Kitabı oku: «Bürgergesellschaft heute», sayfa 7

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6. Zu beherzigende Lehren

Man wird sich der Vorteile einer Bürgergesellschaft nur solange erfreuen, wie wünschenswerte Streitlust oder Radikalität gerade nicht zur Gewaltanwendung führen, wie also dem jeweiligen Streitgegner – und sei er auch ein Radikaler – gerade nicht mit Gewalt begegnet wird. Deshalb sind unbedingt die folgenden Regeln zu akzeptieren und zu befolgen. Erstens: Gewalt, die gegen Gesetze verstößt, ist grundsätzlich abzulehnen, ganz gleich, gegen wen sie sich richtet, und unabhängig von allen Motiven außer Notwehr und Nothilfe. Gegen dennoch ausgeübte Gewalt ist polizeilich vorzugehen. Zweitens: Als Mittel innerstaatlicher Politik ist Gewalt erst recht abzulehnen, und zwar bereits solche Gewalt, die – noch ganz im Rahmen der Gesetze – auf Einschüchterung ausgeht. Auch Sorgen um die Folgen unzulänglicher Politik oder Empörung ob der Arroganz politischer Gegner rechtfertigen niemals Gewalt oder deren Androhung.

Wir tun gut daran, solche Grundsätze für das Funktionieren einer Bürgergesellschaft nicht nur abstrakt aufzustellen, sondern sie auch in ihren konkreten Folgen zu bedenken und ganz praktisch zu beherzigen. Beziehen wir deshalb diese Grundsätze beispielsweise auf die – uns gewiss noch lange begleitenden – Streitfragen der Einwanderungs- und Integrationspolitik, und zwar präzis auf die immer wieder vorkommenden Übergriffe auf Geflüchtete und auf deren Unterkünfte. Zwar ist dieses Beispiel austauschbar, derzeit aber besonders lehrreich. Halten muss man es – bei aller Radikalität im politischen Streit – nämlich so:

Es ist ungerecht, Unzufriedenheit über Mängel von Einwanderungs- oder Integrationspolitik an Bürgerkriegsflüchtlingen oder Asylbewerbern, an im Land lebenden Ausländern oder an fremdartig anmutenden Mitbürgern auszulassen. Deshalb sind Flüchtlings- und Asylbewerberunterkünfte die völlig falsche Stelle für Protestaktionen zur Einwanderungs- und Integrationspolitik. Es ist schäbig, um der öffentlichen Aufmerksamkeit willen derlei Kundgebungen dort zu veranstalten, wo vor allem solche Menschen zur Zielscheibe von Feindseligkeiten werden, die gar nichts für die in einem Land auszufechtenden politischen Konflikte können. Es ist ferner ungerecht, Sorgen und Empörung angesichts der Unzulänglichkeiten oder Fehlerhaftigkeit von Einwanderungs- und Integrationspolitik in Feindseligkeiten gegen überforderte Bürgermeister und Landräte oder gar gegen jene Polizisten umzusetzen, die unter so schwierigen Umständen die öffentliche Ordnung zu wahren sowie die Demonstrationsrechte aller zu sichern haben. Und dass jemand anders aussieht oder anders kulturell geprägt ist als man selbst, rechtfertigt es ohnehin in keiner Weise, ihn herabzusetzen, zu verachten oder gar entsprechend zu behandeln. Wer das tut, sich also rassistisch verhält, hat einen beschädigten moralischen Kompass oder einen schlechten Charakter. Und wen man trotz eigener Dialogbereitschaft nicht für ein humanes Miteinander gewinnen kann, den muss man aus dem akzeptablen politischen Diskurs eben ausgrenzen.

