Kitabı oku: «Die Chancengesellschaft», sayfa 4
Nahles und die Jusos kämpfen auf dem Parteitag dafür, Betriebe, die nicht ausbilden, mit einer Umlage zur Kasse zu bitten. Nahles im Juso- Jargon: „Wer nicht ausbildet, wird umgelegt.“ Der Parteitag beschließt gegen den Widerstand von Wolfgang Clement und Gerhard Schröder die Ausbildungsumlage.
Lafontaine wird Andrea Nahles Förderer. Andrea Nahles ahnt damals noch nicht, dass die wechselseitige Unterstützung für sie Folgen haben wird. Andrea Nahles wird 1997 ordentliches Mitglied des SPD-Bundesvorstandes und bleibt bis 1999 Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Beim Machtwechsel 1998 zieht sie über die rheinland-pfälzische Landesliste in den Bundestag ein. Die Lafontaine-Anhängerin hat zwar nur Platz 12 auf der SPD-Liste erhalten, aber angesichts von 41,3 Prozent der Zweitstimmen für die Landes-SPD reicht der Platz für den Einzug in den Bundestag. Im Jahr 2000 wird Nahles stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgruppe Arbeit und Sozialordnung der SPD-Bundestagsfraktion. In diesem Jahr gründet sie auch das „Forum Demokratische Linke 21“ in der SPD, die Nachfolgeorganisation des Frankfurter Kreises. Anders als 1998 schafft Andrea Nahles bei der Bundestagswahl 2002 nicht den Einzug in den Bundestag. Die Liste der SPD in Rheinland-Pfalz erhält nur noch 38,2 Prozent der Zweitstimmen. Nahles fehlen 34 Stimmen. Sie hat zwar Platz 11 auf der Landesliste bekommen, der ist aber bei dem erwarteten schlechteren Abschneiden der SPD ein Wackelplatz. Eine Kampfkandidatur um einen besseren Landeslistenplatz kann sie nicht wagen, weil ein Teil der Bezirks- und Unterbezirksvorsitzenden ihr immer noch übel nimmt, dass sie auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1995 Oskar Lafontaine und nicht den Rheinland-Pfälzer Rudolf Scharping unterstützt hat. Die gerade zur Bundesvorsitzenden der Jungsozialisten gewählte Andrea Nahles und weitere 60 Jungsozialisten unter den Delegierten haben damals für Lafontaine votiert und zur Abwahl Scharpings als SPD-Vorsitzendem beigetragen.
Das vergisst die Landespartei der Rheinland-Pfälzerin nicht so schnell. An der Spitze der Landes-SPD steht damals Kurt Beck, der Rudolf Scharping viel zu verdanken hat. Andrea Nahles büßt noch nach Jahren für ihre Parteinahme zugunsten Lafontaines. Lafontaine hat allerdings bereits im März 1999 alle seine politischen Ämter niedergelegt. Nahles und viele andere Lafontaine-Anhänger in der SPD fühlen sich von ihm betrogen. Nach der Bundestagswahl 2002 arbeitet Andrea Nahles im Berliner Büro der IG Metall, behält aber ihr Bürgerbüro im Wahlkreis Ahrweiler bei. Sie leistet konzeptionelle Arbeit um das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften zu verbessern, organisiert Hospitanzen von Gewerkschaftsjunioren bei Bundestagsabgeordneten und lernt Verwaltungsstellen der IG Metall kennen. Der von der IG Metall gewünschte Blick von außen auf ihre Organisation fällt, was die Gleichstellung von Mann und Frau anbelangt, kritisch aus. „Ein ziemlicher Macho-Laden“, kommentiert Nahles ihre Erfahrungen. Beeindruckt ist sie von der Kompetenz der IG Metaller, die ihr mit guten Kenntnissen der Betriebe in der Region und ihrem ökonomischen Sachverstand imponieren.
Die Zeit von 2002 bis 2005 hätte meinen politischen Tod bedeuten können, sagt Nahles im Rückblick. Aber ihre Partei-Karriere endet nicht, sondern gewinnt an Tempo. Sie wird mit einem Spitzenergebnis wieder in den Parteivorstand gewählt und rückt im Dezember 2003 in das Parteipräsidium auf.
