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Ausgangslage
Überalterung der Gesellschaft

Warum ist das Thema «pflegende Angehörige» überhaupt so wichtig? Laut einer OECD-Studie aus dem Jahr 2011 über Pflegebedürftigkeit und deren Auswirkungen droht eine Überalterung der Gesellschaft.[6] Zumindest für die Schweiz scheint sich diese Prognose zu verwirklichen: Im Jahr 2019 gehörten bereits 18,7% der Wohnbevölkerung zur Gruppe der über 64-Jährigen. Parallel dazu steigt auch die Anzahl der pflege- und betreuungsbedürftigen Personen. Die Klientel von ambulanten Pflegediensten wuchs auf 394‘400 Personen an. Dazu kommen etwa 164‘600 pflegebedürftige Personen in den Pflegeheimen der Schweiz.[7] Die Anzahl der pflegebedürftigen Personen in der Schweiz wird also in den nächsten Jahren weiter ansteigen.[8] Obwohl viele Menschen bei guter Gesundheit ein hohes Alter erreichen, steigt auch die Anzahl der pflegebedürftigen Personen.[9]

Auch die Anzahl der an Demenz erkrankten Personen steigt: Aktuell leben in der Schweiz über 144‘300 Menschen mit Demenz und verursachen Gesamtkosten von geschätzten CHF 11,8 Mrd., wovon CHF 5,5 Mrd. von den Angehörigen getragen werden. Diese Kosten entsprechen dem Marktwert der unbezahlten Pflege- und Betreuungsleistungen durch Angehörige und Nahestehende.[10] Die demografische Entwicklung in der Schweiz wird auch in naher Zukunft eine der grossen politischen Herausforderungen bleiben.

Pflegekräftemangel

Zur Überalterung der Gesellschaft hinzu kommt ein Mangel an qualifizierten Pflegefachkräften, welcher sich in Zukunft zu verschärfen droht. Da die Politik diesbezüglich weitgehend untätig blieb, lancierte der Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) eine eidgenössische Volksinitiative für eine starke Pflege. Die Initiative hat zum Ziel, dem Pflegekräftemangel durch Massnahmen wie die staatliche Unterstützung der Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften, Erhöhung des Ausbildungslohnes und der Definition und Förderung von Weiterbildung entgegenzuwirken. Der indirekte Gegenvorschlag des Parlaments wurde am 19. März 2021 verabschiedet.[11]

Ein grosser Teil der Pflege- und Betreuungsaufgaben wird durch informell pflegende Personen, wie eben Angehörige, abgedeckt. Ungefähr 600‘000 Personen – Kinder, Jugendliche, Erwachsene und gar hochaltrige Personen – übernehmen in der Schweiz Betreuungsaufgaben für Angehörige, wovon rund zwei Drittel der Erwachsenen mit Betreuungsaufgaben erwerbstätig sind. Die zahlenmässig grösste Gruppe an betreuenden Angehörigen sind Frauen und Männer im Alter von 50 bis 65 Jahren.[12]

Im Hinblick auf den drohenden bzw. den sich bereits verwirklichten Pflegekräftemangel wird der Pflege und Betreuung durch informell pflegende Personen immer grössere Bedeutung zukommen.[13]

Zwischenfazit

Aus diesen beiden Gründen – der Überalterung der Gesellschaft und der damit einhergehenden steigenden Anzahl von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen sowie dem Pflegekräftemangel – wird die Übernahme von Pflege- und Betreuungsaufgaben durch informell pflegende Personen an Bedeutung gewinnen. Durch die Kombination der Überalterung mit dem Pflegekräftemangel droht die Versorgung von pflege- und betreuungsbedürftigen Personen durch formelle Pflege und Betreuung allein nicht mehr gesichert zu sein. Zudem stellt sich die Frage nach den Kosten, d.h. wie soll künftig sowohl die formelle als auch die informelle Pflege und Betreuung finanziert werden? In Bezug auf die informelle Pflege sind die Kosten zwar vorläufig aufgeschoben, aber lange nicht aufgehoben.[14]

