Kitabı oku: «Aleister Crowley & die westliche Esoterik», sayfa 2
Im vierten Kapitel „Die Geburt eines neuen Äons: Dispensationalismus und Millenarismus in der thelemischen Tradition“ befasst sich Henrik Bogdan mit dem apokalyptischen und millenaristischen Geschichtsverständnis in der thelemischen Tradition, wie es in Crowleys Schriften beschrieben wird, vor allem in seinen eigenen Kommentaren zu The Book of the Law. Bogdan führt aus, dass das millenaristische thelemische Geschichtsbild trotz der dezidiert antichristlichen Natur Thelemas tatsächlich sowohl in einem westlich-esoterischen Verständnis der biblischen Apokalyptik wurzelt wie auch im Dispensationalismus John Nelson Darbys (1800 - 1882).
Die Rolle des Yoga – und Tantra – untersucht Gordan Djurdjevic im fünften Kapitel „Das Große Tier als tantrischer Held“. Djurdjevic erläutert, dass Crowleys magische Praktiken verständlicher werden, wenn man sie vor dem Hintergrund von Yoga und Tantra betrachtet, vor allem die verborgenen Aspekte und Kräfte des menschlichen Körpers nach dem Verständnis der tantrischen Theorie (d. h. Chakras und die Kundalini) und den spirituellen Tantratechniken des „Abstiegs“ und der „Überschreitung“. Anhand letzterer Techniken kann man die spirituelle Krise – oder Initiation, je nach Betrachtungsweise – nachvollziehen, die Crowley 1920 - 1923 in der Abtei von Thelema in Cefalù durchlief.
Crowleys Verständnis von Sexualität als Mittel spiritueller Befreiung und Erleuchtung war dennoch nicht auf tantrische Theorien und Praktiken begrenzt. Im sechsten Kapitel „Wissen über Generationen hinaus: Der gesellschaftliche und literarische Hintergrund von Aleister Crowleys Magick“ geht Richard Kaczinsky den verschiedenen westlichen Quellen nach, aus denen Crowley sein magisches System zusammensetzte. Einen Großteil davon nimmt die umfangreiche zeitgenössische Literatur über Sexkulte, Phallizismus und die Anbetung der Sonne ein. Autoren wie Richard Payne Knight und Hargrave Jennings betrachteten den phallischen Sonnenkult als wahren Ursprung aller Weltreligionen. Laut Kaczynski griff Crowley diese Vorstellungen auf und integrierte sie in sein eigenes magisches und religiöses Weltbild, beispielsweise in gewisse Passagen seiner Gnostischen Messe, die er 1913 schrieb. Crowley räumte freimütig ein, dass er von verschiedenen religiösen Traditionen beeinflusst war, und oft griff er auf seine beachtlichen Kenntnisse der vergleichenden Religionswissenschaft zurück, um Praktiken und Vorstellungen seiner eigenen magischen und religiösen Weltanschauung zu erklären und zu verdeutlichen. Ein kurioses Beispiel dafür ist seine Äußerung, dass Thelema mit der sumerischen Tradition verbunden sei, und dass Aiwass, der „Autor“ des Book of the Law, den ältesten Namen der Jesiden trug. Diese Aussagen bilden die Grundlage für Tobias Churton, der im siebten Kapitel „Aleister Crowley und die Jesiden“ Vergleiche zwischen The Book of the Law und dem Jesidentum zieht. Crowleys offensichtliche Faszination für heidnische, vorchristliche religiöse Traditionen war nicht auf die Literatur über Phalluskulte beschränkt; er las auch eine ganze Reihe von Klassikern, auf die er sich in seinen Schriften immer wieder bezog. Matthew D. Rogers hat im achten Kapitel einen speziellen Fall klassischer Literatur herausgegriffen: „Extasen des Tieres: Phaidros’ Furores in den Riten und Schriften Aleister Crowleys“. Nach Rogers lässt sich die Einteilung der Furores oder „Ekstasen“ von Platons Phaidros, mitsamt den Ausarbeitungen späterer Platoniker und Neuplatoniker wie Marsilio Ficino, in Crowleys Werk nachvollziehen, vor allem in seinem Artikel „Energized Enthusiasm“ (etwa: energiegeladene Begeisterung), der eine wichtige Quelle ist, um Crowleys Auffassung von Sexualmagie zu verstehen.
