Kitabı oku: «Bürgergesellschaft heute», sayfa 6

Yazı tipi:

3. Unabdingbare Regeln einer Bürgergesellschaft

Wie hält man also eine Gesellschaft und ihren Staat dahingehend lernfähig, dass man sich auf neue Herausforderungen im Inneren oder von außen einzustellen vermag und auf diese Weise Mal um Mal das Gemeinwohl verwirklichen kann? Die bestmögliche Antwort scheint zu sein: Solange kein Notstand droht, der unverzügliches Handeln gebietet, muss man unvermachtete Diskurse über – echte oder eingebildete – Probleme herbeiführen, ergebnisoffene Debatten über Verursachungszusammenhänge von Problemen organisieren, gesellschaftlichen Streit über Problemlösungsmöglichkeiten zulassen. Erst am Ende all dessen sollten Entscheidungen darüber stehen, was nun zu unternehmen wäre. Diese wiederum gestaltet man am besten als Mehrheitsentscheidungen aus, weil genau auf diese Weise Druck auf eine möglichst breite Meinungs- und Interessenberücksichtigung entsteht. Natürlich gehört zum so begründeten Mehrheitsprinzip immer auch der Schutz von Minderheiten. Und getragen werden muss dieser Politikansatz von einer Grundhaltung dahingehend, dass man sich stets neu aufs Lernen einzulassen hat.

Der Name eines nach solchen Regeln arbeitenden politischen Systems ist pluralistische Demokratie. Zu deren Kennzeichen gehören: die bereitwillige Hinnahme, möglichst sogar Wertschätzung, von Verschiedenheit – und zwar nicht nur der Hautfarbe, sondern auch politischer Meinungen; die Selbstverständlichkeit des Rechtes eines jeden, seine Interessen eigenständig und eigenverantwortlich zu definieren – und zwar gerade solche Interessen, die man selbst ablehnt; die Legitimität von Streit – und zwar auch dann, wenn man das Risiko trägt, im Streit zu unterliegen. Wichtig für pluralistische Demokratie ist ferner, dass der Bereich dessen, worüber gestritten werden darf, ohne als Streitpartei ins Risiko sozialer Ächtung zu geraten, sehr groß gehalten wird. Hingegen muss der Bereich dessen, was dem Streit entzogen ist, so klein wie möglich ausfallen. Tatsächlich kennzeichnen sich diktatorische Regime und ihre Untertanengesellschaften gerade durch die Minimierung des Bereichs des Strittigen und durch die große Ausweitung des Bereichs dessen, worüber eben nicht gestritten werden darf. Das reicht dann von der führenden Rolle einer Partei bis hin zur unmittelbaren Prägung der Politik durch Gottes Gesetz.

Der Name für den streitfrei gestellten Bereich einer pluralistischen Demokratie ist „Minimalkonsens“. Der besteht aus drei Teilkonsensen. Da ist der Wertekonsens. Zu ihm gehört vor allem Konsens darüber, dass jeder die gleichen Menschenrechte besitzt, darunter insbesondere das Recht darauf, von anderen verschieden zu sein: nach dem Aussehen, der sexuellen Orientierung, der Religion, der politischen Einstellung etc. Da ist der Verfahrenskonsens. Er umschließt Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. Die Gewaltfreiheit ist dabei besonders wichtig. Gewalt – und im Vorgriff auf ihre Anwendung: die Einschüchterung durch Gewaltandrohung – verringert nämlich die Vielfalt dessen, was aus freien Stücken an Sichtweisen und Interessen in den Streit eingebracht wird. Eben das aber reduziert die Chancen, im Streit und durch den Streit zu lernen, was einer pluralistischen Demokratie ihren zentralen Vorteil entzieht. Und schließlich ist da der Ordnungskonsens, beispielsweise Konsens darüber, dass auf der Straße demonstriert, dann aber in den Parlamenten oder durch Gerichte entschieden wird. Ein Staatswesen gerade so auszugestalten, dass über so viel wie möglich gestritten werden kann und dadurch die Lernfähigkeit von Politik und Gesellschaft optimiert wird, ist das „wirkungsmächtige Geheimnis“ pluralistischer Demokratie und der große Vorteil einer funktionierenden Bürgergesellschaft.