Probleme
Absicherung der informell pflegenden Person

Ein grosses Problem ist die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung der informell pflegenden und betreuenden Personen. Oft wächst der Pflege- und Betreuungsaufwand so stark, dass die informell pflegende Person – wenn sie noch im Erwerbsleben steht – ihr Arbeitspensum reduzieren oder ihre Erwerbstätigkeit gänzlich aufgeben muss. Problematisch ist, dass unser Sozialversicherungssystem weitegehend an den Erwerbsstatus knüpft und auf kontinuierliche Erwerbsbiografien in Vollzeit bei einem einzigen Arbeitgeber ausgerichtet ist. Fällt eine Person nicht in dieses Schema, können ihr schnell Lücken in ihrer eigenen sozialversicherungsrechtlichen Absicherung, insbesondere der Unfallversicherung und der beruflichen Vorsorge entstehen. Da die Höhe des Erwerbseinkommens auch massgebend Einfluss auf die Höhe von Taggeldern und Rente hat, wirkt sich Teilzeiterwerbstätigkeit direkt auf das Leistungsniveau aus.[15]

Auch wird die informelle Pflege durch die Sozialversicherungen kaum entschädigt, d.h. informell pflegende Personen erhalten keinerlei Vergütungen für ihren Erwerbsausfall.[16] Die pflegebedürftige Person erhält gewisse Leistungen, welche sie zur Entschädigung einer informell pflegenden Person einsetzen könnte. Die Beträge sind aber relativ tief angesetzt und reichen kaum, diese Personen angemessen zu entschädigen, geschweige denn auch noch ihre sozialversicherungsrechtliche Absicherung damit sicherzustellen.[17]

Da die Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung nicht existenzsichernd ist, und es in den meisten Fällen auch an der beruflichen Vorsorge sowie der 3. Säule fehlen wird, werden diese Personen später auf Ergänzungsleistungen oder sogar Sozialhilfe angewiesen sein.[18] Was dank informeller Pflege vorgängig eingespart wurde, wird später in Form von Bedarfsleistungen wieder ausgegeben. Das macht volkswirtschaftlich betrachtet wenig Sinn.

Die Erhaltung der Erwerbstätigkeit von informell pflegenden Personen dient nicht nur dazu, diese Menschen vor Armut im Alter zu bewahren, sondern ist auch eine wichtige Massnahme zum Schutz ihrer eigenen Gesundheit. Erwerbstätigkeit stellt nicht nur ihre finanzielle Unabhängigkeit sicher, sondern sorgt auch dafür, dass sie sozial integriert bleiben. Hier stehen auch die Arbeitgebenden und die Sozialpartnerinnen und -partner in der Pflicht. Mit flexiblen und zuverlässigen Lösungen können sie zu einer besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung beitragen.[19]

Da die Pflege und Betreuung von Menschen mit gesundheitsbedingten Einschränkungen nicht einfach eingestellt oder aufgeschoben werden kann, braucht es ergänzend Entlastungsangebote, so dass informell pflegende und betreuende Personen, egal ob noch im Erwerbs- oder bereits im Pensionsalter, entlastet werden und sich erholen können. Auch wenn Betreuung und Pflege nicht immer eine Bürde sondern auch eine schöne und erfüllende Aufgabe sein kann, benötigt jeder Mensch einmal eine Erholungspause oder muss im eigenen Krankheitsfall die Gewissheit haben, dass die Versorgung ihres Angehörigen sichergestellt ist. Solche Entlastungsangebote müssen sowohl einfach verfügbar als auch erschwinglich sein.

Die Verbesserung der Situation informell pflegender und betreuender Personen muss also auf verschiedenen Ebenen angegangen werden.

