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Besteht eine Pflicht des ehemaligen Arbeitgebers zur Sanierung einer Rentnerkasse?
Maya Geckeler Hunziker
Dr. Josi Fessler, ehem. Gerichtsschreiber am Bundesgericht, danke ich für die kritische Durchsicht des Entwurfs und die wertvollen Anregungen.
Inhalt
1 Vorwort
2 Sanierung von Rentnerkassen Rentnerkassen Finanzierung der Vorsorgeeinrichtungen Massnahmen bei Unterdeckung nach Art. 65d BVG Rentnerbeiträge als mögliche Sanierungsmassnahme Rechtliche Verselbständigung des Vorsorgevermögens Weiterbestehen eines Anschlussvertrages Ausfinanzierungspflicht des ehemaligen Arbeitgebers
Vorwort
Während längerer Zeit durfte ich am Lehrstuhl des Jubilars Thomas Gächter beruflich tätig sein. Gerne erinnere ich mich an diese spannenden und lehrreichen Jahre, insbesondere auch an die vertrauens- und respektvolle Zusammenarbeit mit dem Genannten.
Während meiner Anstellung am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht hatte ich die Gelegenheit, mich mit verschiedenen Themen rund um die berufliche Vorsorge auseinanderzusetzen. In diesem Rahmen beschäftigten wir uns auch mit der Problematik, wie eine in Unterdeckung geratene Rentnerkasse saniert werden kann und ob diesbezüglich eine Sanierungspflicht des ehemaligen Arbeitgebers besteht. Der folgende Beitrag geht dieser Frage nach, zu der in der Zwischenzeit auch das Bundesgericht Stellung genommen hat.
Sanierung von Rentnerkassen
Rentnerkassen
Vorsorgeeinrichtungen und Vorsorgewerke, in denen ausschliesslich Rentenbezüger und keine aktiven Versicherten vorhanden sind, werden als Rentnerkassen bezeichnet. Rentnerkassen können beispielsweise dadurch entstehen, dass ein Anschlussvertrag aufgelöst wird und die Rentenbezüger in der bisherigen Vorsorgeeinrichtung verbleiben oder die bisherigen Aktivversicherten das Pensionierungsalter erreichen und neueintretende Arbeitnehmer bei einer anderen Vorsorgeeinrichtung versichert werden. Gesetzlich ist aber auch eine Neugründung einer reinen Rentnerkasse nicht ausgeschlossen.[1] Keine Probleme bestehen, solange Rentnerkassen genügend ausfinanziert sind. Ist hingegen absehbar, dass Rentnerkassen ihren fälligen Vorsorgeverpflichtungen nicht mehr fristgerecht nachkommen können, stellt sich die Frage, wie diese Vorsorgeeinrichtungen saniert werden können.
Finanzierung der Vorsorgeeinrichtungen
Das BVG enthält in Art. 65 ff. Bestimmungen zur Finanzierung von Vorsorgeeinrichtungen.
Nach Art. 65 Abs. 1 BVG müssen die Vorsorgeeinrichtungen jederzeit Sicherheit dafür bieten, dass sie die übernommenen Verpflichtungen erfüllen können. Diese Forderung der jederzeitigen Erfüllbarkeit der Verpflichtungen wurde mit der Einführung der Sanierungsbestimmungen (Art. 65c−65e BVG) auf den 1. Januar 2005 relativiert. Der neu eingefügte Art. 65c Abs. 1 BVG hält fest, dass eine zeitlich begrenzte Unterdeckung und damit eine zeitlich begrenzte Abweichung vom Grundsatz der jederzeitigen Sicherheit nach Art. 65 Abs. 1 BVG zulässig ist, wenn sichergestellt ist, dass die Leistungen im Rahmen des BVG bei Fälligkeit erbracht werden können und die Vorsorgeeinrichtung Massnahmen ergreift, um die Unterdeckung in einer angemessenen Frist zu beheben.