Ihre innerparteiliche Position festigt Andrea Nahles, als sie der damalige SPD-Chef Gerhard Schröder mit der Entwicklung des Konzeptes der Bürgerversicherung beauftragt. „Ich bin nur so weit gekommen, weil ich konzeptionell, weil ich politisch inhaltlich gearbeitet habe“, urteilt Andrea Nahles. Das sieht auch ein Teil der Medien so, wenn auch mit einem alarmierenden Unterton. „Lange nichts gehört von Andrea Nahles. Jetzt ist sie plötzlich wieder da − und gilt gar als Hoffnungsträgerin der SPD. Denn die ehemalige Juso-Chefin hat ein neues Amt: Sie ist Leiterin der „Projektgruppe Bürgerversicherung“, schreibt die FAZ Mitte Mai 2004 unter der Überschrift: „Eine linke Sirene schreckt die Reichen“. Zwar fehlt in dem Konzept, das die Arbeitsgruppe Ende August 2004 vorlegt, die Einbeziehung der Mieteinkünfte in die Beitragspflicht, aber zum Reichenschreck taugt es immer noch. „Es ist politisch gewollt, dass diese Kapitaleinkünfte zur Finanzierung der Krankenversicherung herangezogen werden“, erläutert Nahles gegenüber verdi.de. „Denn die Bürgerversicherung ist auch eine Antwort auf die demografische Entwicklung: Wenn wir keine zusätzlichen Finanzierungsquellen finden, wird der Beitrag als Folge der Altersstruktur unserer Gesellschaft in den kommenden Jahren deutlich steigen. Wir halten es für den besten Weg, bei den Kapitaleinkünften anzusetzen. Denn damit trifft man diejenigen, die wirtschaftlich gut dastehen.“ Ihre Rolle als konzeptionelle Vorarbeiterin füllt Nahles auch als Leiterin einer Projektgruppe zu Mindestlöhnen und einer Arbeitsgruppe zur Leiharbeit aus. „Ich habe als Präsidiumsmitglied politische Positionierungen meiner Partei gründlich und erfolgreich vorbereitet“, sagt Andrea Nahles mit leichter Verärgerung, weil dies in allen Berichten über sie unterschlagen werde.
Zusammen mit Wolfgang Thierse macht sie sich im Sommer 2007 auch an die Überarbeitung des Entwurfs für das neue Grundsatzprogramm der SPD, das im Oktober 2007 verabschiedete Hamburger Programm. Der Entwurf sei garantiert nicht mehrheitsfähig gewesen. Nahles schreibt die Einleitung sowie die Kapitel Europa, Arbeit und Soziales teilweise neu. Das Grundsatzprogramm schärft das Profil der SPD als der linken Volkspartei.
Andrea Nahles ist inzwischen in den Bundestag zurückgekehrt. Bei der vorgezogenen Bundestagswahl 2005 hat sie die rheinland-pfälzische SPD auf den sicheren Platz vier der Landesliste gesetzt. Als Ende 2009 ihr Buch „Frau, gläubig, links“ erscheint, kommentieren viele Medien, das Buch diene der Imagekorrektur. In den Leitmedien sei Nahles auf die Rolle der ewigen SPD-Linken und Ränke schmiedenden Königsmörderin festgelegt. Sie sei über die falschen Zuschreibungen genervt. Als Königsmörderin sieht sie sich in der Tat nicht.
Als im Oktober 2005 die Ministerposten in der großen Koalition verteilt werden, gibt Andrea Nahles ihre Kandidatur für das Amt der Generalsekretärin bekannt. Alle sich damals aus dem personellen Tableau der Partei ergebenden Kriterien treffen auch auf sie zu: sie ist jung, weiblich und links und hat zudem mit der Bürgerversicherung bewiesen, dass sie konzeptionell arbeiten kann. Als sie ihre Kandidatur anmeldet, sei keine andere Kandidatur auf dem Markt gewesen, korrigiert Nahles die Darstellung des Ablaufes in einigen Medien. Details will Nahles nicht nennen, solange bestimmte Politiker noch in politischen Funktionen aktiv sind.
Ihre Kandidatur sei positiv in der Partei aufgenommen worden. Sie habe für diese Kandidatur auch eine klare Mehrheit im Parteivorstand bekommen. Erst eine Woche später habe der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering über eine Ticker-Meldung verbreiten lassen, dass er den SPD-Bundesgeschäftsführer Kajo Wasserhövel bei einer Kandidatur für das Amt des Generalsekretärs unterstützt. Wasserhövel habe zwar als guter Organisator gegolten, aber als Repräsentanten der Partei in der Öffentlichkeit hätte ihn kaum jemand gesehen, erst recht nicht als eine eigenständige Stimme der Partei gegenüber Franz Müntefering. Ein solches Gegengewicht halten viele in der SPD für unverzichtbar, weil Müntefering Vizekanzler der großen Koalition werden sollte und dadurch besonders stark in die Koalitionsdisziplin eingebunden gewesen wäre. Die sich anbahnende Eskalation ist für Nahles nicht erkennbar, schließlich hat sie mit Müntefering und Wasserhövel bislang gut zusammengearbeitet. Sie sieht ihre Kandidatur als ein Angebot und eine Ergänzung, eine deutliche Mehrheit im Parteivorstand teilt ihre Perspektive. Versuche, den heraufziehenden Eklat in letzter Minute zu verhindern, scheitern.
