren. Als die Prüfer fragen, was er nach dem Studium machen wolle, gibt er an, das Geschäft seiner Mutter übernehmen zu wollen. Henkel hat die Schwachstelle in der Psyche der Professoren gefunden. Seine Beharrlichkeit imponiert den Herren. Er bekommt einen Studienplatz und wird der jüngste Student der Akademie.
Die Aufnahme an der Akademie für Gemeinwirtschaft wertet Henkel als die entscheidende Weichenstellung seines Lebens. Der Spätentwickler hat eine zweite Chance erhalten, kann ohne Abitur studieren. Diese zweite Chance nutzt er, studiert fleißig, macht 1961 sein Abschlussexamen. Es schließt die allgemeine Hochschulreife ein. Nach einem Gespräch mit der Mutter entschließt sich Henkel jedoch nicht weiter zu studieren, obwohl ihm drei Semester angerechnet worden wären, sondern sich einen guten Job zu suchen.
Nach vielen Jahren fragt er sich, ob es nach dem Studium nicht doch besser gewesen wäre, er hätte sich selbstständig gemacht, das Geschäft der Mutter übernommen und es in ein PC-Geschäft umgewandelt. Mit PC-Firmen lässt sich damals viel Geld verdienen. Er hätte, spinnt Henkel den Faden weiter, das Geschäft dann Ende der neunziger Jahre verkaufen und einige Millionen erlösen können, wie es viele andere getan hätten. Doch die Selbstständigkeit bleibt ein Gedankenspiel. Henkel bewirbt sich bei der Schlieker-Werft, die einen EDV-Spezialisten sucht. Davon versteht er noch wenig, aber bekommt eine Zusage. Er bewirbt sich auch bei Infratest, dem Münchener Umfrageinstitut. Das Institut stellt ihm ein Stipendium in Aussicht. Dann sticht ihm eine ganzseitige Anzeige der IBM ins Auge. Die Computerfirma sucht Kandidaten für ihr Management-Trainingsprogramm. Henkel ist für das Programm zu jung und nicht qualifiziert.
Fünf Trainee-Stellen sind zu vergeben, hundert Bewerber reißen sich darum, erfahrene, hochgebildete, alle weit älter als Henkel. Die zwei Jobs, die er schon in der Tasche hat, machen ihn mutig. Henkel bewirbt sich, obwohl er sich keine Chance ausrechnet. Er möchte die Reisespesen einstreichen.
Die Bewerber müssen sich einem Test-Marathon stellen. Einer von ihnen hat ein Doppelstudium, ist Diplomkaufmann und Ingenieur, Henkel ist nur Schmalspurkaufmann. Die Tests machen Henkel Spaß, er zeigt Ehrgeiz, will sich gegenüber den Älteren beweisen. Am nächsten Tag wird er zur mündlichen Prüfung gebeten. Die schriftliche hat er bestanden, aber jetzt sieht alles nach einem schnellen Abgang aus. Einer der drei Topmanager, die die Kandidaten, auswählen, entdeckt, dass Henkel mit 21 Jahren für das Programm viel zu jung ist. IBM suche berufserfahrene Leute mit akademischer Ausbildung.
So schnell lässt sich Henkel aber nicht entmutigen. Er verweist auf seine Ausbildung zum Speditionskaufmann und auf seinen Studienabschluss, meistert das Frage- und Antwortspiel psychologisch geschickt und erhält das Angebot, für eine Vertriebslaufbahn ausgebildet zu werden. Für das Management-Traineeprogramm sei er nun einmal zu jung.
Die Vertriebslaufbahn ist die klassische Karriere bei IBM. Aber Henkel lehnt das Alternativangebot ab. Darum habe er sich nicht beworben, er sei wegen des Management-Trainee-Programms gekommen, hält er den konsternierten IBM-Managern entgegen. Um die Situation zu entspannen, fragt einer der Manager nach seinen Hobbys. Henkel antwortet „Musik“. Das stimmt, denn Henkel ist ein Jazz-Fan und auch ein Fan der Beatles. Das sagt er aber nicht, als die Nachfrage kommt „Welche Musik?“ Er sagt Händel. Auf die weitere Frage, was ihm an Händel gefalle, antwortet er: „Händel swingt“. Henkel bemerkt, dass sich das Blatt zu seinen Gunsten wendet, er lobt die Atmosphäre bei IBM und äußert den Wunsch, bei IBM zu bleiben. Die Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Henkel bekommt eine der Traineestellen.
Seinen Eintritt in die amerikanische Firma sieht Henkel als Glücksfall. Bei Siemens, Krupp, VW oder beim Staat wäre er mit seiner Art jämmerlich gescheitert, mutmaßt Henkel. Weshalb die IBM trotz des Strukturwandels, in dem viele Firmen untergegangen sind, überlebt hat, führt Henkel auf wenige Prinzipien zurück. Dazu zählen für ihn der Respekt vor dem Einzelnen, die Ehrlichkeit gegenüber Kunden, das Verbot jeglicher Bestechung und die Unbestechlichkeit der Mitarbeiter und Manager, auch die Verbannung von Alkohol während der Arbeit und bei Veranstaltungen.