Im Bereich der öffentlich-rechtlichen Vorsorgeeinrichtungen galt bis am 31. Dezember 2011, dass die Aufsichtsbehörden Vorsorgeeinrichtungen von öffentlich-rechtlichen Körperschaften unter den vom Bundesrat festgesetzten Bedingungen ermächtigen konnten, vom Grundsatz der Bilanzierung in geschlossener Kasse abzuweichen (aArt. 69 Abs. 2 BVG). Voraussetzung dafür war das Vorliegen einer Staatsgarantie von Bund, Kanton oder Gemeinde (aArt. 45 Abs. 1 BVV 2). In der Praxis wandten die Vorsorgeeinrichtungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften jedoch nicht die Bilanzierung in offener Kasse, sondern die Teilkapitalisierung an. Die Staatsgarantie war somit Voraussetzung für die Teilkapitalisierung von Vorsorgeeinrichtungen von öffentlich-rechtlichen Körperschaften,[2] d.h. bei Vorliegen einer solchen Garantie war ein Deckungsgrad von weniger als 100 Prozent zulässig.[3] Im Zusammenhang mit den am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Bestimmungen über die Finanzierung von Vorsorgeeinrichtungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften wurden aArt. 69 BVG und aArt. 45 BVV 2 aufgehoben.
Vorsorgeeinrichtungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften, die unter der Rechtslage seit dem 1. Januar 2012 im System der Vollkapitalisierung geführt werden, sind den privatrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen gleichgestellt. Zur Behebung einer Unterdeckung haben sie – wie die privatrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen mit Unterdeckung – Sanierungsmassnahmen nach Art. 65d BVG zu ergreifen. Besondere Bestimmungen betreffend Sanierungsmassnahmen gelten für Vorsorgeeinrichtungen, die nach Art. 72a ff. BVG im System der Teilkapitalisierung geführt werden.
Massnahmen bei Unterdeckung nach Art. 65d BVG
Die Mindestanforderungen an die Sanierungsmassnahmen werden in Art. 65d Abs. 2 BVG umschrieben und in den Weisungen über Massnahmen zur Behebung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 24. Oktober 2017 konkretisiert. Danach müssen die Massnahmen zur Behebung einer Unterdeckung auf einer reglementarischen Grundlage beruhen und der besonderen Situation der Vorsorgeeinrichtung Rechnung tragen. Die Massnahmen müssen zudem verhältnismässig, dem Grad der Unterdeckung angemessen und Teil eines ausgewogenen Gesamtkonzeptes sein.[4] Die Massnahmen müssen zudem geeignet sein, die Unterdeckung innerhalb einer angemessenen Frist zu beheben.[5]
Die Massnahmen müssen dem Ausmass der Unterdeckung entsprechen. Dabei wird zwischen geringer Unterdeckung und erheblicher Unterdeckung unterschieden. Eine geringe Unterdeckung liegt vor, wenn die Vorsorgeeinrichtung diese ohne Sanierungsmassnahmen gemäss Art. 65d Abs. 3 BVG innerhalb von fünf Jahren seit der Feststellung der Unterdeckung beheben kann. In allen anderen Fällen ist die Unterdeckung erheblich.[6]
Die Massnahmen müssen den zeitlichen Vorgaben Rechnung tragen. Im Sanierungsplan muss eine möglichst kurze Sanierungsdauer angestrebt werden, da das Risiko einer zusätzlichen Verschlechterung der finanziellen Lage der Vorsorgeeinrichtung besteht. Aus diesem Grund soll die Sanierungsdauer grundsätzlich nicht länger als fünf bis sieben Jahre, maximal zehn Jahre, ab der Feststellung der Unterdeckung dauern.[7]
Rentnerbeiträge als mögliche Sanierungsmassnahme
Bei reinen Rentnerkassen fällt bei einer Unterdeckung als Sanierungsmassnahme vor allem die Erhebung eines Beitrags von Rentnerinnen und Rentnern nach Art. 65d Abs. 3 Bst. b BVG in Betracht. Ein solcher ist jedoch nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig. So darf der Beitrag nur auf dem Teil der laufenden Rente erhoben werden, der in den letzten zehn Jahren vor der Einführung dieser Massnahme durch gesetzlich oder reglementarisch nicht vorgeschriebenen Erhöhungen entstanden ist. Er darf nicht auf Versicherungsleistungen bei Alter, Tod und Invalidität der obligatorischen Vorsorge erhoben werden. Auf Versicherungsleistungen, welche über die Leistungen der obligatorischen Vorsorge hinausgehen, darf er nur dann erhoben werden, wenn eine entsprechende reglementarische Grundlage vorhanden ist. Die Höhe der Renten bei Entstehung des Rentenanspruchs muss jedenfalls gewährleistet bleiben.