In die Abstimmung im Parteivorstand über die Nominierung des Generalsekretärs geht sie nicht mit dem Gefühl zu gewinnen, sondern knapp zu verlieren. Das Ergebnis überrascht sie: der Parteivorstand schlägt sie mit einer Mehrheit von 23 zu 14 Stimmen als Generalsekretärin vor. Die überdeutliche Mehrheit signalisiert, dass sich Unzufriedenheit in der Partei ein Ventil gesucht hat. Andrea Nahles kann sich über ihren Triumph nicht eine Sekunde freuen. Ihr ist sofort klar, dass dieses Stimmenergebnis für Müntefering demütigend ist. Müntefering tritt vom Amt des SPD-Vorsitzenden zurück. Andrea Nahles will sich nicht auf ein Angebot des neuen Parteichefs einlassen, stellvertretende Parteivorsitzende zu werden. Die SPD-Rechte macht auch entschieden Front dagegen. Der Sprecher des konservativen „Seeheimer Kreises“, Johannes Kahrs, sagt der ARD vor der Entscheidung über Nahles’ neue Rolle, es dürfe keine Belohnung für die „Königsmörderin“ geben. „Ich halte es für absurd, dass jemand als Königsmörderin belohnt wird, der mit seiner Sturheit die Partei in die Krise geführt hat.“
Nahles sieht sich nach ihrem Empfinden in Teilen der Partei einer Treibjagd ausgesetzt. Prominente SPD-Politiker fordern von ihr, sie solle sich für ihre Kandidatur entschuldigen. Das lehnt Nahles ab. Sie nimmt sich selbst aus dem Spiel, kandidiert weder als Generalsekretärin noch als SPD-Vize-Vorsitzende. Sie steht am Nullpunkt ihrer Karriere, zieht sich nach Weiler zurück. Die Eltern berichten ihr, dass die Bildzeitung mit zwei Leuten im Dorf gewesen sei und fast jeden befragt hätte. Doch keiner im Dorf habe irgendetwas Schlechtes über Andrea Nahles gesagt. Die „Bild“-Reporter ziehen wieder ab und bringen keine Zeile über ihre Recherche in Weiler. „Es hat mir gut getan, dass mein Dorf so hinter mir steht“, kommentiert Nahles diese Erfahrung.
Über den unerwarteten Rücktritt Münteferings und den tragischen Verlauf ihrer Kandidatur denkt sie auch heute noch nach. Sie zweifelt, ob es nicht besser gewesen wäre, die Kandidatur zurückgezogen zu haben. Sie habe aber nicht voraussehen können, dass Münteferings Nachfolger an der Parteispitze, Matthias Platzeck, krank werden und dessen Nachfolger Kurt Beck nicht reüssieren würde. Ihr Verhältnis zu Kurt Beck ist mittlerweile sehr gut, sie steht auch in dessen bitteren Stunden an seiner Seite. Das Kesseltreiben gegen den neuen SPD-Vorsitzenden Beck findet sie ungerecht. Sie ist davon überzeugt, dass der Absturz der SPD auf damals 26 Prozent in den Umfragen nicht an einer Person liegt, sondern an der Politik der SPD und am Glaubwürdigkeitsdefizit der Partei. Auf dem Karlsruher Parteitag am 16. November 2005 kommt es zu einer Geste der Versöhnung zwischen Müntefering und Nahles. Die Delegierten wählen sie mit einer deutlichen Mehrheit von 323 Stimmen im ersten Wahlgang wieder in den Parteivorstand. Nahles ist erleichtert. Sie hat in der Partei noch eine Zukunft, zieht wieder in das Präsidium ein und wird im Oktober 2007 mit fast 75 Prozent der Delegierten- stimmen zur stellvertretende SPD-Vorsitzenden gewählt. Wenige Monate später wird sie auch stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion. Der SPD-Kanzlerkandidat bei der Bundestagswahl 2009, Frank-Walter Steinmeier, beruft sie in sein Kompetenzteam. Darin ist sie für Bildung zuständig.