Ein weiterer, sehr besonderer Wert dieser Art von Gesellschaft besteht darin, dass sie Kritik an den herrschenden bzw. bestehenden Verhältnissen ermöglicht und gerade nicht die Affirmation des Bestehenden verlangt, also dessen Rechtfertigung, Unterstützung oder Verteidigung. Vielmehr gehört zur pluralistischen Demokratie – außerhalb des minimalen Werte-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses – eine allzeit kritische Grundhaltung der Bürgerschaft gegenüber sämtlichen Ansprüchen, jemand habe recht, oder etwas sei richtig, weil man es „immer schon“ so gehalten habe. Allerdings meint „Kritik“ viel mehr als bloß gefühlsgeleitetes Schimpfen. Zu ihr gehört nämlich auch der Aufweis von Beurteilungsmaßstäben mitsamt deren vernunftgeleiteter Begründung, und desgleichen die mit Anspruch auf logische Richtigkeit geleistete Beurteilung des Bestehenden anhand jener Maßstäbe. Anders formuliert: Pluralistische Demokratie wird durch rationale Kritik gestärkt, nicht durch eine gefühlsbetonende Verteidigung bestehender Zustände.

Diese Spielregeln pluralistischer Demokratie beruhen auf Erfahrungen aus Versuch und Irrtum bei der Ausgestaltung politischer Systeme und der sie tragenden Gesellschaften. Letztlich bauen sie der politischen Praxis den „Algorithmus der Evolution“ ein. Der aber ist nach allem, was wir über die Evolution komplexer Systeme wissen, und zwar von der Biologie über die Kultur bis hinein in die Welt von Institutionen, die wirklich bestmögliche Weise, für die Lernfähigkeit und für eine leistungsfähige Verkopplung von Systemen mit ihrer Umwelt zu sorgen. Der Vierschritt dieses Evolutionsalgorithmus umfasst Variation, Selektion, Retention sowie differenzielle Reproduktion und sieht in Gesellschaft bzw. Politik so aus: Es entsteht die für eine Lösung neuer Probleme erforderliche Variation von Sichtweisen, Prioritäten, Lösungsvorschlägen und Handlungsselbstverständlichkeiten durch das praktisch genutzte Recht auf Verschiedenheit sowie durch eine angstfreie Artikulation von Meinungen bzw. Interessen in ununterbrochen ablaufenden streitigen Diskursen. Sodann kommt es zur internen Selektion aus der so angebotenen Vielfalt, d. h. dazu, dass beiseite geschoben wird, was nicht zum bestehenden System pluralistischer Demokratie, nicht zu dessen bewährten Funktionsroutinen oder nicht in die aktuellen Diskursgefüge passt. Eine solche interne Selektion geschieht in vernünftiger Weise allein entlang eines Minimalkonsenses über Menschenrechte, Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip, Minderheitenschutz und bewährte Ordnungsstrukturen. Es folgt die externe Selektion dergestalt, dass sich nicht all jene politischen Maßnahmen in der politischen Praxis bewähren, auf die man sich – mit oder ohne Mehrheitsentscheidung – im pluralistischen Diskurs verständigt hat. Tatsächlich führt gerade in der Politik, die ja meist ein Handeln unter den Bedingungen von Ungewissheit ist, der zu beschreitende Weg so gut wie nie am Lernen aus allenfalls „gut gemeinten“ Versuchen, aus unvermeidlichen Irrtümern und aus Politikkorrekturen vorbei. Retention meint sodann die Beibehaltung dessen, was sich – einstweilen und oft auch nur „bis auf Weiteres“ – bewährt hat. Dieses kann später zum Teil jener internen Selektionsfaktoren werden, die vorfiltern, was überhaupt in der Praxis versucht wird.