Aufgrund dieser engen Restriktionen dürfte es in der Regel schwierig werden, eine Unterdeckung nur mit Rentnerbeiträgen zu beheben. Es stellt sich deshalb die Frage, ob eine Pflicht des ehemaligen Arbeitgebers zur Sanierung einer in Unterdeckung geratenen Rentnerkasse besteht.
Rechtliche Verselbständigung des Vorsorgevermögens
Die berufliche Vorsorge ist gekennzeichnet durch die rechtliche Verselbständigung des Vorsorgevermögens über einen eigens hierfür konstituierten Rechtsträger. Art. 48 Abs. 2 BVG und Art. 331 Abs. 1 OR, welche die zulässigen Rechtsformen der Vorsorgeeinrichtungen umschreiben, stipulieren auch die Pflicht zur Übertragung der Zuwendungen und Beiträge an die berufliche Vorsorge auf einen eigenen selbständigen Rechtsträger.[8] Die Verselbständigungspflicht wird unter anderem damit begründet, dass so die Haftung des Arbeitgebers im Rahmen der Personalvorsorge beschränkt und überblickbar gemacht werden soll.[9] Durch die Verselbständigung ist somit der Arbeitgeber lediglich für seine Beiträge an die Vorsorge haftbar, eine weitergehende finanzielle Verpflichtung entfällt.[10] Die rechtliche Verselbständigung des Vorsorgevermögens hat zur Folge, dass die damit einhergehenden Risiken der Langlebigkeit und der Anlage des Vorsorgevermögens grundsätzlich in die Zuständigkeit der vom Arbeitgeber unabhängigen Vorsorgeeinrichtung fallen.
Weiterbestehen eines Anschlussvertrages
Eine Sanierungspflicht des Arbeitgebers könnte höchstens dann bestehen, wenn zwischen dem Arbeitgeber und der Rentnerkasse immer noch eine vertragliche Bindung bestehen würde.
Gemäss Art. 11 Abs. 1 BVG muss der Arbeitgeber, der obligatorisch zu versichernde Arbeitnehmer beschäftigt, eine in das Register für die berufliche Vorsorge eingetragene Vorsorgeeinrichtung errichten oder sich einer solchen anschliessen. Aus dieser Anschlusspflicht des Arbeitgebers leiten sich alle anderen gesetzlichen und im Reglement bestimmten Verpflichtungen wie die Beitragspflicht etc. ab.[11] Daraus ergibt sich, dass eine Pflicht zur Leistung von Sanierungsmassnahmen für den ehemaligen Arbeitgeber nur dann bejaht werden kann, wenn zwischen ihm und der Vorsorgeeinrichtung weiterhin ein Anschlussvertrag besteht. Es stellt sich somit die Frage, ob der Anschlussvertrag automatisch aufgehoben wird, wenn der Arbeitgeber keine aktiven Versicherten mehr in der Vorsorgeeinrichtung versichert hat, oder ob dieser bezüglich der rentenbeziehenden Passivversicherten bestehen bleibt.
Beim Anschlussvertrag handelt es sich um einen Innominatvertrag sui generis. Die Vorsorgeeinrichtung verpflichtet sich in diesem Vertrag gegenüber dem Arbeitgeber zur Erbringung der planmässigen Leistungen an die Arbeitnehmer, wenn das Rücktrittsalter erreicht wird oder die versicherten Risiken Tod und Invalidität eintreten, der Arbeitgeber verpflichtet sich zur Bezahlung der nach Gesetz und Vorsorgereglement geschuldeten Beiträge.
