Kitabı oku: «Bürgergesellschaft heute», sayfa 8
2. Freiheitsräume
Der Begriff der Bürgergesellschaft soll jene Freiheiten ansprechen und sicherstellen, die ein Kontroll- und Überwachungsstaat (in guter oder böser Absicht) unterhöhlt oder eliminiert. Den neuen Technologien muss schon deshalb ein Blick gelten, weil in neueren Betrachtungen die Zivil- oder Bürgergesellschaft gerade mit den sozialen Plattformen und anderen elektronischen Fazilitäten in Verbindung gebracht wird. Das Netz ist der Organisationsträger für einen weiten Bereich von zivilgesellschaftlichen Aktivitäten.
Eine Beinahe-Allzuständigkeit des Staates erfordert, gerade in einer komplexen Gesellschaft, umfassende Informationen, umfassende Regelungssysteme und umfassende Kontrollen. Die digitale Epoche stellt das technologische Instrumentarium dafür bereit, staatliche Kontrollen auszuweiten. Dies geschieht nicht unter der Perspektive der Herrschaft, sondern der Obsorge; nicht unter der Perspektive der Informationssammlung für den staatlichen Überall-Interventionismus, sondern unter jener der Hilfestellung für Bürgerinnen und Bürger; nicht unter der Perspektive der Repression, sondern unter jener der Gefahrenbeseitigung. Auch dabei sind es positive Kategorien, die zur Ausweitung staatlicher Aktivitäten Hilfestellung leisten und Legitimierung bieten: Effizienzsteigerung, Serviceleistung, Zielgenauigkeit. Selbst Putin will nur „Terroristen bekämpfen“. Und Xi Jinping will Uiguren „erziehen“. Jede Kamera dient zur Kriminalitätsbekämpfung und jede elektronische Gesundheitsakte dient zur besseren Diagnose (was ja auch wieder nicht unrichtig ist).
Man muss viel über die Menschen wissen, auch über die Individuen, um ihnen die geeignete Hilfe leisten zu können. Man muss sich, mithilfe der technischen Apparaturen, in sie einfühlen können, um ihnen zu Diensten zu sein. (Marketingexperten haben das immer schon gewusst. Aber „Einfühlung“ ist in einer pluralisierten Welt voraussetzungsreich und informationshaltig.) Es sind in dieser Sicht die technisch-staatlichen Kontrollsysteme, welche die wahre Empathie repräsentieren, weit mehr als Mitmenschen, und dazu muss man dem Staat Vertrauen entgegenbringen. Eine solche Perspektive greift freilich tief in das Alltagsverhalten, ja in die Körperlichkeit der Menschen ein. Ein Beispiel: Wenn es mit Kameras, Gesichtserkennung und Gefühlsanalyse möglich ist, für jeden Lehrer und jede Lehrerin eine tägliche Bilanz zu erstellen, in der analysiert wird, inwieweit er/sie es geschafft hat, eine möglichst hohe Zahl von Schülerinnen und Schülern in Aufmerksamkeit zu halten, und nachgewiesen wird, wie viele Minuten im Laufe des Vormittags wie viele Schüler weggedacht haben oder gelangweilt waren, dann ist die Überwachung so weit vorgedrungen, dass man sie auch aus dem eigenen Denken nicht mehr verbannen kann (Mau 2017). Denn in jeder einzelnen Minute des eigenen Verhaltens ist gegenwärtig, dass es Beobachtungen, Aufzeichnungen und Beurteilungen gibt. „Privates“ Verhalten wird genau vermessen, und somit ist es kein „privates“ Verhalten mehr. Man steht immer auf der „Bühne“. Man muss jedes Augenzwinkern reflektieren. Das klingt nicht mehr sonderlich nach Freiheit.