Nach dem Wahldebakel der SPD bei der Bundestagswahl 2009 unternimmt Andrea Nahles auf dem Dresdener SPD-Parteitag im November 2009 einen zweiten Anlauf, Generalsekretärin der SPD zu werden. „Die Welt“ schreibt bereits am 11. Oktober über die künftige Generalsekretärin: „Andrea Nahles – eine Anti-Merkel prägt die SPD. Mit ihrem künftigen Posten als Generalsekretärin hat Andrea Nahles ihre Traumrolle gefunden. Schon seit Jahren prägt sie die Politik der SPD und hat viele linke Positionen durchgesetzt. In Acht nehmen müssen sich jetzt nicht nur konservative Parteikollegen, sondern auch die Bundeskanzlerin.“ Am 13. November 2009 nach dem Kirchgang wettet Andrea Nahles mit Prälat Karl Jüsten um eine Flasche Rotwein, dass sie auf dem Parteitag nur 70 Prozent der Delegiertenstimmen bekommen werde. Jüsten schätzt 80 bis 85 Prozent. Nahles wird mit 69,6 Prozent der Stimmen zur Generalsekretärin gewählt. „Ich könnte fast alle Delegierten, die mich nicht gewählt haben, namentlich nennen“, sagt die neue Generalsekretärin. Die Netzwerkerin Nahles kennt ihre Partei, die Abneigung der Parteirechten gegen sie, aber auch die Enttäuschung einiger Linker. Sie habe schon als stellvertretende SPD-Vorsitzende klar gemacht, dass sie nicht mehr Sprecherin der Parteilinken sei, erklärt Nahles die Stimmeneinbußen bei ihrer früheren Hausmacht. „Ich arbeite jetzt aus dem Zentrum der Partei für die Partei. Nur so kann ich meiner Aufgabe gerecht werden.“
Natürlich hätte sie sich über einige Prozentpunkte mehr gefreut, aber sie weiß, dass sie mit ihrer politischen Vita, mit ihren Konflikten, nicht everybody’s darling sein kann. Als zentrales Ziel ihrer Politik nennt Nahles: Arbeit zu schaffen, gute, Existenz sichernde Arbeit, statt mit Sozialtransfers den Mangel an Arbeit erträglich zu machen. Diese Orientierung auf Arbeit zeichne Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und sie aus. „Gerechter Lohn für gute Arbeit“ ist für sie ein immer aktueller Gerechtigkeitsbegriff.
Auch nach einem langen, mit Terminen voll gestopften Arbeitstag zeigt Andrea Nahles keine Stresssymptome, ist sie hoch konzentriert, obwohl der Tag für sie um 6:30 Uhr in der Frühe beginnt. Das preußische Arbeitsethos ist ein Familienerbe, ihre unerschöpfliche Energie wohl auch. Doch was feuert dieses politische Kraftwerk an? Nach Erfolgen ist sie nicht supereuphorisch, nach Niederlagen nicht tief deprimiert. Sie weiß, dass beides kommt und geht. „Entscheidend ist meine innere Haltung. Ich versuche aus jeder Situation das Beste zu machen.“ Diese lebensbejahende, optimistische und zupackende Grundhaltung spiegelt sich in ihrem Motto: „Carpe diem“− nutze den Tag. „Wenn ich nicht die Grippe habe, gehe ich optimistisch in jeden Tag. Ich bin auch kein Ego-Typ. Ich weiß, dass mir vieles im Team besser gelingt als allein. Deshalb bin ich gern Generalsekretärin der SPD.“
Ibrahim Evsan
Vordenker der digitalen Welt
„Ich gehe für meine Ideen durch die Hölle“
Ibrahim Evsan trägt keinen Raumanzug. Aber wenn er mit seinem Headset vor dem Monitor sitzt und mit Freunden aus aller Welt telefoniert, wenn er hunderte von E-Mails checkt, twittert, in Xing und Facebook nachschaut, seine Lieblingsblogs, die persönlichen Journale durchstöbert, wenn es in seiner vernetzten Welt klingelt, summt und piepst, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, einem Neil Armstrong des 21. Jahrhunderts zuzuschauen.
Der Astronaut des digitalen Kosmos weckt auch in seinen Reden und Veröffentlichungen solche Assoziationen. „Der Mensch hat sich einen neuen Lebensraum erobert: die digitale Welt, in der es keinen Unterschied macht, welcher Nationalität man angehört, welchen Idealen man folgt oder welches Bildungsniveau man hat oder für sich beansprucht“, schreibt Evsan in der Einführung zu seinem Ende 2009 erschienen Buch „Der Fixierungscode“. Deshalb ist für Evsan, der noch Türke ist, seine Staatsbürgerschaft Nebensache.