Fehlende Definitionen

In der Juristerei kommt den Definitionen eine wichtige Bedeutung zu. Im Bereich der Angehörigenpflege wird die Problematik der fehlenden Definition von Begriffen besonders deutlich. Was umgangssprachlich als «Angehörige» bezeichnet wird, existiert im Recht nicht. «Angehörige» ist kein juristischer Begriff, weder im Sozialversicherungs- noch im Familienrecht. Sind damit Verwandte gemeint? Verwandte in auf- und absteigender Linie oder in Seitenlinien? Sind damit nur Blutsverwandte gemeint oder auch angeheiratete? Gehört das stabile Konkubinat auch dazu? Auch wenn wir uns vom Angehörigen entfernen würden und stattdessen von der (informell oder unentgeltlich) «pflegenden Person» sprechen, würde das kaum helfen. Dem sogenannten Pflegesubjekt kommt im Sozialversicherungsrecht nur eine untergeordnete praktisch Bedeutung zu: In der obligatorischen Krankenpflegeversicherung werden nur die Kosten entschädigt, welche durch einen anerkannten Leistungserbringer erbracht werden (Art. 35 Abs. 1 KVG). In der Regel sind pflegende Angehörige keine anerkannten Leistungserbringer, da sie die Anforderung von Art. 35 ff. KVG nicht erfüllen, weshalb ihre Leistungen nicht von den Sozialversicherungen vergütet werden.[20]

Die Problematik der fehlenden Definitionen zieht sich weiter: Auch die Pflegehandlung ist nicht klar gesetzlich definiert. Art. 7 KLV umschreibt lediglich den Leistungsbereich der ambulanten Krankenpflege oder der Pflege im Pflegeheim. Je nachdem, ob es sich um Grund- oder Behandlungspflege handelt, wird die Vergütung unterschiedlich gehandhabt. So entschädigt die Unfallversicherung nur Leistungen der Behandlungspflege, nicht aber der Grundpflege an und für sich. Nur die akzessorische Grundpflege, also grundpflegerische Verrichtungen, die mit der Durchführung behandlungspflegerischer Massnahmen nötig sind – wie etwa die grundpflegerische Körperpflege nach behandlungspflegerischer Darmentleerung – werden von der Unfallversicherung vergütet.[21]

Ein weiteres Problem ist die gänzlich fehlende Definition von Hilfe und Betreuung bzw. deren weitgehende Absenz im Sozialversicherungsrecht. Die erfolgreiche Pflege einer pflegebedürftigen Person erschöpft sich nicht in der blossen Durchführung der sozialversicherungsrechtlich abgedeckten Pflegehandlungen. Im Zusammenhang mit der Pflege sind ganz viele weitere Handlungen, je nach Art der gesundheitlichen Einschränkung, Alter, Lebensumstände etc. der pflegebedürftigen Person notwendig, um ihren Gesundheitszustand zu erhalten, zu verbessern oder ihr eine würdevolle Begleitung bis zum Tod zu ermöglichen. Dies fängt bei haushälterischen Leistungen an, erstreckt sich über organisatorische und administrative Aufgaben bis hin zum simplen «für jemanden da zu sein». Dieser Aspekt findet im Sozialversicherungsrecht kaum Beachtung.

Im Synthesebericht wurden die Resultate einer Bevölkerungsbefragung publiziert, mit den Unterstützungsaufgaben, die betreuende Angehörige übernehmen: Dazugehört Da-Sein, Beobachten, Finanzen und Administration, Hilfe im Alltag, Koordinieren und Planen, Aufpassen, medizinische Hilfe, Betreuen und Pflegen.[22] Davon ist wenig bis gar nichts von den Sozialversicherungen abgedeckt. Es gibt gewisse Geldbeträge, wie etwa die Hilflosenentschädigung, der Assistenzbeitrag oder unter Umständen die Ergänzungsleistungen, welche für solche Hilfs- und Betreuungshandlungen verwendet werden können.