Aufs Knappste verdichtet, heißt das alles: Gerade um des Fortbestehens einer Bürgergesellschaft und ihrer pluralistischen Demokratie willen muss man gewalttätige Radikale sowie alle Extremisten bekämpfen – und kann sich dann gerade dank selbstverständlicher Durchsetzung von Gewaltlosigkeit die für politische Lernfähigkeit so wichtige Radikalität leisten und dadurch die pluralistische Demokratie besonders lernfähig machen. Gewiss ist das eine komplexe Einsicht, eine nicht selten emotional schwerfallende Haltung. Doch ohne die entsprechenden intellektuellen und emotionalen Kosten auf sich zu nehmen, kann man einfach nicht vom großen Wert einer Bürgergesellschaft und ihrer pluralistischen Demokratie profitieren.

Phänomenologie der Bürgergesellschaft

Manfred Prisching

Kurzfassung: Es gibt nicht die Bürgergesellschaft, es gibt nur Bürgergesellschaften – in der Mehrzahl. Es sind zahlreiche, unterschiedliche Phänomene, Entitäten, Gruppen, Institutionen, geistige Haltungen, Aktivitäten, die unter diesem Etikett versammelt werden. Die Heterogenität des Begriffs „Bürgergesellschaft“ erzeugt Schwierigkeiten, weil die institutionelle Verortung mit der normativen Verortung kollidieren kann, die Organisation mit der Geisteshaltung. Eines steht aber fest: Man kann Gemeinsinn nicht durch institutionelle Vorkehrungen sichern, hervorrufen, gewährleisten oder entfalten. Man kann aber durch Gemeinsinn die Institutionen wachsen lassen, die private Aktivitäten erlauben, ermöglichen, fördern und verstärken. Es gibt deshalb keine Bürgergesellschaft ohne Bürger.

Wir wollen die Sache sprachlich-empirisch angehen. Das Vokabular, welches verwendet wird, um über ein Phänomen zu sprechen, das man als Bürgergesellschaft oder Zivilgesellschaft (van den Brink et al. 1995; Jessen et al. 2004) bezeichnet, schließt etwa folgende Begriffe ein: aktive Partizipation, Engagement, Legitimation, gesellschaftliche Ressource, Beteiligungspraxis, Dialog zwischen Verwaltung, Politik und Bürgerschaft, Projekte, Gemeinnützigkeit, Allgemeinwohl, Dritter Sektor, Genossenschaft, Ehrenamt, Verantwortung, Citizenship, Social Responsibility, Vereine und Vereinigungen, Verbände und Stiftungen, Philanthropie, Mäzenatentum, demokratische Öffentlichkeit, Lokalität, Kleinteiligkeit, Basisaktivität, Selbstorganisation, Selbstregulierung, Aktivierung, Protest, Kritik, Demokratie, Öffentlichkeit, Sozialkapital. Damit werden faktische und normative, beschreibende und erwünschte, institutionelle, ideelle und lebenspraktische Phänomene bezeichnet, nicht selten in einem kunterbunten Durcheinander. „Es gibt sozialwissenschaftliche Begriffe“, sagt Jürgen Kocka, „die sich wie Epidemien verbreiten, zu Slogans politischer Rhetorik degenerieren und deren Konjunktur durch Unschärfe erkauft wird.“ (Kocka et al. 2001, S. 4.) Das klingt nicht gut. Aber Kocka fährt fort: „Auf der anderen Seite muß man sich fragen, worin die Attraktivität des Begriffes [Zivilgesellschaft] liegt. Dissidenten in Prag, Warschau und Budapest entdeckten ihn in den 1980er Jahren neu und machten ihn zu einem Mittelstück ihrer Anklage gegen die kommunistische Diktatur. Bereits in den vorangehenden Jahren hatte der Begriff eine gewisse Rolle in der politisch-wissenschaftlichen Diskussion Lateinamerikas und Südafrikas gespielt. Bald benutzten kommunitaristische und liberale Autoren den Begriff auch im Westen, wenn sie sich für die Autonomie kleiner Gruppen oder für ökonomische Deregulierung einsetzten, gegen die angebliche Dominanz des gängelnden Staats. Auf der Linken wurde der Begriff dazu verwendet, das Recht des öffentlichen Raums als eines Mediums demokratischer Selbstverwirklichung zu reklamieren und das Recht der selbstbestimmten Gesellschaft diskutierender, mündiger Bürger gegen die Sachzwänge von Markt- und Staatsapparatur zu betonen.“ (Kocka et al. 2001, S. 4.) Es sind also ganz verschiedene Kontexte (und wohl auch unterschiedliche inhaltliche Akzentuierungen), die mit der Bürger- oder Zivilgesellschaft verbunden werden. Wir sind das Volk. Wir sind Gemeinschaft. Wir sind die Unternehmergesellschaft. Wir sind „die“ Gesellschaft. Wir sind die Kritischen. Wir sind Demokratie. Dabei treten Widersprüche zutage. Der Begriff meint: in Ruhe gelassen werden oder aktiv partizipieren. Er meint Privatheit oder Öffentlichkeit. Er meint freiheitlicher Markt oder Nicht-Markt. Er meint politisches Engagement oder Distanz zum Staat. In einer Formulierung von Hans Joas: „Durch welche gesellschaftlichen Kräfte kann gesichert werden, daß Markt und Staat als die beiden dominierenden Mechanismen moderner Vergesellschaftung durch ein drittes Prinzip relativiert und modifiziert werden, so daß wir nicht vor der Alternative stehen, entweder die Folgen unregulierten Marktgeschehens einfach passiv hinzunehmen oder umgekehrt zu ihrer Bewältigung ausschließlich auf staatliche Interventionen zu setzen mit der Gefahr einer erstickenden Bürokratisierung des gesellschaftlichen Lebens?“1