Evsan ist der Prophet einer neuen kulturellen Epoche: „Ich erkenne heute zwei voneinander getrennte Kulturen, die der Onliner und die der Offliner – derjenigen, die den digitalen Raum bereits für sich erobert haben, und derjenigen, die diese Welt noch nicht betreten haben.“ Das könne zu einem „clash of civilizations“, zu einem Kampf der Kulturen führen, meint der Online-Visionär. Manchmal ist er selbst erschrocken über die neue digitale Welt. Bei der Deutschen Post hat er erlebt, wie bei einem Meeting alle fünfzehn Minuten eine kurze Blackberry- und Handy-Pause eingelegt wird, damit die Mitarbeiter keine Nachricht versäumen. Bei einem Vortrag, den er vor einem anderen Auditorium gehalten hat, hat ein Zuhörer auf seinem Laptop die von ihm gemachten Angaben „gegoogelt“ und kleine Korrekturen in den Raum gerufen. Das seien keine Internetfreaks, wie die Politiker immer noch meinen. Das sei die neue Generation der Onliner.
Wohin die Reise im Internet-Zeitalter geht, hat Evsan auf dem Deutschen Medienkongress 2010 skizziert. Wer seine Präsentation „The Future of Media“ durchklickt, erhält einen Eindruck vom „Real Time Web“, mit dem man in Echtzeit suchen und finden kann. In Mikrosekunden ermöglicht es das Steuern, Filtern und Überwachen von Informationen, Videostreams von Konferenzen und die weltweite Zusammenarbeit von Menschen.
Evsan hat auf ihn gemünzte Bezeichnungen wie Internet-Pionier und Internet-Visionär nicht erfunden. Journalisten haben sie ihm angeheftet. Er bezeichnet sich als einen Experten für „social media“, für die Netzgemeinschaften, die untereinander Informationen und Meinungen austauschen oder miteinander spielen, in der jeder Teilnehmer ein eigenes Profil anlegt. Die Gruppen in den social media sind mit Internetforen vergleichbar.
Evsan sieht sich als ein Themendenker, der die gesellschaftlichen Veränderungen aus der Vogelperspektive betrachtet. Was er dabei entdeckt, hat er in einem Ende Januar 2010 in der FAZ veröffentlichten Beitrag beschrieben. Darin schildert er, wie das Internet für die Onliner zum zweiten Zuhause geworden ist und sagt voraus, Apple werde dank des von ihm entwickelten iPad, eines Flachcomputers, zum Großverlag der Welt werden.
„Ibo“, wie ihn seine Fans nennen, hat Freunde in aller Welt. Er hat 15000 Online-Bekannte. Misst man seine Fan-Gemeinde an den Besuchern seiner Seite, zählt sie mehr als 100 000 Mitglieder. Zum Neuen Jahr schickt er ihnen seine Glückwünsche in ihren Landessprachen. Godt nytaar (dänisch) ist ebenso darunter wie Nian Yu Kuai (Mandarin) und Hauoli Makahiki Hou (Hawaiianisch). Die kleine Schar seiner Website-Besucher aus Hawaii und die wenigen Hundert aus China verlieren sich in der großen deutschen und türkischen Fangemeinde. Flirtversuche, wie die Liebesgrüße, die ihm Alischa aus der Türkei schickt, lässt der glücklich Verheiratete und stolze Vater eines Sohnes unbeantwortet. Auch ein Onliner muss zuweilen offline sein.
Evsan ist ein Energiebündel, überaus kreativ, willensstark und immer hoch motiviert, ein Wettkampftyp16. Misserfolge können auch zu Höchstleistungen anspornen, Evsan treibt eher der Erfolg an. Er habe aber erst lernen müssen, dass man einen Erfolg auch genießen muss − für zwei, drei Stunden, sonst erscheinen Erfolge nur als Zwischenschritte, gibt er eine Lebenserfahrung wieder.
Evsan führt seinen Aufstieg in der Gründerszene nicht allein auf seine Ideen und seine Einsatzbereitschaft zurück. Er habe auch viel Glück gehabt, erklärt der Onliner seinen Erfolg als Web 2.0-Gründer. Das Online-Magazin „deutsche-startups.de“ hat Evsan nach dem Erstplatzierten Xing-Gründer Lars Hinrichs im August 2008 auf Platz 2 der wichtigsten Web-Gründer gesetzt.