Die permanente Dokumentation bleibt nicht ohne Folgen. Dass die klassischen Vorwürfe über die Allmacht eines Kontrollstaates auch politische Verhaltensweisen, Initiativen und Bewegungen betreffen, muss nicht weiter erörtert werden. Ein solches Wissen in der Hand politischer Instanzen mag weitgehend harmlos sein in mitteleuropäischen Gefilden, auch wenn man selbst am Beispiel der Vereinigten Staaten sehen kann, dass Demokratien auch in einen Zustand „kippen“ können, den man nur noch mit interpretatorischer Mühe als den einer „wohlgestalteten Demokratie“ bezeichnen kann. Das Wissen über das Publikum ist weit weniger harmlos in der Türkei oder in Weißrussland. Die Bürgergesellschaft ist demgegenüber einem liberalen Denken verpflichtet, welches gute Begründungen dafür benötigt, dass der Staat in das private Leben der Menschen eingreift. Es ist eine Idee, welche weite Teile der Gesellschaft als Territorium versteht, das nicht unter der Verfügung der Politik und der Bürokratie steht.
Die umfassende Information über individuelle Verhaltensweisen wird in westlich-demokratischen Gesellschaften vorderhand vor allem als Ressource für Marketingzwecke eingesetzt. Man muss nicht jeden Vorschlag, den der Einzelne als Konsument schätzen lernt, als tückische Manipulation betrachten – weil doch tatsächlich ein intelligentes Marketing, welches seine Adressaten (in Gruppen oder bis zum Individuum) kennt, Angebote aufzeigt, die den Präferenzen der Konsumentinnen und Konsumenten entsprechen. Diese Informationen mögen auf harmlose Weise gewonnen werden: „Menschen, die X gekauft haben, haben sich auch für Y interessiert“; sie mögen jedoch auch auf individuellen Profileinstellungen aufgrund bisheriger Aktivitäten beruhen; oder sie mögen gezielte Aktionen darstellen, die auf der umfassenden individuellen Verfolgung von Internetaktivitäten beruhen. Jeder weiß, was Google und Amazon treiben, und dennoch werden sie von den meisten Menschen benutzt, weil sie nützlich und bequem sind – damit ist deren implizite Entscheidung gefallen, dass die Vorteile die Nachteile überwiegen. Unbehagen bleibt.
Die Bertelsmann Stiftung verkündet in einer umfassenden Studie: „Um den digitalen Wandel erfolgreich zu meistern, brauchen wir eine starke und engagierte Zivilgesellschaft.“10 Das wird wohl richtig sein, ist aber sehr allgemein formuliert. Zunehmend sind es mehr Informationen, die gesammelt werden; aber das vergleichsweise harmlose Unbehagen, welches bei Marketingaktivitäten entsteht, kann jederzeit unter politisch-autoritären Verhältnissen für ganz andere Zwecke gebraucht werden. Jede Art von Meinungsäußerung kann in entsprechenden Situationen als Beleidigung des Staatspräsidenten, Verhöhnung der Nation, Blasphemie, Vorbereitung terroristischer Aktivitäten oder Zugehörigkeit zu einer kriminellen Vereinigung aufgefasst und für Straftatbestände brauchbar gemacht werden. Es gibt Staaten dieser Erde, in denen eine von der offiziellen Regierungsmeinung abweichende Einschätzung als strafrechtlich relevante Äußerung gewertet werden kann. (Das sind elegantere Strategien als Nowitschok.) Das Internet ist nicht nur, wie man naiverweise zu Beginn angenommen hat, ein Instrumentarium der Bürgergesellschaft, brauchbar für die Organisation von antiautoritären Protesten und basisdemokratischen Versammlungen, sondern auch ein brauchbares Instrument für das Gegenteil, für die Kontrolle und Unterdrückung der Wählerschaft und der Bürgergesellschaft. Amerikanische Arbeitgeber dürfen verlangen, dass der Bewerber Zugang zu seinen vertraulichen Profilen im Internet gewährt11 – da spürt man wohl schon eine Schmerzgrenze bei der Entprivatisierung des Privaten.