Die kastenlose Unternehmenskultur bei IBM, der unkomplizierte, kameradschaftliche Umgang von Topmanagern und Mitarbeitern faszinieren Henkel. Das „Open Door“-Programm erlaubt es jedem Mitarbeiter, sich bei höheren Vorgesetzten bis hin zur Unternehmensführung über den direkten Vorgesetzten zu beschweren, ohne Nachteile befürchten zu müssen. Einmal im Jahr werden die Mitarbeiter nach Kriterien beurteilt, die Vorgesetzte und Mitarbeiter gemeinsam in einem Beratungs- und Förderungsgespräch erarbeitet haben. Allein die Leistung zählt und zahlt sich aus.
Alle zwei Jahre werden die Mitarbeiter anonym befragt, was sie von den Produkten und von den Vorgesetzten halten. Die Beurteilung durch die Mitarbeiter wird den Managern mitgeteilt. Dabei ist sichergestellt, dass der Vorgesetzte auch nicht indirekt feststellen kann, wer ihn wie beurteilt hat. Das System sorgt dafür, dass Manager, die ihre Mitarbeiter schlecht behandeln, mit Ellbogen oder Tricks arbeiten, nicht nach oben kommen. Das Motivieren und die gute Führung der Mitarbeiter sind wichtige Voraussetzungen, um auf der IBM-Karriereleiter aufzusteigen. Henkel erfüllt sie. Die Leistungs- und Aufstiegskultur von IBM ist wie für ihn geschaffen.
Geplant wird bei IBM auf lange Sicht. Jedes Jahr muss der Jungmanager Henkel dem IBM-Deutschlandchef eine Liste vorlegen. Sie muss fünf Kandidaten benennen, die sein Nachfolger werden sollten. Ferner muss sie den Kandidaten bestimmen, der ihm sofort folgen kann, falls er plötzlich gehen müsste. Im Jahre 1986 und 1988 muss Henkel bereits das Team 2000 vorstellen, wer dann die IBM-Deutschland führen könnte. Einer der von ihm vorgeschlagenen Kandidaten wird später tatsächlich Deutschlandchef der IBM.
Ungeschriebene Verhaltenscodes gibt es auch bei IBM. Kundenbesuche haben im dunklen Anzug, weißem Hemd und Krawatte stattzufinden, die Vertriebsmitarbeiter fahren auch nicht im Sportwagen vor, nur einen Hut müssen sie nicht mehr tragen, als Henkel in die Firma kommt. Wert gelegt wird auf eine gute Allgemeinbildung und auf eine intakte Familie.
Henkel hat sein Trainee-Programm noch nicht beendet, als er davon Wind bekommt, dass die IBM auf der Weltausstellung 1964 in New York einen eigenen Pavillon mit modernster Technologie errichten will und junge IBMler für die Betreuung ausländischer Gäste sucht. Vom Fernweh gepackt bemüht er sich, mehr schlecht als recht Englisch sprechend, um den Job. Den angereisten Amerikaner, der die Kandidaten bestimmt, treibt er listenreich so in die Enge, dass dieser gar nicht anders kann, als ihm den Job anzubieten. Im Februar 1964 betritt er zum ersten Mal das Land seiner Sehnsucht, das Land des von ihm geliebten Jazz, das Land der Kennedys und der IBM. Die fast unbegrenzte Freiheit des Landes zieht ihn in ihren Bann. Als der IBM-Pavillon schließt, weiß Henkel, die USA sind sein Land. Zurück in Deutschland wird er in eine Abteilung für Computer Services gesteckt.
In Sindelfingen langweilt sich Henkel. Als der für Indien zuständige Gebietsmanager nach Sindelfingen kommt und einen Mitarbeiter für die Installation eines Stücklistenprozessors sucht, bewirbt sich Henkel. Er erhält den Job in Kalkutta vor allem, weil er mittlerweile fließend Englisch spricht. Von Stücklistenprozessoren hat er keine Ahnung. Diese eignet er sich in einem Crashkurs an. In seinen Memoiren schildert Henkel, wie er für die Inder zum Computerheld aus Germany wird. Als Hero von seinen Mitarbeitern gefeiert wird er, als er auf dem Ganges Wasserski läuft. Die Skier sind Bretter, die ihm ein Tischler angefertigt hat. Ein indischer Guru hatte zuvor behauptet, er könne auf Wasser laufen, war aber kläglich in den Fluten untergegangen. Henkel hatte daraufhin erklärt, er könne, was dem Guru misslungen ist. Das hatte sich schnell herumgesprochen. Tausende Menschen jubeln ihm zu, als er als der erste Mensch auf dem Ganges mit seinen Skiern über das Wasser gleitet. Wasserskilaufen kann Henkel bereits. Nur die Kühe, die mit aufgeblähten Bäuchen an ihm vorbei treiben, und die Asche der Verbrannten, die von den Feuerstätten in den Fluss geweht wird, setzen ihm zu.