Den Spitzenplatz unter den Top Ten der Gründerszene verdankt Evsan „sevenload“. Hinter dem Kunstwort sevenload verbirgt sich ein Bilder-, Video- und Web-TV-Portal. Der 2010 34 Jahre alte Evsan hat es 2005 gemeinsam mit seinem zehn Jahre jüngeren Partner Thomas Bachem aufgebaut und Ende April 2006 die sevenload GmbH gegründet. sevenload ist eine Mischung aus Fotoplattform wie Flickr und Videoplattform wie YouTube, nur zeitlich eine Nasenlänge voraus.
Bei der sevenload GmbH steigen im Frühjahr 2006 zunächst die Internetagentur Denkwerk Capital und im November 2006 Dirk Ströer als Investoren ein. Der Denkwerk-Mitgründer Axel Schmiegelow wird CEO bei sevenload und beendet mit einer professionellen Geschäftsführung das kreative Chaos bei dem Web-Unternehmen.
Der Kapitalhunger des jungen Unternehmens, das 2008 über 60 und 2009 über 70 Mitarbeiter zählt, verlangt nach weiteren Investoren. Mit Hubert Burda Media steigt im Frühjahr 2007 der bis dahin wichtigste Investor bei sevenload ein, 2008 folgt der Venture Fund der Telekom mit einer noch höheren Summe. Das Unternehmen entwickelt sich rasant. Im zweiten Quartal 2009 hat sevenload allein in Deutschland 1,8 Millionen Besucher pro Monat, international sind es fast 10 Millionen. Bei sevenload liegen die europaweiten Wrestling-TV-Rechte, die sich perfekt für Werbung vermarkten lassen. Gelinge es, weitere interessante Inhalte aufzubauen, ist Evsan optimistisch, dass sevenload bald schwarze Zahlen schreibt.
Wenn ein Start-up gut läuft, ziehen sich viele Web-Gründer aus der operativen Tätigkeit zurück, behalten Anteile und wechseln in Beiräte oder Aufsichtsräte. Sie suchen neue Herausforderungen, starten ihr nächstes Projekt. Ibrahim Evsan und Thomas Bachem haben es auch so gemacht, nur dass ihr neues Projekt eigentlich ein altes ist. Denn ein Portal für social games, ein Online-Spiele-Portal wollten sie schon 2004 gründen. sevenload haben sie nur aus der Taufe gehoben, um die Startfinanzierung für ihr Spieleportal zusammen zu bekommen.
Evsan möchte sich nicht durch eine Management-Verantwortung unter Druck setzen lassen. Er hat bemerkt, dass ihm die operative Verantwortung zu wenig Freiheit, zu wenig Zeit für das Nachdenken und Weiterlernen lässt. Diese Zeit braucht er aber, um kreativ zu sein und Spaß an seiner Arbeit zu haben. Das Ergebnis seiner letzten schöpferischen Pause ist das Spiele-Projekt „Fliplife“. Was steckt dahinter? Evsan ist überzeugt, dass die Menschen im Internet ein „Zuhause“ suchen. Das sei etwas anderes als die bei den sozialen Netzwerken wie Facebook oder Xing hinterlegten Adressen und die Bekannten- oder Freundeskreise. Sie wollten ein Zuhause, das sie selbst aufbauen können. Das Spiel „Farmville“ ist ein solches social game. 2009 haben 70 Millionen Menschen weltweit Farmville gespielt. Die Spieler können gemeinsam im Netz einen Bauernhof betreiben und Felder bewirtschaften. Sie müssen richtig arbeiten, tausende von Klicks ausführen, um Felder zu bestellen, zu ernten, die Ernte zu verkaufen und neues Saatgut zu beschaffen. Hier setzt Evsans und Bachems neues Projekt an, dem die beiden Gründer den Namen „Fliplife“ gegeben haben. Die Spieler sollen die Möglichkeit bekommen, ihr Leben im Netz nachzuspielen oder ein neues Leben, zum Beispiel als Arzt oder Forscher zu führen. Sie sollen virtuelles Geld verdienen und damit etwa ein Haus bauen können. Die Idee hinter diesen Spielen liegt für Evsan darin, Freundschaften zu vertiefen und mehr Spielspaß im Netz zu ermöglichen.
Solche Spiele soll „United Prototype“ programmieren. United Prototype ist nicht der Portalname, sondern der Name der Firma, die die Spiele entwickelt und programmiert.