Im Verlauf der Corona-Entwicklung hat sich auch das dynamisch-destruktive Potenzial der elektronischen Vernetzungsmöglichkeiten gezeigt. Lange Listen von Verschwörungstheorien lassen sich daraus entnehmen, teilweise betrügerische, teilweise gefährliche Ratschläge, Angebote, Interpretationen (Hepfer 2015; Meyer 2018). Es sind die Felder, auf denen sich auch Maskengegner und andere asoziale Akteure zusammenfinden, und jene Bubbles, in denen einander Impfgegner und andere in diesen oder jenen Verrücktheiten bestärken. Längst sind auch die Begriffe von Bürgergesellschaft und Zivilgesellschaft in den Sprachgebrauch aller möglichen Spezialinteressen übergegangen. Auch wenn es sich bloß um ein paar Tausend skurrile Gestalten handelt, die ihre Wahrnehmungen von Engeln oder Aliens, von Soros oder Gates unter die Leute bringen wollen, so wird doch das Argument gängig, dass sie als Repräsentanten der Zivilgesellschaft sprechen. Es ist nicht sicher, ob die liberale Demokratie das Internet überlebt oder von ihm ausgehöhlt und letztlich zerstört wird.
3. Der gemäßigte Markt
Der Dritte Sektor der Bürgergesellschaft ist nicht nur ein Freiraum, der sich vom Staat absetzt, sondern auch ein Gegenmodell zum Markt. Bürgergesellschaft meint nicht den vulgärliberalen Staat. Die Bürgergesellschaft umschließt den weiten und variantenreichen Bereich freiwilliger, unbezahlter, nicht-professioneller gemeinnütziger Arbeit: Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe, Nachbarschaftshilfe. Viele dieser Aktivitäten gehören dem karitativen Bereich an, andere stellen sich als Engagement für die Benachteiligten, Diskriminierten oder Sprachlosen dar, dritte wieder sind Freizeitspaß. Bürgergesellschaft heißt in diesem Sinne gemeinwohlorientierte Selbstorganisationskompetenz, aber auch öffentlicher Diskurs – in Absetzung von simpler Wahlbürgerschaft und konsumistischer Entertainment-Orientierung. Eine besondere Variante ist der klassische Begriff des Ehrenamtes: Es ist das freiwillige, formalisierte, verbindliche und andauernde Engagement durch die Übernahme eines Amtes, normalerweise ohne Entgelt; das weitverbreitete Engagement in Verbänden, Vereinen, Gremien, Stiftungen und dergleichen; die (im Wesentlichen unbezahlte) Arbeit in Beiräten und Expertengremien oder in Religionsgemeinschaften.
Der Begriff „Bürgergesellschaft“ ruft Initiativen auf den Plan, die nicht dem generellen Trend zur Marktförmigkeit folgen. Märkte und marktförmige Verhältnisse sind effiziente Mechanismen zur Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen und zum Interessenausgleich zwischen Menschen. Die Sachverhalte, die marktförmig geregelt werden, beruhen auf kulturellen Entwicklungen und Entscheidungen. Extremliberale Vorstellungen imaginieren ein Optimum der Gesellschaft in einer Situation, in der möglichst viele, ja praktisch alle Leistungen zwischen Menschen auf marktförmige Weise abgewickelt werden. Die Diskussion hat sich allerdings meist zwischen Markt und Staat abgespielt, nicht zwischen Markt und Zivilbereich, und in den letzten Jahrzehnten sind allerlei staatliche Einrichtungen privatisiert worden. In der Tat muss es nicht Aufgabe des Staates sein, eine (defizitäre) Tourismusagentur zu betreiben oder Gärtner im Beamtenstatus zu beschäftigen. Leistungen kann man zukaufen, das erweist sich meist als besser und billiger. Auch über eine verstaatlichte Industrie (Zugriff des Staates auf die wesentlichen Ressourcen Kohle und Eisen, nicht zuletzt aus militärischen Gründen) ist die Zeit hinweggegangen. So weit kann man den liberalen Argumenten folgen. Dass man Monopole privatisieren sollte (wie eine städtische Wasserversorgung), haben allerdings selbst enthusiastische Markttheoretiker nie vorgeschlagen. Manchmal ist eine extremliberale Weltauffassung allerdings so weit gegangen, dass kaum noch staatliche Funktionen als sinnvoll angesehen wurden – schließlich könnte man auch Schulen und Hochschulen als marktfähige Einrichtungen organisieren, Theater und Museen, kommunale Versorgungseinrichtungen, Einrichtungen des Gesundheitssektors usw. In Europa wurden solche Ideen meist nicht als ernsthafte Vorschläge diskutiert; dass sie oft keine Leistungsverbesserung bringen, aber mit vielen Schwierigkeiten konfrontiert sind, zeigen die Vereinigten Staaten in einigen ihrer Subsysteme, beispielsweise im Gesundheitsbereich oder im Bildungsbereich.