Dabei sind genau solche (im Sinne des Sozialversicherungsrecht) nicht-pflegerischen Handlungen sehr wichtig, um Pflegebedürftigkeit zu verhindern, zu mildern und Heimeintritte zu vermeiden. Der Bedarf an Betreuungsleistungen gerade bei älteren Personen ist gross. Auch ältere Personen, die keine körperlichen oder kognitiven Einschränkungen haben, können einen Betreuungsbedarf aufweisen. Eine bedarfsgerechte Betreuung kann sich positiv auf die Gesundheit der betreuten Person auswirken und Heimeintritte präventiv verhindern, was wiederum Kosten spart, denn die Kosten für einen Heimaufenthalt sind i.d.R. höher als für die Pflege und Betreuung zu Hause.[23]

Insbesondere bei an Demenz erkrankten Menschen, fallen zu Beginn der Erkrankung oft vielmehr betreuerische als pflegerische Aufgaben im sozialversicherungsrechtlichen Sinn an, weshalb diese länger zu Hause betreut und gepflegt werden könnten, was meisten günstiger wäre als die Unterbringung in einer Alters- und Pflegeeinrichtung.[24]

Zwar sind solche Angebote der Betreuung vorhanden und einkaufbar, jedoch werden sie von den Sozialversicherungen, wenn überhaupt, nur ungenügend gedeckt. Die betreuungsbedürftige Person muss diese Leistungen selbst einkaufen, was in viele Fällen schlicht und einfach finanziell nicht möglich ist. Mitunter ein Grund, weshalb Betreuungsleistungen informell durch Familienmitglieder, Verwandte und Bekannte erbracht werden.[25]

«Versicherungsdschungel»

Ein weiteres grosses Problem ist das schweizerischen Sozialversicherungssystem als solches, welches nicht konzeptuell entworfen wurde, sondern organisch zu einem regelrechten «Versicherungsdschungel» gewachsen ist: Bereits vor dem ersten Weltkrieg wurden die ersten Sozialversicherungen geschaffen und aus wirtschaftlicher Notwendigkeit, kamen immer mehr Versicherungen, ausgestaltet als Einzelgesetze hinzu. So ist ein unübersichtliches und teilweise auch lückenhaftes Sozialversicherungssystem entstanden, welches selbst für Experten nicht immer leicht zu durchschauen ist. Für jede einzelne Leistung müssen genau die Anspruchsberechtigung und die Voraussetzungen für den Leistungsbezug abgeklärt werden.[26] Es kommt deshalb immer wieder vor, dass Menschen durch die Maschen des sozialen Netzes fallen.

Die Finanzierung der Langzeitpflege ist «verzweigt und für das Verständnis sehr anspruchsvoll».[27] Auch der Bund hat dies als Problem erkannt, gerade in Bezug auf pflegende Angehörige.[28]

Neuste Entwicklungen

Die Politik wurde auf die Thematik der Überalterung, der steigenden Anzahl pflegebedürftiger Personen und der fehlenden sozialversicherungsrechtlichen Absicherung informell pflegender Personen aufmerksam. Der Bundesrat hat mit dem «Aktionsplan für betreuende und pflegende Angehörige» eine Grundlage geschaffen, um die Rahmenbedingungen für betreuende und pflegende Angehörige zu verbessern.[29] Die Umsetzung des Aktionsplans wird vom Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020» ergänzt. Dieses Förderprogramm hat die Situation von betreuenden Angehörigen erforscht und Grundlagen geschaffen, damit die Angebote für betreuende Angehörige bedarfsgerecht weiterentwickelt werden können. Unter anderem weist der Bericht darauf hin, dass je umfangreicher der Betreuungsbedarf ist, desto grössere die Gefahr ist, dass ein Haushalt mit Angehörigenbetreuung in die Armut abrutscht und dass Angehörige, die ihre Erwerbstätigkeit wegen der Übernahme von Betreuungsaufgaben aufgeben, besonders armutsgefährdet sind.[30] Deshalb ist besonders wichtig, die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung zu verbessern.