Evsans Selbstvertrauen erklärt sich aus seinem Lebensweg. Er ist ein Autodidakt. Er hat wie der Xing-Gründer Lars Hinrichs auf der „Universität des Lebens“ studiert, eines harten Lebens. Geboren wird er 1975 in der malerischen Pferdestadt Warendorf als Sohn türkischer Eltern. Der Vater ist 1971 nach Deutschland gekommen und hat als Hausmeister in einer Firma gearbeitet, die Sitzbezüge herstellt. Ibo wächst, von der Mutter umsorgt, mit drei Geschwistern auf. Die Eltern sprechen nur wenig Deutsch, die Familie lebt in dem fremden Land zurückgezogen. In den Kindergarten geht der kleine Ibo erst mit sechseinhalb Jahren und dann nur das letzte halbe Jahr vor der Einschulung. Das ist zu spät und zu kurz, um noch richtig Deutsch zu lernen.
Seine zunächst schlechten Sprachkenntnisse, seine Ausdrucksschwierigkeiten und das eine oder andere falsch gewählte Wort machen ihn in den Augen der Grundschullehrerin zum Problemschüler. Ibrahim leidet unter der Ablehnung und dem Hass der Lehrerin, wie er ihn empfindet. Es mag an seinen schlechten Deutschkenntnissen gelegen haben. Nachts hört er noch heute gelegentlich die schrille Stimme der Lehrerin, wie sie auf ihn einredet und wiederholt: „Warum verstehst du das denn nicht? Du musst das doch jetzt verstehen“.
Sie setzt den Fünftklässler immer wieder unter Druck. Einmal muss er eine ganze Schulstunde im Klassenraum stehen. Ibo nutzt dies für einen Selbsttest, will herausfinden, wie lange er kerzengerade stehen kann. Das Verhältnis zur Lehrerin bleibt schlecht. Er ist ihr zu selbstbewusst, gibt ihr Paroli, manchmal mit falschen Worten, deren Bedeutung er gar nicht kennt. Sie ohrfeigt ihn und gibt ihm unverdient schlechte Noten, wirft seine Hefte auf den Boden und macht ihn zum Gespött seiner Mitschüler. „Das war schon hart für mich, extrem demütigend und hat mir weh getan“, erinnert er sich. Als er den Eltern von der Tortur berichtet, verstehen diese nicht, was ihn bedrückt und fordern, er solle sich mehr anstrengen.
Das tut er auch. Ibrahim zieht es nachmittags in die Bibliothek. Sie wird für ihn wichtiger als die Schule. Zwischen seinem elften und vierzehnten Lebensjahr ist er tagtäglich in der Bibliothek, liest dort fast jeden Tag bis 18:00 Uhr.
Die Geografie entscheidet, welche weiterführende Schule Ibrahim nach der Grundschule besucht. Das Gymnasium liegt zehn Kilometer von den Evsans entfernt, die Hauptschule nur 500 Meter. Die Lehrer setzen sich bei den Eltern dafür ein, dass Ibo wenigstens die Realschule besucht. Die liegt aber sechs Kilometer entfernt. Deshalb geht er auf die Hauptschule. Um sich zu beschäftigen und seine Grenzen kennenzulernen, fordert er sich selbst immer wieder zu kleinen Wettkämpfen heraus. Das gilt auch für sportliche Leistungen. Er stoppt die Zeit, die er von der Schule bis zur Wohnung der Eltern braucht. Er will, ohne zu laufen, schneller werden.
Ab der siebten Klasse bekommt er einen Lehrer, der ihn fördert. Aus den früher schlechten Noten werden gute Noten. In der neunten Klasse hat Ibrahim einen Notendurchschnitt von 1,2. Geldprobleme hat Ibo nicht. Während der Schulzeit verdient er sich sein Taschengeld selbst, jobbt mal hier, mal dort, verkauft Kirschen aus eigenem Garten und später Versicherungen. Mit 16 Jahren organisiert er Partys und verdient an den Eintrittskarten. Mit der zehnten Klasse beendet er seine Schullauf bahn. Er ist schulmüde geworden.
Zwar hätte er auch gern das etwas lockere Studentenleben seiner damaligen Freunde gelebt, aber das heute verschulte Studium reizt ihn nicht. Er zieht es vor, selbst zu lernen, liest lange alle zwei Tage ein Buch, hat heute immer einen iPod dabei, auf dem Hörbücher, Dokumentationen und Videos, Informationen und Wissen gespeichert sind. Ibrahim Evsan ist schon früh ein lernendes Ein-Mann-Unternehmen: „Ich habe zwar nicht studiert, aber das Wissen, das ich mir selbst erarbeitet habe, ist sehr breit“.