Es gibt nicht nur die wohlbekannten Fälle des Marktversagens, die auch von prononcierten Verfechtern der Marktkonstellationen analysiert worden sind, sondern auch zahlreiche Fälle, die über die Märkte (aus institutionellen, psychologischen oder moralischen Gründen) nicht abgewickelt werden können. Man braucht Charakteristika, Einrichtungen und (vor allem) Haltungen der Bürgergesellschaft. Ärzte, die ein marktförmiges Optimum anstreben, würden nicht nur Interessen ihrer Patienten verletzen, sondern auch das Gesundheitssystem zum Kollaps bringen. Lehrerinnen und Lehrer, die (in marktrationaler Kalkulation) ihre Aktivität auf das unbedingt nötige Minimum beschränken, entsprechen nicht unserer Vorstellung. Märkte sind im Allgemeinen keine moralischen Veranstaltungen, aber sehr effizient – und um ein Smartphone zu kaufen, braucht man nur jene moralischen Elemente, die den Markt als solchen konstituieren, aber keine darüber hinausgehende Empathie (und Information). In anderen Bereichen wollen wir auf das Moralische nicht gänzlich verzichten.
Die westlichen liberal-demokratischen Systeme sind kein selbstverständliches Entwicklungsbiotop für aktive Menschen, es gibt immer bürgergesellschaftliche Mindsets und antibürgergesellschaftliche Mindsets. Die Spätmoderne ist zu einem großen Teil eine Entertainment-Gesellschaft. Weite Teile des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Getriebes dienen nicht dem Broterwerb, zahlreiche Branchen gehören (in einem weiteren oder einem engeren Sinn) dem Unterhaltungssektor an, der in den letzten hundert Jahren enorm ausgeweitet worden ist. Es geht dabei um Beherbergungsbetriebe und Gastronomie, um (aktiven und passiven) Sport, um weite Teile des Kultursektors, um einen Teil des Bildungsangebotes, um Events, um das Nachtleben (Prisching 2009). So sind etwa die Sportvereine fast ausschließlich dem Dritten Sektor zuzurechnen. Der Deutsche Olympische Sportbund hat ein Grundsatzpapier veröffentlicht unter dem Titel: „Sportvereine – Bildungsakteure der Zivilgesellschaft“.12 Man kann allerdings beispielsweise bei Fußballvereinen den Eindruck gewinnen, dass es sich zunehmend um marktförmige Einrichtungen handelt. (Wenn es sich nur um das Pläsier eines reichen Mäzens handelt, ist dieses allerdings wieder dem bürgergesellschaftlichen Bereich zuzurechnen.) Die „Wirtschaftswoche“ verkündet: „Fußball-Vereine sind heute Konzerne.“13 Auch die Formel 1 würde wohl kaum jemand als bürgergesellschaftliche Initiative darstellen wollen.