Meist spricht man von der Bürgergesellschaft oder der Zivilgesellschaft 2 in einem positiven Sinne, man reichert den Begriff (so wie jenen der Demokratie) mit allen „Erwünschtheiten“ an, auch wenn die realen Phänomene, die damit etikettiert werden, höchst unterschiedlich sind. Es gibt einen losen Zusammenhang mit einer Vorstellungswelt, die man als bürgerliche Gesellschaft (mit Mittel- und Großbürgertum, Bildungsbürgertum, bürgerlicher Lebensweise) bezeichnet hat (Riedel 2004); aber da diese Gesellschaft dahingeschwunden ist, hat sich der Gehalt des Begriffs verschoben, auch wenn Spätwirkungen der ehemals wirkenden bürgerlichen Haltung spürbar sind. International gibt es Nuancierungen des Begriffs, historische Verschiebungen ebenfalls. Bestimmte Diskussionskreise – wie die Kommunitarismusdebatte – überlagern sich mit den Begriffen.

Das heißt zunächst einmal: Es gibt keine Bürgergesellschaft– es gibt nur Bürgergesellschaften in der Mehrzahl. Es sind zahlreiche, unterschiedliche Phänomene, Entitäten, Gruppen, Institutionen, geistige Haltungen, Aktivitäten, die unter diesem Etikett versammelt werden. Es wird schwierig sein, die Freiwillige Feuerwehr mit den Hausbesetzern eines autonomen Zentrums gleichzusetzen, Caritas und Volkshilfe mit rechtspopulistischen Gruppierungen, Universitätsprofessoren, die in Hochschulbeiräten sitzen, mit den Mitgliedern dörflicher Gesangsvereine, den weißrussischen Volksaufstand mit AfD-Demonstrationen im Westen. In der Tat, auch Beatrix von Storch beruft sich auf den Begriff – im Juli 2020 bei der Kritik an den Ausschreitungen von Migranten: „Wenn, wie in Frankfurt, an den Wochenenden ‚Betretungsverbote‘ für Plätze und Straßen beschlossen werden, verlieren wir in Deutschland den Kampf um den öffentlichen Raum. Das ist der Anfang vom Ende einer freien Bürgergesellschaft.“3

Wenn man versucht, zumindest die unterschiedlichen Begriffscluster zu sammeln, stellt man fest, dass die Varianten des Begriffs der Bürgergesellschaft immer beides sind: positive inhaltliche Bestimmung und negative Abgrenzung, Kräfte und Gegenkräfte, Position und Antihaltung. Wenn man alle Bestimmungselemente zusammen denkt, dann ergibt sich doch eine, wenn auch diffuse, Kontur einer Bürgergesellschaft in der Einzahl. Wir werfen zunächst noch einen Blick auf die Ambivalenzen des Begriffs und sondieren anschließend die begrifflichen Gehalte.