Das BVG enthält keine generelle Bestimmung, welche vorschreibt, dass der Anschlussvertrag aufgelöst wird, wenn keine aktiven Versicherten mehr in der Vorsorgeeinrichtung vorhanden sind. Art. 53e BVG enthält jedoch eine Bestimmung betreffend Rentnerkassen, die bei der Auflösung des Anschlussvertrages durch den Arbeitgeber oder die Vorsorgeeinrichtung entstehen.
Sowohl bei einer Auflösung durch den Arbeitgeber wie auch bei einer solchen durch die Vorsorgeeinrichtung bleibt der Rentnerbestand bei der bisherigen Vorsorgeeinrichtung, wenn der Anschlussvertrag keine andere Regelung enthält und zwischen der bisherigen und der neuen Vorsorgeeinrichtung keine andere Vereinbarung zustande kommt.[12] In einem solchen Fall bestimmt Art. 53e Abs. 6 BVG, dass der Anschlussvertrag mit Bezug auf die Rentenbezüger weiter besteht.
Art. 53e Abs. 6 BVG wurde im Zuge der 1. BVG-Revision in das Gesetz aufgenommen. Der Gesetzgeber bezweckte damit den Schutz des Rentnerbestandes. Indem der Anschlussvertrag in Bezug auf die Rentner weiterläuft, kann der Arbeitgeber weiterhin zur Finanzierung herangezogen werden. Dadurch wird verhindert, dass er die Rentner einfach «abhängen» kann.[13] Der Arbeitgeber soll damit im Verhältnis zu den Rentenbezügern weiterhin diejenigen Pflichten haben, welche er hätte, wenn der Anschlussvertrag nicht gekündigt worden wäre.[14]
Die Regelung hat einzig bezüglich der Kündigung eines Anschlussvertrages und nicht mit genereller Wirkung Eingang ins Gesetz gefunden. Daraus könnte der Schluss gezogen werden, dass ausserhalb des Anwendungsbereichs von Art. 53e BVG bei reinen Rentnerkassen kein Anschlussvertrag zwischen dem ehemaligen Arbeitgeber und der Vorsorgeeinrichtung mehr besteht.[15]
Wenn zwischen der Vorsorgeeinrichtung und dem (ehemaligen) Arbeitgeber kein Anschlussvertrag mehr vorliegt, besteht auch keine Verpflichtung des Arbeitgebers, sich an der Finanzierung der Vorsorgeeinrichtung zu beteiligen. Insbesondere bestünde keine Pflicht zur Leistung von Sanierungsmassnahmen.[16]
Ausfinanzierungspflicht des ehemaligen Arbeitgebers
In BGE 144 V 173[17] hatte das Bundesgericht die Sanierungspflicht eines ehemaligen Arbeitgebers zu beurteilen, der in Verletzung der Ausschliesslichkeitsklausel des Anschlussvertrages neueintretende Arbeitnehmende bei einer anderen Vorsorgeeinrichtung versicherte, wodurch die bisherige Vorsorgeeinrichtung (bzw. das bisherige Vorsorgewerk) zu einer reinen Rentnerkasse geworden ist. Das höchste Gericht hat festgestellt, dass die Regelung in Art. 53e BVG keinen Spielraum belasse. Aus ihr folge diskussionslos, dass es sich im Fall, dass ein Arbeitgeber seine aktiven Arbeitnehmenden in einer anderen Vorsorgeeinrichtung versichert und in der bisherigen Vorsorgeeinrichtung nur noch Rentenbeziehende belässt, nicht anders verhalten könne. Der Arbeitgeber müsse den Anschlussvertrag weiterhin einhalten und könne sich seinen darin eingegangenen Verpflichtungen nicht entziehen (E. 3.3.5.2).
Entgegen der Auffassung der Vorinstanz, die den ehemaligen Arbeitgeber lediglich zur Bezahlung von Schadenersatz infolge Umgehung von Sanierungsbeiträgen durch Verletzung der Ausschliesslichkeitsklausel des Anschlussvertrages verpflichtete, bejahte das Bundesgericht eine Sanierungspflicht des ehemaligen Arbeitgebers und wies diesen an, die im betreffenden Reglement statuierte Ausfinanzierungspflicht zu erfüllen und den Differenzbetrag zum Minimaldeckungsgrad zu bezahlen.