4. Liberale Obsorge
Die Bürgergesellschaft hält die europäischen Sozialsysteme für eine großartige Erfindung, aber distanziert sich von paternalistischer Rundumobsorge. Der Gegenbegriff wäre die Wohlfahrtsdiktatur. Der Wohlfahrtsstaat ist eine der großen sozialen Erfindungen der europäischen Kultur; er schafft eine Balance zwischen Dynamik und Leistungsbereitschaft im Rahmen einer Industriegesellschaft und den Wünschen nach Menschenwürde und Gerechtigkeit in einer Wirtschaftsordnung, die ein gutes und gelingendes Leben sichern soll (Prisching 1996). Darüber herrscht Einigkeit; die politische Uneinigkeit beginnt beim Ausmaß kollektiver Daseinsvorsorge. Lehrreich ist im Vergleich immer die amerikanische Mentalität, die in einem hohen Maße eine allgemeine Krankenversicherung als Unfreiheit, ja als Kommunismus, nicht (wie im europäischen Sinne) als Sicherung der Freiheit des individuellen Lebens versteht.
Beim Problem des Sozialstaates setzen auch jene Verdächtigungen an, die den Begriff der Bürgergesellschaft nur als Dekoration für eine heimliche Entstaatlichung unter dem Diktum der Freiheitssicherung verstehen: Abbau des Wohlfahrtsstaates, Beschneidung von Arbeitnehmerrechten, Reduzierung staatlicher Transfers. Man könnte staatliche Programme beschneiden, indem man sie der privaten Obsorge überantwortet, auch dem Markt. Es ist die einfache Gleichsetzung: weniger Staat = mehr Bürgergesellschaft oder weniger Staat = mehr Markt. Tatsächlich gibt es einige Fälle, in denen so argumentiert worden ist, um neue Marktfelder zu erschließen. Zugleich aber ist das Anwachsen der Bürgergesellschaft keine automatische Reaktion auf den Rückzug des Staates, vielmehr kann auch schlichte Verwahrlosung oder Verelendung das Ergebnis sein.
Die Bürgergesellschaft hält (jenseits der kollektiven Sicherungssysteme) Spielräume frei, die nicht notwendig dem Staat überlassen werden müssen. In Österreich sind es nicht nur etwa die großen Organisationen von Caritas und Volkshilfe, es ist vielmehr ein großer Teil des sozial tätigen Sektors in Form von (mehr oder minder institutionalisierten) Privatinitiativen organisiert – auch wenn die Finanzierung in einem hohen Maße aus den öffentlichen Töpfen erfolgt. In der Flüchtlingskrise 2015 sind zivilgesellschaftliche Initiativen gelobt worden (von den Menschen, die Immigranten auf den Bahnhöfen willkommen geheißen, bis zu jenen, die ihnen vorläufige Unterkunft geboten haben). „Vom Flüchtling zum Mitbürger: Welchen Beitrag kann die Zivilgesellschaft in Zukunft leisten?“14 „Facettenreich: Zur Rolle zivilgesellschaftlichen Engagements in der Migrationsgesellschaft“15.
Individuelle Solidarität steht in der Spätmoderne ohnehin unter Druck. Da ein großer Teil der Solidarität kollektiven Sicherungssystemen überantwortet wurde, lässt die Verfügbarkeit der kollektiven Systeme die individuelle Aktivitätsbereitschaft erlahmen. Noch mehr: Letztere kommt gar nicht mehr in den Blick. Die Idee einer individuellen Solidaritätsübung wird verdrängt, wenn doch immer zuständige Bürokratien im Hintergrund stehen. Solidarität wird Staatsaufgabe: Der Staat muss Geld bereitstellen, der Staat muss Kunst bezahlen, der Staat muss Risiken finanziell kompensieren, der Staat ist die universelle Sicherungsinstitution für die Beseitigung aller Lebensrisiken und Schäden. Selbst wenn eine kleine Bank Konkurs anmeldet, entsteht Verwunderung, dass nicht alle individuellen Verluste durch den Staat abgedeckt werden.
Es gibt keine universelle Regel, um das Problem zu lösen, wie individuelle Freiheit gegen Betreuung abgewogen wird. Die Idee der Zivilgesellschaft ist eng mit jenen Freiräumen verknüpft, die dem Einzelnen Entscheidungen überlassen – auch wenn diese Entscheidungen dumm sein mögen.16 Dennoch ist die Bürgergesellschaft nicht einfach mit der Unangetastetheit des eigenen Wohnzimmers oder mit freundlichen Beziehungen zur Nachbarschaft gleichzusetzen. Denn auch für Post-Corona-Überlegungen wird auf die Terminologie von der Bürgergesellschaft zurückgegriffen, und zwar im Sinne einer Community-Orientierung: „Als Bürgergesellschaft sind wir auf neue Bescheidenheit und den persönlich engsten Raum beschränkt worden mit der Erfahrung, wie wichtig Familie, Nachbarschaft, Freunde und sozialer Zusammenhalt sind – gerade bei körperlicher Distanz.“17 Da steht Bürgergesellschaft offenbar nur noch für das „private Privatleben“. Der Begriff wäre jedoch überflüssig, wenn er nur noch den alltäglichen Lebensbereich charakterisierte.
5. Antibürokratie
Die Bürgergesellschaft anerkennt die Leistungsfähigkeit moderner Staaten, kultiviert zugleich aber ein Misstrauen gegen Regulierungswut. Staatliche Bürokratien haben sich (seit der Aufklärungszeit, vor allem aber in der Moderne) als enorm leistungsfähige Maschinerien erwiesen. Die Allzuständigkeit des Staates und seine expansiven Kompetenzen wurden nicht zuletzt deshalb vorangetrieben, weil die Staatsapparate bei bestimmten Problemen ihre Effizienz und Vorteilhaftigkeit unter Beweis gestellt haben – also hat man ihnen zugemutet und zugetraut, weitere Aufgaben zu übernehmen. Diese bereits erwähnten historisch-empirischen Befunde kontrastieren mit einer schlechten Nachrede: Bürokratie wird in den Kontext von Formalismus, Langsamkeit, Ineffizienz und Willkür gestellt. Die Asymmetrie zwischen Leistung und Einschätzung beruht darauf, dass sich jeder, der mit Bürokratie in Berührung kommt, für die eigene Sache den formalistischen Kram ersparen möchte, während er zur gleichen Zeit darauf bedacht ist, dass bei den Ansuchen anderer Personen eine genaue administrative Überprüfung stattfindet, um nicht Steuergeld zu verschwenden.
Die Bürgergesellschaft hat ein besseres Image. Sie wird als effizienter eingeschätzt, als flexibler und unbürokratischer. Sie scheint dem Menschen näher zu sein, fähig dazu, das Individuum in einer jeweils besonderen Lage wahrzunehmen, während die Bürokratie nach formalen Kriterien amtiert und deshalb dem Einzelfall nicht Rechnung tragen kann. Die Bürgergesellschaft wird deshalb als Sphäre der menschlichen Wärme, Sorge und Nähe, als Ort des Mitgefühls betrachtet, während ihr die kalten und anonymen Apparate der Bürokratie gegenüberstehen. Das ist natürlich ungerecht gegenüber den staatlichen Apparaturen, in deren Aktenförmigkeit gerade einer ihrer Vorzüge gesehen werden kann. Gerade individuell unterschiedliche Entscheidungen würden Ungerechtigkeitsgefühle wachrufen. Wenn umgekehrt manche Vereine anwachsen, müssen sie auch standardisierte, „anonyme“ Kriterien für ihren Betrieb entwickeln. Automobilklubs wie ÖAMTC oder ARBÖ sind keine heimeligen Veranstaltungen, anders als der dörfliche Gesangsverein. Die Stiftung Aktive Bürgerschaft berichtet: „Bis zu zwei Drittel ihrer Engagementzeit geht für die Bürokratie drauf, sagen Vorstände und Geschäftsführer von Bürgerstiftungen.“18
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