Crowleys formelle Einführung in die Mysterien der Sexualmagie fand 1912 statt, als er dem gemischten deutschen Freimaurerorden Ordo Templi Orientis beitrat. Die frühe Geschichte des O.T.O. ist nur unzureichend erforscht, doch die vorliegenden Fakten deuten darauf hin, dass der Orden eine Erfindung des deutschen Freimaurers, Okkultisten und früheren Theosophen Theodor Reuss gewesen ist. Auch wenn Reuss behauptete, dass der Orden 1905 von Karl Kellner gegründet wurde, ist es – aufgrund einer Urkunde, die John Yarker Reuss 1902 für den Ancient and Primitive Rite of Freemasonery ausgestellt hat – wahrscheinlicher, dass der Orden sukzessive entstand, vielleicht erst 1912. Dieser Ritus, ein kurzlebiger Konkurrent des englischen Ancient and Accepted Rite, wurde im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts von Yarker und seinen Kollegen unterstützt. Crowley, der 1910 dem Ancient and Primitive Rite beitrat, hatte ein ambivalentes Verhältnis zur Freimaurerei: während er die konservative (oder „reguläre“) Freimaurerei ständig kritisierte und ins Lächerliche zog, strebte er gleichzeitig danach, von ihr anerkannt zu werden. Tatsächlich versuchte er in seiner Zeit in den Vereinigten Staaten während des Ersten Weltkriegs, Kontrolle über die Freimaurerei zu erlangen. Im neunten Kapitel „Aleister Crowley – Freimaurer?“ untersucht Martin P. Starr Crowleys Kontakte zur Freimaurerei, wobei es ihm gelingt, die vielen Mythen, die sich um Crowley und die Freimaurerei ranken, von den Fakten zu trennen. Man kann sagen, dass Crowleys ambivalentes Verhältnis zur Freimaurerei gewissermaßen eine Parallele zu seinem eigenen inneren Konflikt darstellt: dem Widerspruch zwischen dem großen Magier und Propheten, dem Großen Wilden Tier 666 auf der einen Seite, und dem respektablen britischen Gentleman auf der anderen.
Die unerreichbare Anerkennung erstrebte Crowley während seines gesamten Erwachsenenlebens, und es scheint, dass einer der Gründe für seinen Wunsch, von der „regulären“ Freimaurerei anerkannt zu werden, darin bestand, dass ihm dadurch die Türen zur etablierten britischen Gesellschaft geöffnet würden. Die Kombination aus Okkultismus, Geheimgesellschaften, Freimaurerei und Statusdenken war zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gar nicht so weit hergeholt, wie es scheinen mag. Tatsächlich hatte es ein Zeitgenosse Crowleys, der erfolgreiche Autor Arthur Edward Waite, anscheinend geschafft, mit einer solchen Kombination allgemeine Anerkennung zu erreichen, und möglicherweise war das einer der Gründe, warum Crowley ihn nicht mochte. Im zehnten Kapitel „’Der eine Gedanke, der nicht unwahr war’: Aleister Crowley und A. E. Waite“, erzählt Robert A. Gilbert, wie Crowley 1898 an A. E. Waite schrieb und ihn nach Informationen über eine „Verborgene Kirche“ fragte, die Waite in The Book of Black Magic and of Pacts (1898) erwähnt hatte – doch aus irgendeinem Grunde wurde Crowley später feindselig gegenüber Waite und fuhr zahlreiche öffentliche Attacken gegen ihn; oft, indem er sich über den „pompösen“ Stil und die obskure Grammatik in Waites Schriften lustig machte. Der vielleicht humorvollste Angriff auf Waite findet sich in Crowleys Roman Moonchild (1929), in dem Waite nur oberflächlich getarnt als ein Spitzbube namens Arthwaite auftaucht. Moonchild wurde ursprünglich 1917 geschrieben und enthält nicht nur Bezüge auf viele zeitgenössische Okkultisten und Bekannte Crowleys, sondern auch – wie Massimo Introvigne im elften Kapitel „Das Tier und der Prophet“ ausführt – auf so unerwartete Persönlichkeiten wie Joseph Smith, den Begründer des Mormonentums. Die Bezugnahme auf Joseph Smith war jedoch kein bloßer Zufall, vielmehr zeigt sie Crowleys tief sitzende Faszination für Smith, die von seiner Lektüre von Sir Richard Francis Burton herrührte, vor allem von dessen Buch The City of the Saints, and across the Rocky Mountains to California (1896). Introvigne versucht, diese Faszination zu erklären, und zeigt einige äußere Ähnlichkeiten zwischen Crowley und Smith auf; des Weiteren analysiert er, wie seine Untersuchungsergebnisse durch die Haltung zeitgenössischer neuer magischer Bewegungen gegenüber Joseph Smith bestätigt werden.