Im Umgang mit den internen Selektionsfaktoren spielen sich meist zwei politische Grundhaltungen ein. Konservative versuchen, sich vom bereits Bewährten leiten zu lassen, und Progressiven liegt daran, zumal unter neuen Bedingungen, Neues auszuprobieren. Es ist wirklich beides erforderlich, wenn politische Strukturen nachhaltig stabil sein und sich bei Veränderung der sie umbettenden Zusammenhänge aufrechterhalten lassen sollen. Misslingt Letzteres, so droht das Abgleiten in fragile Staatlichkeit, im schlimmsten Fall in den Zustand von Bürgerkrieg und Anomie. Gelingt es aber, grundsätzlich Bewährtes durch Reformen aufrechtzuerhalten, so können sich solche Strukturen auch weiter ausbreiten, können also – beispielsweise – Institutionen wie Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und periodische Wahlen ihre autoritären Alternativen in immer mehr Ländern ablösen. Eben das ist mit „differenzieller Reproduktion“ als abschließendem Schritt im Evolutionsalgorithmus gemeint. Offenkundig liegt eben solche differenzielle Reproduktion jener weltweiten Ausbreitung demokratischer Systemelemente zugrunde, die sich während mehrerer „Demokratisierungswellen“ vollzogen hat.

Weil sich die Umstände politischen Handelns also immer wieder ändern und es Mal um Mal die Bewältigung neuer Herausforderungen braucht, muss man vernünftigerweise danach trachten, gerade im Staat und in der ihn tragenden Bürgergesellschaft diesen „Algorithmus der Evolution“ nicht lahmzulegen. Eben das geschieht allerdings, wenn man bestehende Selbstverständlichkeiten oder Strukturen – durch subtile Androhung von Gewalt oder durch grobschlächtige Anwendung von Gewalt gegen solche Leute – zu schützen versucht, die das Bestehende hinterfragen oder auf Veränderungen ausgehen. Solche Beeinträchtigung der Grundlagen einer Bürgergesellschaft und ihres Staates beginnt deshalb bereits mit der Vermeidung, Unterbindung oder Austrocknung streitiger Diskurse. Leider wird solcher Denk- und Strukturkonservatismus allzu oft zur unwiderstehlichen politischen Versuchung derer, welche einstweilen die politisch-kulturelle Hegemonie ausüben, von den herrschenden Zuständen profitieren, mit ihnen deshalb zufrieden sind und sich – trotz neuer Herausforderungen – zum Bestehenden rein affirmativ verhalten, also: nicht kritisch-rational, wie es einer Nutzbarmachung des Evolutionsalgorithmus entspräche.

4. Radikalismus als hinzunehmendes Ferment, Extremismus als zu beseitigendes Gift

Radikal ist, wer einer Sache auf den tiefsten Grund geht, ein Argument bis ins Absurde entwickelt, eine These bis ins Überspitzte vorantreibt, eine Position auch ohne Augenmaß vertritt. Radikalismus verstört deshalb Gemäßigte und Konservative gleichermaßen, und das kann sogar gut und wünschenswert sein. Gerade Radikalismus bringt nämlich Diskurse oder Politikprojekte vorwärts und drängt auf jene Innovationen, die Gemäßigte und Konservative so gern vermeiden. Damit Radikalismus aber nicht ein diskursoffenes System gefährdet, ist zweierlei notwendig. Erstens braucht es Spielregeln, die radikales Argumentieren an den Imperativ der Logik, radikales Agieren an die Leine der Gewaltlosigkeit und radikale Politik an die Kette der Rechtsstaatlichkeit legen. Zweitens ist jedem Radikalismus seine Gegenkraft, jeder These ihre Antithese zu wünschen. Genau dann kann nämlich die auf Versuch und Irrtum gegründete Dialektik des Fortschritts am besten wirken.