Aus diesem Grund wurde ein Bundesgesetz zur Unterstützung von betreuenden Angehörigen geschaffen, d.h. es wurden in verschiedenen Bundesgesetzen Anpassungen vorgenommen, um Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung besser zu vereinbaren. Die erste Etappe des neuen Bundesgesetzes über die Verbesserung der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung ist bereits am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Es wurde die Lohnfortzahlung bei kurzen Arbeitsabwesenheiten geregelt, die Betreuungsgutschriften in der Alters- und Hinterlassenenversicherung ausgeweitet, der Anspruch auf den Intensivpflegezuschlag und die Hilflosenentschädigung der Invalidenversicherung für Kinder angepasst. Mit der zweiten Etappe wird per 1. Juli 2021 der bezahlte 14-wöchige Urlaub für die Betreuung von schwer kranken oder verunfallten Kindern in Kraft gesetzt.[31]

Diese Änderungen sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung, reichen aber bei weitem nicht aus, um die oben unter III. genannten Probleme zu lösen. So fokussieren die Massnahmen vor allem auf die kurzzeitige Pflege und Betreuung und bieten keine nachhaltigen Lösungen für Personen, die Menschen in der Langzeitpflegephase 2 betreuen.[32] Zudem fokussieren die Massnahmen in erster Linie auf die Betreuung und Pflege kranker Kinder und nicht auf Personen, welche ältere Menschen pflegen und betreuen. Bei alten Menschen wird sich deren Pflege- und Betreuungsbedarf mit der Zeit zunehmend erhöhen.[33] Aus Gründen der Gleichbehandlung sollten alle informell pflegenden Personen ungeachtet der Ursache der gesundheitlichen Einschränkung oder des Alters der gepflegten Person von solchen Massnahmen profitieren können. Sie alle nehmen Aufgaben wahr, auf die die gepflegte Person unter Umständen einen sozialversicherungsrechtlichen Anspruch hätte. Deshalb sollten künftige Vorlagen nicht nur Personen, die Kinder pflegen, berücksichtigen.

Zwar weist der Bund in seinen Berichten auf die demografische Entwicklung hin, erkennt das Problem der Überalterung der Gesellschaft, erkennt auch die Probleme, mit welchen pflegende und betreuende Angehörige zu kämpfen haben, schafft aber in seinem neuen Bundesgesetz zur besseren Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Angehörigenbetreuung keine wirksamen Massnahmen, diese Probleme auch wirklich anzugehen.

Auch wird im Synthesebericht darauf hingewiesen, dass es für betreuende Angehörige schwierig ist, sich im «Leistungsdschungel» der theoretisch und real existierenden Entlastungsangebote zurechtzufinden und alle Möglichkeiten finanzieller Unterstützungen zu überblicken.[34] Statt das System zu vereinfachen und übersichtlicher zu gestalten, werden weitere Leistungen hinzugefügt.

Braucht es eine Pflegeversicherung?

Da unser Pflegesicherungssystem ein Neben- und Durcheinander verschiedener Pflegeleistungen von verschiedenen Sozialversicherungen ist, Pflegebedürftigkeit in leistungsrechtlicher Hinsicht kein eigenständiger Anknüpfungsbegriff und im «Schlepptau» von anderen sozialen Risiken (Invalidität, Alter, Unfall, Krankheit, Mutterschaft und Familienlasten) mitgeregelt ist und das Recht die Figur der «pflegenden Angehörigen» nicht kennt, stellt sich die Frage, ob nicht ein grundlegender Umbau unseres Sozialversicherungssystems angezeigt wäre und im Zuge dessen eine Pflegeversicherung geschaffen werden sollte.

Wie eine solche Pflegeversicherung konkret ausgestaltet sein soll, ist eine schwierige Frage. Andere Länder haben bereits Pflegeversicherungen, die in ihrer Ausgestaltung recht unterschiedlich sind.[35] Für die Schweiz stellt sich konkret die Frage, ob man einen weiteren eigenständigen Zweig schaffen will oder ob die Pflegeversicherung in eine bereits bestehende Sozialversicherung integriert werden soll. Daneben stellen sich zahlreiche andere Fragen grundlegender Natur. Soll Pflegebedürftigkeit als eigenes sozialversicherungsrechtliches Risiko anerkannt werden? Soll die Pflegeversicherung jede Art von Pflegebedürftigkeit abdecken oder nur Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit im Alter? Soll nur die Pflege, oder aber auch die Hilfe und Betreuung abgesichert werden und wenn ja, was ist genau mit «Hilfe» oder «Betreuung» gemeint? Sollen pflegende Angehörige direkt entschädigt werden und wenn ja, wer sind denn nun diese pflegenden Angehörigen? Soll eine Subjektfinanzierung im Vordergrund stehen und die pflegebedürftigen Personen erhalten Gelder, mit denen sie eigenständig ihre Pflege- und Betreuungsdienstleistungen einkaufen können? Und wohl am wichtigsten: Wer finanziert eine Pflegeversicherung? Soll es Kopfprämien wie in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung geben oder sollen die Beiträge nach Einkommen berechnet werden, welche gar paritätisch mit den Arbeitgebenden getragen werden? Zahlen Personen jeden Alters in diese Pflegeversicherung ein oder erst ab einem bestimmten Alter? Will man – und wenn ja wie – die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen, dass sie informell pflegenden und betreuenden Arbeitnehmern Pflegetage und Pflegeurlaube oder gar ein Recht auf eine Teilzeitstelle gewährleisten müssen?

Die wohl am schwierigsten zu beantwortende Frage ist die nach der Finanzierung einer solche Pflegeversicherung. «Wer zahlt?» Eine Frage, die ich oft von Thomas Gächter gehört habe. Die heutige Pflegefinanzierung in der Schweiz ist nicht gut gelöst. Die Kosten für Hilfe und Betreuung tragen in erster Linie die Betroffenen selbst. Das setzt falsche Anreize, so Thomas Gächter: «Durch die Pflegekosten wird Eigentum vernichtet, das kommt einer Enteignung der Erben gleich», sagt er. Das Signal sei verheerend: «Man ist blöd, wenn man spart, denn man kann es nicht den Kindern vererben.» Der fehlende Anreiz zu sparen sei wiederum schlecht für den Staat, denn schon Bismarck habe gewusst: «Wir brauchen Bürger und Bürgerinnen, die etwas zu verlieren haben. Diese tragen den Staat mit.»[36]

Fest steht, dass so es so nicht weitergehen kann. Um es mit den Worten von Thomas Gächter zu einer möglichen Pflegeversicherung auszudrücken: «Das Wie weiss ich nicht (…) aber das Ob ist klar: Dass man etwas machen muss, wissen alle.»[37]

1 Beste Grüsse an Philipp Egli. ↵

2 Martina Filippo, Sozialversicherungsrechtliche Absicherung unentgeltlich pflegender Personen im Erwerbsalter, Zürich/Basel/Genf, 2016. ↵

3 Abgesehen von den Betreuungsgutschriften der AHV (Art. 29septies AHVG). ↵

4 Ausführlich dazu Filippo (Fn. 2), S. 57 ff. ↵

5 Ausführlich dazu Filippo (Fn. 2), S. 101 ff. ↵

6 Francesca Colombo/Ana Llena-Nolaz/Jérôme Mercier/Frits Tjadens, Help Wanted? Providing and paying for long-term care, OECD Health Policy Studies, OECD Publishing 2011. ↵

https://de.statista.com/themen/5019/pflege-in-der-schweiz/. ↵

8 Siehe auch Filippo (Fn. 2), S. 7 ff. ↵

9 Eine Zusammenfassung weiterer Zahlen und Fakten mit zahlreichen Verweisen auf entsprechende Studien findet sich bei Filippo (Fn. 2), S. 7 ff. ↵

10 Siehe dazu Demenz in der Schweiz 2020, Zahlen und Fakten, Alzheimer Schweiz (abrufbar unter https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/publikationen-produkte/produkt/demenz-in-der-schweiz-zahlen-und-fakten). ↵

11 https://www.curaviva.ch/News/Indirekter-Gegenvorschlag-zur-Pflegeinitiative/oJcLa0PA/PEZNL/?lang=de&m=0. ↵

12 Zum Ganzen Synthesebericht, Förderprogramm «Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020», 7. Dezember 2020, S. 4 (abrufbar unter https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/nationale-gesundheitspolitik/foerderprogramme-der-fachkraefteinitiative-plus/foerderprogramme-entlastung-angehoerige.html). ↵

13 Vgl. auch https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80596.html. ↵

14 https://www.curaviva.ch/News/Indirekter-Gegenvorschlag-zur-Pflegeinitiative/oJcLa0PA/PEZNL/?lang=de&m=0. ↵

15 Zum Ganzen Filippo (Fn. 2), S. 188. ↵

16 Ob die Sozialversicherungen informelle Pflege- und Betreuungsleistungen überhaupt entschädigen sollen, ist zu diskutieren. ↵

17 Ausführlich dazu Filippo (Fn. 2), S. 57 ff. m.w.H. ↵

18 Filippo (Fn. 2), S. 134. ↵

19 Synthesebericht (Fn. 12), S. 6. ↵

20 Zum Ganzen Filippo (Fn. 2), S. 19. ↵

21 Zum Ganzen Filippo (Fn. 2), S. 22 f. ↵

22 Synthesebericht (Fn. 12), S. 27. ↵

23 Vgl. dazu Flurina Meier/Beatrice Brunner/Golda Lenzin/Sarah Heiniger/Maria Carlander/Andrea Huber, Betreuung von Seniorinnen und Senioren zu Hause: Bedarf und Kosten, Eine Studie im Auftrag von Pro Senectute Schweiz: Schlussbericht, November 2020, S. 59 f. ↵

24 Zum Ganzen Meier et al. (Fn. 23), S. 56. ↵

25 Vgl. zum Ganzen Meier et al. (Fn. 23), S. 59. ↵

26 Filippo (Fn. 2), S. 101. ↵

27 Thomas Gächter, Wozu noch Erbrecht?, in: Pflegerecht 2019, S. 70–77, S. 72. ↵

28 Synthesebericht (Fn. 12), S. 79. ↵

29 https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/aktionsplan-pflegende-angehoerige.html. ↵

30 Synthesebericht (Fn. 12), S. 77. ↵

31 https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80596.html; siehe auch zu den Neuerungen im Einzelnen Martina Filippo, Erwerbstätigkeit und Angehörigenpflege – Ist das jetzt die Lösung?, in: Pflegerecht 2019, S. 139–143 ff., S. 139 ff.↵

32 Bei der Langzeitpflegephase 2 geht es um pflegebedürftige Personen, deren Pflegebedürftigkeit länger als 365 Tage dauert und das Rehabilitationspotential voll ausgeschöpft wurde. Martina Filippo, Ein (kleiner) Schritt in die richtige Richtung, in: Pflegerecht 2020, S. 59–62, S. 61. ↵

33 Siehe dazu II.1. ↵

34 Synthesebericht (Fn. 12), S. 79. ↵

35 Siehe dazu eine Zusammenstellung bei Filippo (Fn. 2), S. 193 ff. ↵

36 https://www.swissinfo.ch/ger/pflegeversicherung_explodierende-pflegekosten---wer-wird-das-bezahlen--/44903566. ↵

37 https://www.swissinfo.ch/ger/pflegeversicherung_explodierende-pflegekosten---wer-wird-das-bezahlen--/44903566. ↵

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22 aralık 2023
Hacim:
261 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783038054283
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