Als führende Figur der Magie und des Okkultismus des zwanzigsten Jahrhunderts hat Crowley – direkt oder indirekt – die Mehrzahl aller zeitgenössischen „neuen magischen Bewegungen“ (um eine Bezeichnung aus Introvignes Kapitel zu gebrauchen) beeinflusst. Während die thelemische Bewegung – und die verschiedenen thelemischen Organisationen – heute vielleicht zusammen wenige tausend Mitglieder zählen, reicht Crowleys Einfluss auf die zeitgenössische Esoterik weit über die thelemischen Organisationen hinaus. Die vielleicht größte Strömung ist das moderne Hexenwesen oder auch Wicca, das Ronald Hutton im zwölften Kapitel „Crowley und Wicca“ behandelt. Auch wenn häufig angegeben wird, dass Gerald Gardner, der allgemein als Begründer des modernen Hexenwesens gilt, Crowley persönlich gekannt hat und initiiertes Mitglied des O.T.O. gewesen ist, bleibt die genaue Rolle Crowleys bezüglich der Ursprünge der Wicca-Bewegung, so Hutton, ungewiss und zutiefst umstritten. Hutton geht der Sache auf den Grund und untersucht eingehend die Verbindung zwischen Crowley und Gardner und der frühen Geschichte der Wicca-Bewegung; er zeigt, wieviel die Wicca anfangs Crowleys Schriften entnommen haben und wie dieser Einfluß später heruntergespielt wurde. Des Weiteren führt Hutton aus, dass Crowley, neben Gardner selbst, den „wichtigsten singulär identifizierbaren Einfluss“ auf das Hexenwesen Anfang der 1950er Jahre ausgeübt hat. Der Einfluss Crowleys auf die Wicca-Bewegung kann in dem Sinne als unmittelbar betrachtet werden, da Gardner Crowley persönlich kannte und für kurze Zeit nach Crowleys Tod in die kleine thelemische Bewegung in England involviert war. Dennoch finden wir Crowleys Einfluss auch indirekt in der Hexenkunst der australischen Künstlerin Rosaleen Norton wieder. Norton stand nicht allein in dem Ruf, Australiens am meisten verfolgte Künstlerin zu sein, sondern begründete auch ein eigentümliches esoterisches System, das sie selbst als Hexenkunst bezeichnete, wie Keith Richmond im dreizehnten Kapitel „Im Spiegel der Hexe: Aleister Crowleys Magick und Rosaleen Nortons Hexenkunst“ darlegt. Obwohl Norton mit Gardner korrespondierte, kreierte sie eine eigenwillige Form der Hexenkunst, in die sie nur eine kleine Anzahl von Personen einweihte. Norton war niemals Thelemitin oder Anhängerin von Crowley, doch Richmond zeigt, dass die Bezüge auf Crowley in Nortons Schriften die auf jeden anderen einzelnen Okkultisten zahlenmäßig bei weitem übertreffen und dass Crowley mächtigen Einfluss auf sie hatte.