Ambivalenzen

Die Heterogenität des Begriffs Bürgergesellschaft erzeugt Schwierigkeiten, weil die institutionelle Verortung mit der normativen Verortung kollidieren kann, die Organisation mit der Geisteshaltung. Institutionelle Verortung würde im einfachsten Fall den Dritten Sektor meinen, jenseits von Markt und Staat. Normative Verortung (wenn man will: die „Geisteshaltung“ einer Bürgergesellschaft) ist anspruchsvoller. Aber eine bestimmte „weltanschauliche Substanz“ gehört dazu.

Konkret richtet sich die institutionelle Perspektive beispielsweise auf Vereine, die sich um die Integration von Flüchtlingen bemühen; es gibt aber auch fremdenfeindliche Assoziationen, welche die entgegengesetzten Ziele haben. Es gibt Aufmärsche von Demokratiebewegten und Demokratiefeindlichen. Es gibt Demonstrationen für und wider Präsident Erdoğan. Der aktuelle Fall der Belarus-Konflikte: „Eine Chance für die Zivilgesellschaft.“4 „NGOs und Zivilgesellschaft in Belarus.“5 Die EU richtet einen Fonds ein, „der die weißrussische Zivilgesellschaft unterstützen soll“.6 Wenn man dem institutionellen Begriff folgt, dann zählen aber natürlich auch Moscheevereine, die Fundamentalismus und Hass predigen und Parallelgesellschaften errichten, zum Bereich der Bürgergesellschaft. Das kollidiert mit der positiven Anmutung, die wir mit dem Begriff verbinden. Auch Aufmärsche des Ku-Klux-Klans in den USA und Gruppierungen ähnlicher Gesinnung wollen wir nicht gerne als Bekundungen einer ehrenwerten Zivilgesellschaft verstehen. Wenn wir allerdings derartige unerfreuliche Erscheinungen der spätmodernen Welt aus dem Begriff ausschließen, ist der Begriff selbst nicht mehr als eine Sympathiebekundung. Aktivitäten, denen man sich nahe fühlt, gehörten dazu, jenen Aktivitäten, die man mit Unwillen betrachtet, würde man die Zugehörigkeit verweigern.

Das führt zur Geisteshaltung. Es greift offenbar zu kurz, die Erscheinungsformen der Bürgergesellschaft nur institutionell zu verstehen; vielmehr ist deren institutionelle Zuordnung notwendig mit einer normativen, wertenden, weltanschaulichen Komponente verknüpft. D. h. an einem Beispiel: Zivilgesellschaft ist nicht einfach ein Phänomen des Dritten Sektors (jenseits von Markt und Staat), sondern verbindet sich notwendig mit einer Einstellung, die jeweils Markt und Staat einen gehörigen Platz zuweist, gleichzeitig aber eine besondere Wertschätzung für selbst organisierte Gruppierungen des gesellschaftlichen Lebens jenseits von Markt und Staat aufweist. Die Bürger- oder Zivilgesellschaft wird dann nicht nur als Lückenfüller gesehen, deren Akteure Flüchtlinge betreuen und karitative Angebote sicherstellen, weil – skandalöserweise – der Staat dies nicht in richtiger oder ausreichender Weise tut, wie es eigentlich geboten wäre; es verbindet sich vielmehr eine besondere Wertschätzung mit solchen Aktivitäten. In diesem Falle gehören die normativen Komponenten zum Begriff.

Jürgen Kocka spricht alle genannten Ebenen an, wenn er definiert: „‚Zivilgesellschaft‘ meint […] einen Entwurf menschlichen Zusammenlebens, der in der Aufklärung entstand, seitdem vielfach verändert wurde und sich weiter verändert. In unterschiedlichen Konstellationen, gegen jeweils andere Gegner und von wechselnden Sprechern wurde und wird der Begriff unterschiedlich bestimmt. Erst recht bestand und besteht große historische Variabilität im Grad und in der Art der Realisierung dieses Entwurfs. […] Generell läßt sich sagen: Zu ‚Zivilgesellschaft‘ gehört ein hohes Maß an gesellschaftlicher Selbstorganisation, z. B. in Vereinen, Assoziationen und sozialen Bewegungen, mit entsprechenden Ressourcen wie Kommunikationsfähigkeit, Bildung und Vertrauen. Zu ‚Zivilgesellschaft‘ gehören legitime Vielfalt, der geregelte Konflikt und ein spezifischer Umgang mit der Gewalt: deren Zähmung, Einhegung und Minimierung. Zu ‚Zivilgesellschaft‘ gehört eine Kultur der Zivilität, einschließlich der Hochschätzung für Toleranz, Selbständigkeit und Leistung sowie die Bereitschaft zum individuellen und kollektiven Engagement über rein private Ziele hinaus.“ (Kocka et al. 2001, S. 10.) Wenn wir dieser Begriffsbestimmung folgen, können wir ein „Paket“ formen, welches die allzu beliebige Verwendung der Begriffe Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft einschränkt. Wir werden dem heterogenen Feld dieser Bezugnahmen in sechs Stichworten nachgehen.

1. Der gemäßigte Staat

Die Bürgergesellschaft ist wohlwollend und misstrauisch gegenüber dem Staat. Sie betont das Leben jenseits staatlicher Regulierung und Überwachung. Das zielt auf den Dritten Sektor: Bürgergesellschaft ist ein Gegenbegriff gegen den expansiven, umfassenden, allgegenwärtigen Staat, aber auch gegen die umfassende marktförmige Organisation. Einst war die Gesellschaft (im Vergleich zu Markt und Staat) anteilsmäßig „größer“ (Polanyi 1977) – in der Moderne haben sich Märkte ausgeweitet und der Staat ist zu einer mächtigen Regulierungsinstanz geworden. Nach der Ausdifferenzierung der beiden Formen Markt und Staat bleibt ein Rest – die private Gesellschaft, die sich begrifflich schwer fassen lässt; das selbstständige, alltägliche Leben der Menschen. Es ist aber nicht die „private Privatheit“, die Routine in der eigenen Küche, nicht die Biederkeit oder Biedermeierhaftigkeit allein gemeint: Bürgergesellschaft setzt die Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit voraus, und zu ihrem begrifflichen Gehalt gehört der Blick auf die „öffentliche Privatheit“. Es ist nicht bürgergesellschaftlich, wenn man eine Krimiserie im Fernsehen schaut oder die Bäume in seinem Garten schneidet, wohl aber, wenn man sich für öffentliche Angelegenheiten interessiert, sich in den Pfarrgemeinderat wählen lässt oder für bessere Umweltpolitik demonstriert.

Die Spätmoderne ist (mit dem Blick auf die westlichen, insbesondere europäischen Staaten) eine reiche, ja luxuriöse Gesellschaft, und zu der gebotenen Bequemlichkeit für die Einwohner eines solchen Gebildes hat nicht nur die Dynamik einer industriellen Entfaltung beigetragen, sondern auch die konstruktive Leistung moderner Staatsgebilde. Die staatlichen Apparate haben beeindruckende Leistungen vollbracht, insbesondere wenn man die europäischen Errungenschaften sozialmarktwirtschaftlicher Systeme betrachtet, auch im Vergleich zu wohlhabenden Ländern wie den Vereinigten Staaten. Ihre bewiesene Leistungsfähigkeit hat dazu geführt, dass ihnen nicht nur immer mehr Leistungen angesonnen wurden, sondern dass ihre Leistungsfähigkeit zunehmend überschätzt wird. Es verbreitete sich die Mentalität: Wenn es ein Problem gibt, gibt es eine administrativ-politische Lösung. Probleme beliebiger Art rufen unter diesen Bedingungen nicht das Engagement der Bürgerinnen und Bürger wach, führen also nicht zum aktivierenden Ärmelaufkrempeln, sondern lassen nach der zuständigen Behörde und ihren Formularen fragen. Der Staat ist Problemlösungsinstanz, das Publikum kann sich zurücklehnen. Auch wenn die staatliche Leistungsfähigkeit nicht infrage gestellt werden soll, verbindet sich doch der Glaube an die Bürgergesellschaft mit der Idee, dass zunächst einmal die Individuen als zuständig erachtet werden, ihre Probleme zu lösen, besonders dann, wenn es sich um Bagatellprobleme handelt.

Die Haltung einer Zuweisung sämtlicher Probleme an die „Serviceeinrichtung“ Staat führt auf Dauer zur individuellen Entmündigung. Das hat schon Tocqueville in einer berühmten Passage beschrieben, daran hat sich nichts geändert. Man muss dies nicht dramatisierend als Heraufdämmern einer Diktatur betrachten, es geht vielmehr um die Einschätzung abnehmender Verpflichtungsgefühle und abnehmender Selbstwirksamkeit durch die Wählerschaft. Es entgleitet das Gefühl, für irgendetwas zuständig oder verantwortlich zu sein. Es ist der staatliche Paternalismus, der – mangels begrenzender Kriterien – zu einer Allzuständigkeit des Staates führt (Hennis et al. 1977). Es gibt manche Auffassungen, die dies als programmatische Forderung beinhalten, weil sie alle Probleme durch staatliche Intervention beseitigt wissen wollen. Auf Dauer führt jedoch die Unterstellung von Allzuständigkeit und Allfähigkeit des Staates zu einer missmutigen Perspektive. Denn falls es bei der staatlichen Problembeseitigung Probleme gibt, können es in Anbetracht der Überschätzung der Politik nur Bösewichte oder Dummköpfe sein, die eine gute Lösung verhindern.

„Die Bürgergesellschaft liefert das Lebenselixier der Freiheit; ihr schöpferisches Chaos von Assoziationen gibt Menschen die Chance, ihr Leben zu leben, ohne beim Staat oder anderen Mächten betteln gehen zu müssen. Der Begriff, der all dies vielleicht am besten zusammenfaßt, ist […]: citizenship, der Status der Bürgerschaft.“ (Dahrendorf 1992b, S. 559.) Bürgerschaft heißt Selbstständigkeit, Verantwortung und Teilnahme. Manche Probleme können der Bürgergesellschaft zur Lösung überantwortet werden, ohne dass unbedingt staatliche Instanzen beschäftigt werden. Denn die Allzuständigkeit des Staates ist nicht kostenlos zu haben. Deshalb steigt die Steuerlast, und da auf diesem Wege allemal zu wenig Geld in die staatlichen Kassen gespült wird, steigt auch die Verschuldung der Staaten. Eine hohe Verschuldung wiederum mindert ihre Krisenresistenz. Es ist keineswegs nur Ineffizienz, die in manchen Ländern den Staat die Hälfte der Wertschöpfung absaugen lässt, es ist auch sein undefinierter und sich ausweitender Zuständigkeitsbereich. Das Paradigma der Bürgergesellschaft würde mit der Zuweisung von Aufgaben und Aktivitäten an den Dritten Sektor eine geringere Notwendigkeit einhergehen sehen, steigende Teile des gesellschaftlichen Einkommens dem Staat zu überantworten. Die Überantwortung wesentlicher Ressourcen an den Staat, der sodann eine Neuverteilung vornimmt, ist mit dem Schlagwort von der Taschengeldgesellschaft angesprochen worden.