Evsan beginnt als Verpacker in einer Fabrik zu arbeiten, wird schnell Vorarbeiter des Verpackungsteams und verdient mit 19 Jahren bereits 3200 D-Mark netto. Die Eltern träumen davon, dass Ibo den gut bezahlten Vorarbeiterjob behält, eine Familie gründet und die nächsten vierzig Jahre in der Verpackungsstube bleibt. Sein Traum ist das nicht. Die Leitung von drei jeweils zehnköpfigen Verpackungsteams ist ein Job für einen rauen Gesellen, einen alten Haudegen mit dickem Fell. Das hat Evsan nicht.
Einige ältere Mitarbeiter wollen sich nicht von einem 19-jährigen Türken führen lassen, boykottieren seine Anweisungen, beschimpfen ihn auf übelste Art und drohen ihm Schläge an. „Ich habe Rassismus pur erlebt.“ Evsan versucht, die Diffamierungen und Drohungen locker zu nehmen. Manchmal gelingt es ihm nicht und Situationen spitzen sich gefährlich zu. Das ständige Mobbing zermürbt ihn, greift ihn psychisch an. Als ein kräftiger deutscher Zwei-Meter-Mann in die Firma kommt, sich von ihm nichts sagen lässt, sondern droht, ihn fertig zu machen, bekommt Evsan Angst. Er spricht mit seinem Abteilungschef, doch der wiegelt ab, bagatellisiert die Drohungen als Scherze. Auch der Betriebsrat unternimmt nichts. Evsan leidet zudem unter Rückenschmerzen. Die physischen und psychischen Belastungen veranlassen ihn, den Vorarbeiter-Job aufzugeben. Er verlässt die Firma mit einer kleinen Abfindung.
Der Vater möchte wissen, wie sich Ibo nun seine Zukunft vorstellt. Er setzt ihn nicht unter Druck, sichert ihm seine Unterstützung zu, gleich, wofür er sich entscheiden wird. „Das war das größte Geschenk, das mein Vater mir machen konnte“, erinnert sich Evsan. Er gibt dem Sohn sogar ein Startkapital von 30 000 D-Mark, um einen neuen Weg zu beschreiten, viel, vom Vater hart erarbeitetes Geld.
Evsan steigt in sein Auto und fährt los, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Er landet in Köln, sucht sich eine Wohnung. Das Arbeitsamt ist damals noch verpflichtet, dem arbeitslosen jungen Mann eine gleichwertige Stelle zu vermitteln. Das aber ist unmöglich. Einen 19-jährigen Vorarbeiter sucht niemand. Deshalb bietet das Amt Evsan eine Umschulung, eine Ausbildung zum Werbekaufmann an. In 18 Monaten absolviert Evsan die Ausbildung und schließt sie mit guten Noten ab.
Die Entwicklung zum Onliner läuft parallel zu Evsans Jobs und Ausbildung. Sie beginnt, als die Eltern ihm zu seinem 16. Geburtstag einen PC schenken, einen IBM 57 SX mit 80 Megabyte (MB) Festplatte und Floppy-Disk-Laufwerk. Er spielt auf dem Rechner Donkey-Kong und andere Computerspiele. Aber der Autodidakt Evsan will nicht nur auf dem PC spielen. Er will dem PC alle seine Geheimnisse entlocken. Evsan leiht sich in der Bücherei Programmierbücher aus und schreibt die ersten eigenen Anwendungen wie das Einnahmen- und Ausgabenbuch der Familie.
In dem Städtchen Warendorf gibt es damals nur wenige PC-Besitzer, meist sind es schon Ältere. Das gemeinsame Interesse der „Freaks“ am Computer überbrückt die Altersunterschiede, Software wird bereitwillig getauscht. So verbessern sich Evsans technische Möglichkeiten.
Nach und nach erarbeitet er sich das technische Wissen, um seine Ideen digital umsetzen zu können. Es reizt ihn bis heute, umfangreiche Funktionalitäten durch eigene Programmierung für jedermann verständlich zu realisieren. „Die rasante technische Entwicklung der letzten Jahre hat mir dabei geholfen“, schreibt Evsan im „Fixierungscode“, „immer komplexere Ideen, wie etwa einer social media-Plattform für Videos, Bilder und interaktive Sendungen, verwirklichen zu können. So entstand die von mir gegründete Plattform sevenload.“
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