Im vierzehnten Kapitel über „Die okkulten Wurzeln von Scientology“ untersucht Hugh B. Urban, inwieweit eine der umstrittensten neureligiösen Bewegungen unserer Zeit von Crowleys Werken beeinflusst ist. Das Bindeglied zwischen Crowley und dem Scientology-Gründer L. Ron Hubbard ist John W. Parsons, der Meister der einzigen Loge des O.T.O., die während des Zweiten Weltkrieges tätig war. 1946 führten Parsons und Hubbard gemeinsam eine Reihe magischer Zeremonien durch, die sie Babalon Working nannten, doch die magische Partnerschaft endete noch im selben Jahr, als Parsons Hubbard bezichtigte, ihm Geld gestohlen und seine Freundin abspenstig gemacht zu haben. Obwohl Hubbard und Parsons nur kurze Zeit miteinander zu tun hatten, so Urban, geben die Verbindungen zu Crowley nicht nur wichtigen Aufschluss über die Ursprünge von Scientology, sondern auch in Bezug auf die amerikanische Spiritualität der 1950er Jahre, die durch eine „vielschichtige Mischung aus Okkultismus, Magie, Science Fiction und die Sehnsucht nach etwas radikal Neuem“ gekennzeichnet war. Wohl weniger überraschend, als es bei Scientology der Fall ist, sind Crowleys Einflüsse auf den modernen Satanismus. Auch, wenn Crowley sich selbst mit dem Großen Tier 666 identifizierte und zeitlebens als Satanist gebrandmarkt wurde, ist wenig in seinen Werken erkennbar, das wirklich als „satanisch“, geschweige denn als „Satanismus“, angesehen werden kann, wie Asbjørn Dyrendal im fünfzehnten Kapitel „Satan und das Tier: Crowleys Einfluss auf den modernen Satanismus“ ausführt. Dyrendal lenkt dabei den Fokus auf Anton La Vey und Michael Aquino und erörtert kritisch, wie der moderne Satanismus Aspekte von Crowleys Esoterik übernommen hat. Zusammengefasst zeigen die Beispiele des modernen Hexenwesens, der Scientology und des Satanismus, dass Crowleys Einfluss auf die Spiritualität des Westens bis in die heutige Zeit andauert und dass er jetzt, da wir in das einundzwanzigste Jahrhundert eingetreten sind, populärer zu sein scheint denn je. Wie bedeutend Crowley für die westliche Kultur ist, verdeutlicht eine Umfrage nach den „100 größten Briten“, die der BBC 2002 durchführte und in welcher Crowley mit über 300.000 Stimmen den dreiundsiebzigsten Platz belegte, noch vor Autoren wie Geoffrey Chaucer (Platz 81) und J.R.R. Tolkien (Platz 92).
Kapitel 2
Der Hexenmeister und sein Lehrling
ALEISTER CROWLEY UND DIE MAGISCHE ERKUNDUNG DER EDWARDIANISCHEN SUBJEKTIVITÄT
Alex Owen
Gegen Ende 1909 unternahmen zwei Engländer, Sprösslinge des wohlhabenden Bürgertums, eine Reise nach Algerien. Aleister Crowley, den man später als „bösesten Mann der Welt“ bezeichnen sollte, war Anfang dreißig; sein Begleiter, Victor Neuburg, hatte gerade sein Studium in Cambridge abgeschlossen. Sie hatten gesagt, es solle eine Vergnügungsreise sein. Crowley, ein weit gereister und erfahrener Bergsteiger und Großwildjäger, liebte Nordafrika und hatte persönliche Gründe, nicht in England zu sein. Neuburg hatte in der Angelegenheit wahrscheinlich wenig zu sagen. Jung an Jahren, verträumt und von mystischer Wesensart, und voller Ehrfurcht für einen Mann, den er gleichermaßen liebte wie bewunderte, neigte Neuburg dazu, Crowleys Vorhaben ohne zu zögern zuzustimmen. Doch es gab noch einen weiteren wichtigen Grund für Neuburgs stillen Gehorsam. Er war Crowleys Chela, ein eingeweihter Novize des Ordens des Silbernen Sterns, den Crowley zwei Jahre zuvor gegründet hatte. Als solcher hatte Neuburg Crowley, seinem Meister, den er liebevoll auch „heiliger Guru“ nannte, einen Gehorsamsschwur geleistet, und er hatte gelernt, dass Crowleys Wort in vielem, was sein Leben betraf, nun Gesetz für ihn war. Auf Crowleys Betreiben hatten sich die beiden Männer auf den Weg in die nordafrikanische Wüste gemacht, erst mit der Bahn, später zu Fuß, in den Südwesten von Algerien. Crowley hatte beschlossen, dort eine Reihe magischer Zeremonien durchzuführen, die der Beginn seiner Ausgestaltung sexualmagischer Techniken sein würden. In diesem Fall verband er die Durchführung fortgeschrittener Ritualmagie mit homosexuellen Handlungen. Diese Episode – außergewöhnlich und erschreckend als Erfahrung, tief greifend in der Wirkung und für mich ein entscheidendes Argument, die magische Praxis als eine befangene Erkundung der Innerlichkeit zu betrachten – bildet den Schwerpunkt dieses Kapitels.