Wenn das alles gegeben ist, mag sich Radikalität – ihrerseits gleichsam das Risikospiel einer offenen Gesellschaft – fruchtbar als Ferment gesellschaftlichen Wandels entfalten. Ihre Formen sind beispielsweise Links- oder Rechtsradikalismus, religiöser oder antireligiöser Radikalismus, auch ein Radikalismus der Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit. Fehlt es aber entweder an wirkungsvollen Spielregeln im radikalen Diskurs oder an Gegenkräften zu radikalen Positionen, zu denen ganz wesentlich der Konservatismus gehört, so kann Radikalität für eine offene Gesellschaft auch zur Gefahr werden. Die dürfte dann nämlich auseinanderdriften, sich polarisieren, sich bis zum Bürgerkrieg zerstreiten. Eine stabile Ordnung aber, zumal mit argumentationsstarken Konservativen, kann Radikalität nicht nur ertragen, sondern wird von ihr auch profitieren. Knapp formuliert: Radikalität stört zwar viele, kann aber Gutes bewirken; und Radikalismus mag zwar auch rücksichtslos dumm sein, ist aber von seiner Grundhaltung her nicht verwerflich.

Ganz anders verhält es sich mit dem Extremismus. Extremist ist, wer – aus welchen Gründen und wo auch immer – auf die Beseitigung einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung hinarbeitet. Diese ist, so die berühmte Formulierung des deutschen Bundesverfassungsgerichts von 1952, eine Ordnung, „die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition“. Wer diese Ordnung beseitigen will, ist – um der Menschenwürde und um der Freiheit willen – seinerseits zu bekämpfen, und zwar nicht nur bis hin zum Verbot seiner politischen Organisationen oder bis zur Verwirkung seiner Grundrechte, sondern nötigenfalls auch darüber hinaus, nämlich gar mit Waffengewalt, wie es der Art. 20 (4) des deutschen Grundgesetzes ausdrücklich zulässt. Wer hingegen nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen will, sondern bloß einzelne der Vorschriften oder Institutionen eines freiheitlichen und demokratischen Staates abschaffen will, der ist einfach ein Andersdenkender und allenfalls ein Radikaler, der sich verrannt hat. Einem solchen darf man nur mit den normalen Mitteln friedlicher politischer Auseinandersetzung kommen. Diesbezüglich stellte das Bundesverfassungsgericht 1956 in seinem Urteil zum Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands sogar ausdrücklich fest: Eine Partei, und erst recht eine politische Position, „ist nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie einzelne Bestimmungen, ja ganze Institutionen des Grundgesetzes ablehnt. Sie muss vielmehr die obersten Werte der Verfassungsordnung verwerfen, die elementaren Verfassungsgrundsätze, die die Verfassungsordnung zu einer freiheitlichen demokratischen machen, Grundsätze, über die sich mindestens alle Parteien einig sein müssen, wenn dieser Typus der Demokratie überhaupt sinnvoll funktionieren soll. […] [Eine Partei oder politische Position ist] auch nicht schon dann verfassungswidrig, wenn sie diese obersten Prinzipien einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht anerkennt, sie ablehnt, ihnen andere entgegensetzt. Es muss vielmehr eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der bestehenden Ordnung hinzukommen; sie muss planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, im weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das bedeutet, dass der freiheitlich-demokratische Staat gegen Parteien mit einer ihm feindlichen Zielrichtung nicht von sich aus vorgeht; er verhält sich vielmehr defensiv, er wehrt lediglich Angriffe auf seine Grundordnung ab. Schon diese gesetzliche Konstruktion des Tatbestandes schließt einen Missbrauch der Bestimmung im Dienste eifernder Verfolgung unbequemer Oppositionsparteien aus“.

Es ist ganz gleichgültig für die Feststellung eines an den oben genannten Kriterien zu bemessenden Extremismus, aus welchen Gründen oder mit welcher politischen Zielrichtung eine Person oder eine Personengruppe die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft. Es dient allerdings der wünschenswerten Information über diese Gründe, wenn man – beispielsweise – vom „Rechtsextremismus“ bzw. „Linksextremismus“, vom „islamistischen Extremismus“ oder von einem „Extremismus der Mitte“ spricht. Nie aber ersetzt die Verwendung eines solchen Begriffs die Überprüfung, ob die als Extremisten Bezeichneten wirklich die – an klaren Kriterien erkenntliche – freiheitliche demokratische Grundordnung angreifen und beseitigen wollen. Für die Einschätzung des ethischen und politischen Unwerts solcher Gegnerschaft ist es im Übrigen ganz unerheblich, woher die Beweggründe für Extremismus kommen: ob aus der Mitte der Gesellschaft, ob aus der Oberschicht oder Unterschicht, ob vom linken, vom rechten oder von einem sonstigen Rand des politischen Spektrums. Denn Extremismus greift immer alles das an, was eine pluralistische Demokratie möglich und als Ausgestaltung politischer Ordnung so vorteilhaft macht.