Diese Pflicht des Arbeitgebers zur Sanierung einer Vorsorgeeinrichtung, in der es lediglich (noch) ehemalige Arbeitnehmende hat, die eine Rente beziehen, kann als Ausfluss einer weit über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus dauernden kollektiven Treuepflicht angesehen werden, die das Arbeitsvertragsrecht nach Obligationenrecht so nicht kennt. Arbeitgeber müssen sich dieser Sanierungspflicht bewusst sein und im Anschlussvertrag diesbezüglich eine klare Regelung treffen.
1 Urteil des Bundesgerichts vom 16. Mai 2017, 9C_612/2016, E. 4.2. ↵
2 Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (Finanzierung von Vorsorgeeinrichtungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften) vom 19. September 2008, BBl 2008 8411, 8423. ↵
3 BGE 134 I 23, 31 E. 5.3 S. 31. ↵
4 Art. 65d Abs. 2 Satz 2 BVG. ↵
5 Art. 65d Abs. 2 Satz 3 BVG. ↵
6 OAK BV, Weisungen über Massnahmen zur Behebung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 24. Oktober 2017 (W-01/2017), S. 6. ↵
7 OAK BV, Weisungen über Massnahmen zur Behebung von Unterdeckungen in der beruflichen Vorsorge vom 24. Oktober 2017 (W-01/2017), S. 6. ↵
8 Jürg Brühwiler, Die betriebliche Personalvorsorge in der Schweiz, Bern 1989, S. 326. ↵
9 Brühwiler (Fn. 8), S. 326. ↵
10 Hans-Ulrich Stauffer, Berufliche Vorsorge, 3. A., Zürich 2019, Rz. 1801. ↵
11 Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung zum Bundesgesetz über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge vom 19. Dezember 1975, BBl 1976 I, S. 149 ff., 223. ↵
12 Art. 53e Abs. 4 und 5 BVG. ↵
13 Protokoll der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrats [SGK-N], Subkommission BVG, vom 1. Oktober 2001, S. 13 ff., 44 ff., zitiert in BGE 135 V 261, 265 E. 4.3.1 S. 264 f. ↵
14 BGE 135 V 261, 266 E. 4.3.4 S. 266. ↵
15 Siehe auch Stauffer (Fn. 10), N. 1775: «Der Vertrag besteht faktisch in aller Regel so lange, wie der Arbeitgeber Personal beschäftigt, das zu versichern ist». ↵
16 Auch der vom Eidgenössischen Departement des Innern erlassene Bericht des Bundesrates zuhanden der Bundesversammlung über die Zukunft der 2. Säule vom Dezember 2011 geht davon aus, dass bei reinen Rentnerkassen der ehemalige Arbeitgeber nicht zur Leistung von Sanierungsmassnahmen verpflichtet werden kann (Eidgenössisches Departement des Innern, Bericht des Bundesrates zuhanden der Bundesversammlung über die Zukunft der 2. Säule, Dezember 2011, S. 115 f.). ↵
17 Vgl. dazu auch Marc Hürzeler, Art. 65d BVG. Pflicht des Arbeitgebers zur Behebung der Unterdeckung, SZS 2019, S. 215 ff. ↵
Von Fledermäusen und Teufeln
Wie die Angst vor dem Missbrauch das schweizerische Sozialversicherungsrecht veränderte
Michael E. Meier
Inhalt
1 Einleitung
2 Die arbeitgeberähnliche Person in der Arbeitslosenversicherung Wie Selbstständigen, Gesellschaftern und Ehegatten misstraut wird Rechtsmissbräuchliche Umgehung bei der Arbeitslosenentschädigung
3 Kreuzfahrer und Glücksritter in den Ergänzungsleistungen
4 Observationen im Sozialversicherungsrecht Weshalb die IV auf Balkone und in Gärten spähen können muss Missbrauchsbekämpfung als «intérêt public d’une valeur absolue»
5 Arbeitsmüde Gastarbeiter in der Invaliditätsbemessung
6 Fazit
Einleitung
Argwohn, d.h. das Zweifeln an der redlichen Absicht eines anderen, ist ein mächtiger Gedanke. Nach Francis Bacon veranlasst er Könige zur Tyrannei, Ehemänner zur Eifersucht und weise Männer zur Unentschlossenheit und Melancholie.[1]