Die Bürgergesellschaft ruft die Erinnerung daran wach, dass es im Grunde das Publikum einer liberal-demokratischen Ordnung ist, welches sein eigenes Leben gestalten kann; dass es Eigeninitiative gibt, die nicht einer dadurch wachgerufenen Lethargie zu weichen hat; dass staatliche Systeme in der Tat ziemlich leistungsfähig sind; dass es zunächst einmal das Selbstvertrauen des Einzelnen ist, an welches appelliert werden kann, und nicht nur das Vertrauen auf Sicherungssysteme, die das Leben des Einzelnen lauschig, bequem, risikolos und langweilig machen. Allerdings war seinerzeit die bürgerliche Gesellschaft die Trägerin der Bürgergesellschaft, und in Anbetracht der Auflösung dieses Erfahrungsraums meinen manche radikal: „Die Bürgergesellschaft ist am Ende.“7 Ein paar neue Variationen gibt es auch noch, etwa die Spezies „Wutbürger“ (Hessel 2011): Mittelklassemenschen, die auch einmal saftig mitmachen wollen in der Politikerbeschimpfung, oder ältere Intellektuelle, die ihren Frust, nicht mehr mitmachen zu können, verbal verdichten. Sie sind allesamt als bloßes Ressentiment-Phänomen wenig hilfreich zur Förderung einer demokratischen Ordnung.

Die „Bürgergesellschaft“ ist somit ein Abgrenzungs- und Verortungsbegriff. Es geht um Gebilde der gesellschaftlichen, „privaten“ Sphäre, die man in Stellung bringt gegen Einrichtungen des Staates oder Institutionen des Marktes. Bürgergesellschaft ist das Dritte: Nicht-Staat und Nicht-Markt. Bürgergesellschaft ist nicht die staatliche Polizei, wohl aber das weitgehend ehrenamtlich arbeitende Kriseninterventionsteam. Bürgergesellschaft ist nicht das staatliche Krankenhaus, wohl aber das Rote Kreuz. Bürgergesellschaft schließt wohltätige Stiftungen und interessenbezogene Arbeitervereine ein, ein privates Stipendienprojekt für bedürftige Studenten, Burschenschaften und Sportvereine, Bürgerinitiativen, Freimaurer, Öko-Gruppen und Frauenprojekte. In einer Beschreibung der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung heißt es: „Zivilgesellschaft ist die Welt der privaten Initiativen, der Vereine, der Kollegen, Freunde und Nachbarn. Sie gilt als der ‚dritte Sektor‘ neben der Wirtschaft und der Politik.“8 Da gibt es ein Kellertheater, welches auf eigenen (finanziellen) Beinen steht; eine Erwachsenenbildungseinrichtung, die jenes Bildungswissen vermittelt, von dem sich Universitäten verabschiedet haben; eine Ausspeisung für Bedürftige, wie sie von staatlichen Instanzen nicht bereitgestellt wird; eine Selbsthilfegruppe, die eine Plattform dafür bietet, dass Personen einander mit tröstlicher Wirkung über ihre eigenen Erfahrungen berichten können.

Manchmal werden allerdings Forderungen (an die politischen Instanzen) laut, die Zweifel daran wachrufen, dass Institutionen, die sich als zivilgesellschaftliche darstellen, tatsächlich jene Staatsferne leben wollen, die soeben geschildert wurde. Die „Stiftung Bildung“ in Deutschland beispielsweise verlangt auf ihrer Homepage ein „Ministerium für Zivilgesellschaft“ und einen Hauptausschuss im Bundestag, entsprechende Betreuungsstellen in den Kommunen, einen gesetzlichen Anspruch auf Engagementfreistellung sowie eine bezahlte Engagementzeit, eine staatliche Kernfinanzierung für alle zivilgesellschaftlichen Organisationen und eine öffentliche Bereitstellung von innerstädtischen Räumen für die Zivilgesellschaft.9 Das freilich ist eine Geisteshaltung, die sich vom Staat alles erwartet. Aber eine verstaatlichte Zivilgesellschaft ist keine Zivilgesellschaft.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
512 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783950493924
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