5. Aktuelle, für Bürgergesellschaften gefährliche Trends

Derzeit ist es leider keine Selbstverständlichkeit mehr, dass wir offenen politischen Streit nicht nur rechtlich zulassen, sondern obendrein gewährleisten, dass jeder seine Meinung in jeder Situation auch frei von Angst oder von auf Gewaltandrohung beruhenden Diskursstörungen vertreten kann. Es gibt nämlich wieder – wie schon so oft in der Geschichte – ziemlich strikte Gebote und Verbote politischen Denkens und Sprechens. Sie werden durch Tabubildung, Selbst- oder Fremdzensur sowie die Ausgrenzung und soziale Ächtung von Abweichlern gesichert. Entlang so durchgesetzter Kriterien politischer Korrektheit finden sich dann auch immer wieder Ansatzpunkte für politische Gewaltanwendung. Deren Formen beginnen unscheinbar, erreichen aber bald schon schlimme Eskalationsstufen. Die schrecken umso mehr, als sich politische Gewalt oft aus fraglos guten Absichten motiviert.

Es ist ein Ausgangspunkt vieler Erscheinungsformen freiheitsgefährdender Gewalt, dass man auf politische Positionen, die man nicht mag, mit einer Art „politischer Spinnenfurcht“ reagiert. Angeekelt und – echt oder scheinbar – angstgetrieben wird dann mit Worten, mit Trillerpfeifen oder mit anderen Mitteln gegen den Störenfried vorgegangen, obwohl dieser meist nur lästig ist, nicht aber wirklich gefährlich. Motiviert werden viele zu solchem Verhalten, wenn sie meinen, eine geschichtlich bekannte schlimme Lage zöge neu herauf, weshalb man sich engagiert ans „Wehret den Anfängen“ machen müsse. Wann immer ein Andersdenkender in einen auch noch so vagen Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus gebracht werden kann, entfaltet sich diese Reaktion besonders leicht. Dann entscheidet man sich meist nicht mehr für Kommunikation, sondern für Ausgrenzungspraktiken, die ihrerseits manche subtilen, manche sehr groben Techniken der Gewaltanwendung nutzen.

Es beginnen die für eine Ausgrenzung von Andersdenkenden verwendeten Verfahren mit dem eigenen Verzicht darauf, sein persönliches Denken infrage zu stellen und jene Zusammenhänge überhaupt nachvollziehen zu wollen, die dem Andersdenkenden wichtig sind. Weiter geht man mit solcher Ausgrenzung, wenn es als Zeichen besonderer Sachkompetenz gilt, alles das „wegerklären“ zu können, was dem Auszugrenzenden für seine politischen Positionen überhaupt Anlass gibt. Dann kann man sich etwa über „offensichtlich unbegründete“ Ängste lustig machen oder diese als „bloß vorgeschoben“ ausgeben – und die „eigentlichen Gründe“ in zweckgerecht düsteren Farben ausmalen. Noch mehr ist erreicht, wenn dem Gegner wichtige Begriffe weggenommen sind, oder wenn zumindest deren öffentlicher Gebrauch durch eine passende Ziehung von „Grenzen des Sagbaren“ unterbunden oder leicht skandalisierbar geworden ist. Dann nämlich lassen sich jene Unterscheidungen und Bewertungen, auf die es dem Andersdenkenden ankommt, nur noch gegen unmittelbar erhobenen Widerspruch vortragen – und setzt den Gegner allein schon seine Wortwahl ins Unrecht.