Als Inspiration für diesen Kurzbeitrag zu Ehren von Thomas Gächters 50. Geburtstages diente seine Habilitation zum Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht.[2] Als eine wesentliche Erkenntnis hält Gächter fest, dass, abgesehen von bestimmten Fallgruppen, kein allgemeiner Grundsatz des Rechtsmissbrauchsverbotes im öffentlichen Recht existiert. Wird bei Diskussionen um Missbrauch dennoch damit argumentiert, verbirgt sich dahinter häufig eine tiefer liegende Werthaltung, die aber durch die Argumentation mit dem Rechtsmissbrauch eher verdeckt als transparent und damit kritisch hinterfragbar gemacht wird.[3] Diese verschleiernde Unschärfe in Denken und Handeln ist auch andernorts anzutreffen, wenn Misstrauen und Verdacht die treibenden Kräfte darstellen, was Bacon treffend formulierte:
«Der Argwohn ist unter den Gedanken, was die Fledermäuse unter den Vögeln sind: sie flattern stets im Dämmerlicht.» [4]
In der seit 2014[5] vergangenen Zeit am Lehrstuhl von Thomas Gächter sind dem Autor diverse Aufsätze und Beiträge zu Rechtsfiguren, Verwaltungs- und Gerichtspraxen sowie Gesetzesreformen aufgefallen, die mehr oder weniger stark von einem diffusen Angstgefühl geprägt sind, dass Leistungen eines Sozialversicherungszweiges durch darin versicherte Personen unredlich ausgenützt und damit missbraucht werden könnten.
Nachfolgend werden ein paar dieser Bereiche näher dargestellt. Damit soll dem Leser einerseits ein kleiner Streifzug durch die erlebten Begegnungen und Projekte des Autors mit Thomas Gächter aus der gemeinsamen Wirkungszeit gezeigt werden. Andererseits soll auch kritisch hinterfragt werden, ob in der Vergangenheit die Schwerpunkte im Sozialversicherungsrecht immer richtig gesetzt wurden oder ob zukünftig manchenorts wieder mehr Scharf- und Weitblick erwünscht wären.
Die arbeitgeberähnliche Person in der Arbeitslosenversicherung
Wie Selbstständigen, Gesellschaftern und Ehegatten misstraut wird
Die Arbeitslosenversicherung (ALV) zeigt von Misstrauen geprägte Regelungen exemplarisch. Seit der Annahme am 13. Juni 1976[6] ist in Art. 114 Abs. 2 lit. c BV vorgesehen, dass sich Selbstständigerwerbende freiwillig in der ALV versichern können, was auf Gesetzesstufe bisher aber nicht umgesetzt wurde. Bereits in der Botschaft von 1980 wurde die «ausserordentlich heikle Materie der freiwilligen Versicherung» und insbesondere das «besonders heikle Problem» mit den Selbständigerwerbenden bis auf Weiteres vertagt.[7] Gut 20 Jahre später befand der Bundesrat, die freiwillige Versicherung für Selbstständigerwerbende sei aufgrund der «versicherungstechnischen Voraussetzungen» (noch) nicht erfüllbar.[8] Eigentlicher Hinderungsgrund war immer die Angst, dass der Selbstständige sich bei schlechtem Geschäftsgang «selber entlassen» könnte, um sich so seines unternehmerischen Risikos mittels mutwillig herbeigeführter Arbeitslosigkeit zu entledigen.[9]
Das Phantom des möglichen Missbrauchs von Arbeitslosentaggeldern verhindert damit seit 45 Jahren die Umsetzung des Verfassungsauftrages in der ALV (stattdessen wird seit 1995 die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit von arbeitslosen Personen sogar aktiv gefördert[10]). Erst die Corona-Pandemie und die damit verbundenen einschneidenden Massnahmen brachten Bundesrat und Gesetzgeber dazu, auch Selbstständigerwerbende vor dem Risiko des unverschuldeten Arbeitsverlustes zu schützen, wobei die Ausfälle nicht ganz systemgerecht über die Erwerbsersatzordnung finanziert werden und aktuell bis zum 30. Juni 2021 befristet sind.[11]
Das Misstrauen des Gesetzgebers geht noch einen Schritt weiter. Das Gesetz sieht für Personen in einer arbeitgeberähnlichen Stellung bei der Kurzarbeitsentschädigung (KAE; Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG), der Schlechtwetterentschädigung (SWE; Art. 42 Abs. 3 AVIG) und der Insolvenzentschädigung (IE; Art. 51 Abs. 2 AVIG) einen Leistungsausschluss vor. Als arbeitgeberähnlich gilt eine versicherte Person, die zwar aufgrund eines Anstellungsverhältnis formal Arbeitnehmer i.S.v. Art. 10 ATSG und bezüglich des aus dem Anstellungsverhältnis fliessenden Entgelts unselbstständig erwerbstätig ist, jedoch aufgrund gesetzlich umschriebener Gründe vom Leistungsbezug ausgeschlossen ist. Dazu gehören die Eigenschaft als Gesellschafter (z.B. Aktionär der AG oder Gesellschafter der GmbH, bei der die versicherte Person angestellt ist), einer finanziellen Beteiligung am anstellenden Betrieb (z.B. in Form eines Darlehens) oder wenn die versicherte Person Mitglied des obersten Entscheidgremiums des Arbeitgeberbetriebes (z.B. VR) ist.[12]
Die Ausschlüsse vom Leistungsanspruch haben ihre Ursache im Bestreben, potentielle Missbräuche zu verhindern, da die umschriebenen Personengruppen mehr oder weniger Einfluss auf die Entscheidung nehmen können, ob Leistungen der ALV beantragt werden.[13] In der Botschaft zum neuen Arbeitslosengesetz von 1980 wurde deshalb ein eigenes Kapitel dem «Problem der Missbräuche» gewidmet.[14]
Das Gesetz dehnt den Ausschluss vom Anspruch auf KAE, SWE und IE auch auf den mitarbeitenden Ehegatten aus, obwohl dieser keinen direkten Einfluss auf den Entscheid zur Anmeldung besagter Leistungen hat. Da der mitarbeitende Ehegatte aber wörtlich mit dem Arbeitgeber «unter einer Decke» steckt, war dem Gesetzgeber das Missbrauchspotential zu gross. Das Bundesgericht hat diesbezüglich sogar – entgegen der bis dahin geltenden Verwaltungspraxis – entschieden, dass der Anspruch des Ehegatten nicht bereits mit der Trennung, sondern erst nach der Scheidung entstehen kann, da bis zum Scheidungsurteil eine Umgehungsgefahr fortbestehe, auch wenn der Scheidungswille bereits unerschütterlich feststeht.[15]
Die dargestellten gesetzgeberischen und höchstrichterlichen Entschlüsse zeigen m.E. deutlich: die Angst vor Missbrauch sitzt tief. Dabei fällt auf, dass die Ausschlüsse für KAE, SE und IE gar keinen konkreten Missbrauch erfordern und der versicherten Person auch kein Exkulpationsbeweis offen steht. Es genügt vielmehr die blosse Gefahr des Missbrauchs, selbst wenn – wie im Falle des getrennt lebenden Ehegatten – eine missbräuchliche Gefälligkeitsanmeldung kaum denkbar erscheint. Im Namen der Missbrauchsbekämpfung werden damit in der ALV bewusst unberechtigte Leistungsverweigerungen in Kauf genommen, was ein Anschauungsbeispiel dafür ist, wie die blosse Angst vor Missbrauch die Anspruchsvoraussetzungen eines Sozialversicherungszweiges nachhaltig zu Lasten der Versicherten verändern kann.
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