Magie, oder genauer ausgedrückt: Ritual- oder Zeremonialmagie, hat eine lange und erhabene Geschichte in Westeuropa. In engem Zusammenhang mit dem Mittelalter und der frühen Neuzeit wurde die Ritualmagie gewöhnlich in Verbindung mit gelehrten Eliten stehend gesehen. Als Theorie und Praxis vom Zugang zu und der Kommunikation mit machtvollen, zugleich jedoch unsichtbaren natürlichen oder universellen Kräften verstanden, war die Ritualmagie ausnahmslos eine okkulte oder geheime Angelegenheit. Magische Verfahren wurden Grimoires anvertraut, Lehrwerken der Ritualmagie, die wie kostbare Juwelen der magischen Tradition eifersüchtig bewacht wurden. Diese Tradition, von der oft angenommen wurde, dass es sich dabei nur noch um ein archaisches Relikt aus grauen Vorzeiten handelt, das für die moderne Zeit kaum von Relevanz sei, überlebte unbeschadet bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein und wurde dann, durch die Veröffentlichung klassischer Grimoires in englischer Übersetzung, als Studienfach zugänglicher gemacht. Francis Barretts The Magus (London 1801) war ein bahnbrechender Text, und um die Mitte des Jahrhunderts hatten sich mehrere Gruppen formiert mit dem erklärten Ziel, die magischen Künste zu studieren. Statt in der Neuzeit zu verschwinden, wurde die Ritualmagie zu einem wesentlichen, wenn auch verborgenen Bestandteil des Wiederauflebens des Okkultismus im neunzehnten Jahrhundert.1
Die allgemeine Faszination für das Okkulte war ein markanter, wenn auch bis heute wenig verstandener Aspekt der viktorianischen Gesellschaft und Kultur.2 Mitte bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts kamen der Spiritualismus und die Theosophie auf, die zusammen mehrere Tausend Anhänger hatten, und es entstanden verschiedene kleine Gruppen, die ihr Wirken den verschiedenen Formen westlicher und östlicher Geheimlehren widmeten. Der Okkultismus entfaltete breite Wirkung, was sich vielleicht am besten am Erfolg „okkulter“ Romane, wie zum Beispiel Rider Haggards She (London 1887) und Bram Stokers Dracula (Westminster 1897), dokumentieren lässt, die gleichzeitig auch die viktorianische Begeisterung für alles Orientalische und „den mysteriösen Osten“ bedienten. Ernsthafte Studenten des Okkulten wurden jedoch weniger von exotischem Glanz angezogen als vielmehr von dem Versprechen, privilegierten Zugang zu geheimem Wissen und zu einem verborgenen Reich spiritueller Weisheit zu erlangen. Dadurch, dass der Okkultismus die Möglichkeit spiritueller Offenbarung suggerierte, sprach er einerseits das triumphalistische Streben der viktorianischen Gesellschaft nach Fortschritt an und zerstreute dabei andererseits die Befürchtungen, dass Wissens- und Verstandesfortschritte zur Entheiligung einer mystischen Welt und eines wundervollen Universums führen könnten. Der wesentliche Ansporn des Okkultismus, auf der Suche nach dem Schlüssel zu den Geheimnissen der Schöpfung das menschliche Schicksal zu gestalten, versprach Offenbarung als Auftakt zu spirituellem Wachstum und Erleuchtung.
Die Ritualmagie bezeichnet dieses Versprechen zweifellos. Am stärksten zeigte sie sich im neunzehnten Jahrhundert in Gestalt des Rosenkreuzertums – und damit als eine besondere Ausgestaltung okkulter Gelehrsamkeit des siebzehnten Jahrhunderts.3 Die Rosenkreuzertradition mit ihren Wurzeln in jüdischer Mystik, hebräischen und christlichen Quellen antiker Weisheit und den wirkmächtigen „ägyptischen“ Schriften des Hermes Trismegistos war gekennzeichnet durch das wohldurchdachte Zusammenspiel von Philosophie und Spiritualität mit magischen Praktiken.4 Diese Kombination aus Philosophie und Magie fand ihren Weg direkt in den führenden magischen Orden der viktorianischen Zeit, den Hermetic Order of the Golden Dawn, und wurde dort zu einer seiner Hauptattraktionen. Der in den späten 1880er Jahren gegründete Hermetic Order of the Golden Dawn stellte sich selbst – in mancherlei Hinsicht zu Recht – als direkte Verbindung zu den geheimen Überlieferungen der Vergangenheit dar. Auch wenn die Gründungsdokumente des Ordens ziemlich dubios sind und seine Hauptrituale zweifelsfrei aus der Feder viktorianischer Magier und Gelehrter stammen, gründeten seine Lehren auf einer originellen Aufarbeitung der hermetischen Schriften sowie auf dem ägyptologischen und anthropologischen Wissen der Gelehrten des neunzehnten Jahrhunderts. Der Name des Ordens sprach von der Erkenntnis einer rosenkreuzerischen Wiedergeburt, der Regeneration der alten, verdorbenen Welt und dem Heraufdämmern eines neuen Zeitalters spiritueller Erleuchtung – Vorstellungen, die um die Jahrhundertwende weit verbreitet waren.
Der Golden Dawn ist heute hauptsächlich als Quelle der Inspiration für den Dichter und Bühnenautor W. B. Yeats bekannt, doch seine vorwiegend gutbürgerlichen Anhänger zählten mehrere Hundert, darunter begnadete Künstler und Schriftsteller. Im Gegensatz zur Freimaurerei zu welcher der Golden Dawn gewisse Verbindungen hatte, waren auch Frauen als Mitglieder willkommen und stiegen in prominente Positionen auf. Der Orden war nach der Symbolik der Kabbala strukturiert und gliederte sich in Tempel, die nach einer strikt hierarchischen Ordnung geführt wurden.5 Einzelne Führungspersönlichkeiten verkörperten die Autorität, und die Initianden wurden rigoros und systematisch in den „verschmähten“ Wissenschaften der westlichen Esoterik unterwiesen. Sie studierten die Symbolik der Astrologie, der Alchemie und der Kabbala, wurden in die Geomantie und die Weissagung mit Tarot eingewiesen und lernten die Grundlagen magischer Techniken. Durch eine Reihe von Prüfungen erklomm ein Schüler die Grade des Ordens, doch die Aufnahme in den fortgeschrittenen Zweiten (oder Inneren) Orden war selektiv und galt eher als Privileg denn als Recht.6 Erst im Zweiten Orden erlangten die Anhänger Zugang zu den Geheimnissen der praktischen oder operativen Magie, d. h. der Magie als einzigartiger Unternehmung, durch welche unsichtbare Kräfte zum Zwecke der Herbeiführung einer spezifischen Veränderung beeinflusst und kontrolliert werden konnten. Die Ordensleiter nahmen diese praktische magische Arbeit sehr ernst, und die höheren Eingeweihten prüften jeden Schüler sehr genau darauf, ob er für ein solches Unterfangen geeignet war. Die britischen Rosenkreuzer waren – anders als ihre okkulten Kollegen in Frankreich – zumindest was die organisatorische Ebene betraf, stets auf Einhaltung der Standards und auf Seriosität bedacht.7
Als Crowley 1898 als Frater Perdurabo (‚Ich werde ausharren bis zum Ende’) in den Hermetic Order of the Golden Dawn initiiert wurde, ging er, wie auch die anderen Anhänger, davon aus, dass er in eine Gesellschaft mit ungebrochener magischer Tradition eintrete. Überzeugt davon, die mystische Geheimbruderschaft gefunden zu haben, auf welche Hofrat Karl von Eckartshausen in seinem okkulten Klassiker Die Wolke über dem Heiligthum (1802; die englische Ausgabe The Cloud upon the Sanctuary erschien 1896 in London) Bezug genommen hatte, stürzte er sich mit Begeisterung in seine magischen Studien. In Cambridge studiert, hochintelligent und zu höchster Konzentration fähig, durchlief Crowley die Grade des Äußeren Ordens des Golden Dawn sehr schnell. Für die bürgerliche Profanität vieler seiner Miteingeweihten hatte er nur Verachtung übrig; die langsamen, pedantischen Methoden des Ordens riefen in ihm Ungeduld hervor, und er war erpicht darauf, Zugang zu den Geheimnissen des hochgeschätzten Zweiten Ordens zu erlangen. Seinem Ehrgeiz schoben jedoch führende Funktionäre des Ordens – allen voran W. B. Yeats –, die Crowleys wildes, unberechenbares Verhalten und seine fragwürdige Moral empörte, einen Riegel vor. Später wurde Crowley in einen heftigen Machtkampf innerhalb des Golden Dawn verwickelt, den er 1900 wieder verließ. Mit neuen Lehrmeistern bildete er sich weiter und gründete schließlich seinen eigenen Orden Astrum Argenteum (Silberner Stern). 1909 verstand er sich selbst als Meistermagier; er hatte großen Einblick in altes Weistum und war geschickt in den fortgeschrittenen Techniken der operativen Magie. In dieser Zeit als selbst ernannter „Meister“ warb er Victor Neuburg an, mit dem er die ersten sexualmagischen Experimente durchführte, die ihn später berüchtigt machen sollten.
Das Experiment von 1909 in der Wüste war jedoch weder rein eigennützig, noch diente es dem bloßen Genuss exotischer und verbotener Sexualität. Was in der Wüste geschah, war das Ergebnis ernsthafter, wenn auch fehlgeleiteter Bestrebungen, Zugang zu einem jahrhundertealten magischen System zu erhalten und es zu erkunden, und es zeugte von einem intensiven persönlichen Einsatz bei der Beschäftigung mit magischem Wissen.
In diesem Kapitel werde ich versuchen, die Bedeutung und den Stellenwert dieses magischen Wirkens sowohl für sich selbst als auch im breiteren kulturellen Kontext zu untersuchen. Im Besonderen beleuchtet dieses Kapitel eine wiederbelebte magische Tradition in Verbindung mit den um die Jahrhundertwende aufkommenden Neuformulierungen sexueller Identität und der zeitgenössischen Beschäftigung mit den Rätseln des menschlichen Seins und Bewusstseins, die sich in den konkurrierenden Vorstellungen vom Selbst offenbart. Bei der Positionierung der Diskussion in einen konzeptionellen Bezugsrahmen zum Begriff der Subjektivität setze ich in der Analyse auf eine besondere theoretische Formulierung des Selbstseins, welche die Eventualität unterstreicht. Das poststrukturalistische Konzept der Subjektivität deutet ein Selbst an, das stabil und instabil, erfassbar und unerfassbar, konstruiert und einzigartig gleichermaßen ist. Meine zentrale Aussage in diesem Kapitel richtet sich jedoch darauf, die fortgeschrittenen magischen Praktiken des Fin de Siècle als eine besondere, befangene Art der Beschäftigung mit dem Selbstsein zu verstehen, die die Grenzen eines einheitlichen Ich-Erlebens aufzeigt, von welchen die erfahrbare sexualisierte Identität abhängt.