Die nächste Stufe des Ausgrenzens ist erreicht, wenn man seinem Gegner Etiketten anheften kann, von denen „ein jeder weiß“, dass sie jemanden wirklich als einen „schlechten Menschen“ ausweisen. Am besten beginnt man mit dessen Einschätzung als „notorischer Querulant“ oder als „Ewiggestriger“. In Deutschland macht es sich bei einer solchen „strategischen Kontextbildung“ besonders gut, wenn man jemanden als „Rechtspopulist“, als „Faschist“ oder – neuerdings populär – als „Rassist“ ausgeben kann. Und falls am Auszugrenzenden allzu wenig direkt erkennbar Übles auffällt, hilft meist die Rede vom „Extremismus der Mitte“, den der Auszugrenzende verkörpere. Außerdem ist es auf dem Weg zu nachhaltiger Ausgrenzung besonders nützlich, wenn man den Auszugrenzenden als die personifizierte Erscheinungsform eines für die Allgemeinheit gefährlichen Typus hinstellen kann. Dann nämlich richtet sich das Ausgrenzungsverlangen nicht mehr gegen einen – unter anderen Umständen vielleicht sogar sympathischen – Mitmenschen oder sein konkretes Tun, sondern schlechterdings gegen das Böse sowie gegen dessen Verkörperung im Feind. Das erlaubt dann auch Ansprüche auf eigene moralische Überlegenheit, die sich für alle praktischen Zwecke nicht mehr entkräften lassen.

Wer aber einmal Schellen trägt wie die, ein „Latenznazi“ oder ein „Populist“ zu sein, der kann anschließend mit großer Plausibilität um seine öffentlichen Auftritte gebracht werden. Einem Rechtsradikalen oder Rassisten darf man „keine Bühne bieten“; also gehört er nicht mehr als gleichberechtigter Gesprächspartner in Talkshows – und natürlich auch nicht mehr auf Diskussionspodien oder an Rednerpulte. Perfekt wird das Ergebnis solchen Vorgehens, wenn sich der Auszugrenzende alsbald nicht nur Blößen gibt, die derlei Ausgrenzung nacheilend rechtfertigen, sondern wenn er auf solchen Ausgrenzungsdruck gar noch dahingehend reagiert, dass er seine Außenseiterrolle eben annimmt und sich voller Trotz selbst immer mehr ins Unrecht setzt.

Das Ausgrenzen kann aber noch weiter gehen. Anzustreben ist es, den Abweichler vor einen „virtuellen Gerichtshof“ zu bringen – etwa: ihn in einer Talkshow „fertigzumachen“ und den entsprechenden Videoclip dann ins Internet zu stellen. Vielleicht kann man dem Auszugrenzenden auch ein staatsanwaltliches Ermittlungsverfahren anhängen; es wird schon etwas hängen bleiben. Das Ziel ist erreicht, wenn der Auszugrenzende als „nicht mehr ernst zu nehmen“ gilt, wenn er nicht mehr als ein „redlicher Fachmann“, ja vielleicht nicht einmal mehr als ein „akzeptabler Mitbürger“ angesehen wird. Und zum erwünschten Abschluss gelangt das Ausgrenzen, wenn der Gegner sich aus der Öffentlichkeit zurückzieht, in einer Diktatur vielleicht eingesperrt oder exiliert, in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, womöglich auch umgebracht wird.

Alle diese Ausgrenzungsschritte lassen sich aufs Beste mit Häme gegenüber „den Bösen“ und mit sich selbst feiernden symbolischen Aktionen „der Anständigen“ abrunden. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn sich zur Häme nicht nur ernst zu nehmende Drohungen gesellen, sondern wenn diese auch exemplarisch ins Werk gesetzt werden: von der Verhinderung öffentlicher Reden bis hin zur Umwidmung von Torten zu anklägerischen Wurfgeschoßen, von diskursverhindernden Sprechchören übers Steinewerfen bei Demonstrationen bis hin zu Anschlägen auf Büros, Fahrzeuge und Menschen. Zur wechselseitigen Praxis geworden, beschädigt das alles eine bislang bestehende Bürgergesellschaft von innen heraus und untergräbt die Grundlagen ihrer pluralistischen Demokratie.

₺691,52

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
512 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783950493924
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi: