Kitabı oku: «Christlich-soziale Signaturen», sayfa 5
Schlussbemerkung
Am 24. März 1980, wenige Minuten vor seiner Ermordung, zitierte Oscar Romero in seiner letzten Predigt in der Kapelle des Karmeliter-Krankenhauses in San Salvador eine Passage aus der Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums, Gaudium et spes, den Paragraphen 39. Eine Kernstelle lautet: „Zwar werden wir gemahnt, daß es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch ins Verderben bringt […] dennoch darf die Erwartung der neuen Erde die Sorge für die Gestaltung dieser Erde nicht abschwächen, auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrißhafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann, sondern muß sie im Gegenteil ermutigen.“
Diese Passage bekommt eine besondere Tiefe durch den Umstand, dass sie von Romero mit der posthum erwachsenden Autorität des letzten Zitats angeführt worden ist. Die Verbindung mit Romero gibt dem Wort Gewicht, denn Romero hat mit seinem Leben (und seinem Sterben) bezeugt, was es heißt, den Blick auf die neue Erde und den neuen Himmel mit dem unermüdlichen Einsatz für eine gerechte(re) Welt zu verbinden.
Christlich zu leben bedeutet, den Geist der Gleichgültigkeit überwunden zu haben. Christsein ist Abkehr von Indifferenz. Und damit auch das Gegenteil einer Abkehr von Schöpfung und Welt.
Literatur
Bieri, Peter: Eine Art zu leben, München 2011.
Brooks, David: The Second Mountain, New York 2019.
Vanier, Jean: Eruption to Hope, Toronto 1967.
Williams, Rowan: On Being Creatures, in: Williams, Rowan: On Christian Theology, Oxford 2000.
Waldron, Jeremy: What Can Christian Teaching Add to the Debate about Torture?, in: Theology Today 63 (2006), S. 330–343.
1Die Rede findet sich in: J. Vanier: Eruption to Hope, Toronto 1967; siehe auch J. Vanier: In Weakness, Strength: The Spiritual Sources of Georges P. Vanier, Toronto 1969.
2R. Williams: On Being Creatures, in: ders.: On Christian Theology, Oxford 2000.
3D. Brooks: The Second Mountain, New York 2019, xv.
4J. Waldron: The Image of God: Rights, Reason, and Order, in: J. Witte, Jr. / F. Alexander (Hg.): Christianity and Human Rights: An Introduction, Cambridge 2010, 216–235.
5Vgl. P. Bieri: Eine Art zu leben, München 2011.
6J. Waldron: What Can Christian Teaching Add to the Debate about Torture?, in: Theology Today 63 (2006), 330–343.
7Ebd. 337–340.
8Ebd. 336, FN 14.
9Dieser Punkt kann gerade bei der Frage nach globaler Migration eine Rolle spielen – vgl. A. Rowland: On the Temptations of Sovereignty: The Task of Catholic Social Teaching and the Challenge of UK Asylum Seeking, Political Theology 12,6 (2011) 843–869; christliche Politik darf es sich mit nationaler Rationalität nicht zu einfach machen – das Prinzip der Würde der menschlichen Person hat den Primat vor nationalen Interessen; das ist auch in der Tradition der katholischen Soziallehre ausgedrückt, siehe Pacem in Terris 105, Caritas in Veritate 62.
Eigenverantwortung in christlich-sozialer Perspektive
Manfred Prisching
Eigenverantwortung ist ein Orientierungsbegriff: Man möge die Initiative, die Autonomie, die Leistungsfähigkeit und die Verantwortlichkeit der Menschen nicht unterschätzen. Es geht um das richtige Maß zwischen den beiden Polen: einerseits der mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, schwache, hilfsbedürftige, manchmal auch dumme Mensch. Eigenverantwortung setzt Freiheit voraus, dabei respektiert sie den Menschen und seine Leistungen. Eigenverantwortung bedeutet weder radikalen Etatismus oder Paternalismus noch radikalen Neoliberalismus, sie forciert nicht Egoismus, prämiert aber auch nicht die billige (und manchmal gar nicht naive) Opferrolle. Sie anerkennt die Notwendigkeit solidarischer und staatlicher Unterstützung. Wie bei den meisten Beschreibungen eines guten und gelingenden Lebens geht es um das richtige Maß.
Wenn über moralisch-politische Sachverhalte gesprochen wird, pflegt es vor Leerformeln (Salamun 1975, 32 ff.) zu wimmeln. „Soziale Gerechtigkeit“ (Kirchschläger 2013) ist beispielsweise eine großartige, moralisch und politisch vielfach brauchbare Forderung, wenn sich jeder darunter etwas anderes vorstellen kann. De facto ist damit meist mehr (materielle) „Gleichheit“ (Kersting 2002) gemeint, politikpraktisch mündet die Forderung darin, dass „ich“ oder meine Klienten von „anderen“ im Dienste der Gerechtigkeitsverwirklichung Geld bekommen sollen. Auch Abwandlungen bieten wenig Hilfe: „Bedürfnisgerechtigkeit“ und „Befähigungsgerechtigkeit“ (Hecker 2013) versuchen, Maßstäbe einzuführen, aber die unterschiedliche Perspektive verlagert sich bloß. Man kann beliebige Bedürfnisse als legitim deklarieren oder sich unter „angemessenen Befähigungen“ Beliebiges vorstellen.1 „Soziale Gerechtigkeit“ kann deshalb heißen: Mindestsicherung senken (im Vergleich mit arbeitenden Menschen) oder erhöhen (mit Blick auf deren Bedürfnisse); Pensionen garantieren (man muss die Lebensleistung honorieren) oder einbremsen (man muss auch den nächsten Generationen etwas übrig lassen); Zölle einführen (um durch Schließung heimische Arbeitsplätze zu sichern) oder abschaffen (um durch Effizienzsteigerung und Wachstum heimische Arbeitsplätze zu sichern).
Grundsätzlich ist ähnliche Unbestimmtheit auch beim Begriffscluster Eigenverantwortung, Verantwortung, Selbstverantwortung, Verantwortlichkeit festzustellen; zumal im Kontext einer christlichen Soziallehre auch noch Begriffe wie Personalität, Subsidiarität und Solidarität für das Begriffsfeld eine Rolle spielen,2 die gleichfalls ein Problem benennen, aber allein als Vokabel wenig Hilfe für die Lösung dieses Problems bieten. Immerhin kann man Eigenverantwortung in der christlichen Sozialethik (Wilhelms 2010) als eine Art Orientierungsbegriff verstehen, in dem Sinne, dass persönliche Verantwortung zumindest als Desiderat benannt wird; oder umgekehrt: dass man auf Distanz geht zu einer Situation, in der den Individuen jede Verantwortung für ihr eigenes Handeln und Leben oder für das gemeinschaftliche Schicksal abgenommen wird. Es ist die Perspektivierung eines Problemfeldes, der Begriff schlägt eine Art von Prüfverfahren vor: Man möge, worum immer es sich im Konkreten handelt, die persönliche Initiative und Leistungsfähigkeit von Menschen nicht unterschätzen. Es ist ein semantischer Hinweis zur Aufmerksamkeitslenkung: Im Bedarfsfall sei zu prüfen, was man von Individuen erwarten darf, was ihnen zur freien Entscheidung überlassen oder zugestanden wird – oder wo man regulierend oder helfend eingreifen muss. Eigenverantwortung heißt nicht: die Menschen allein lassen, gottvertrauend oder sozialdarwinistisch. Aber Eigenverantwortung gibt den Hinweis: Man möge nicht von vornherein beim Auftreten eines beliebigen Problems vorschreiben, entlasten, Menschen entmündigen, Paternalismus üben. In dieser Spannung steht der Begriff: einerseits der autonome, mündige, starke, reflexions- und handlungsfähige Mensch, andererseits der überlastete, bedrängte, verunsicherte, schwache, auf andere angewiesene, manchmal auch dumme Mensch.3
Die Wirklichkeit spielt sich normalerweise dazwischen ab. Manchmal sind die Individuen stark und erfolgreich; aber dann haben sie Schicksalsschläge zu erleiden und sind in konkreten Situationen auf Beistand angewiesen. (Wir vertrauen auf Leistungsstärke, aber bei Krankheit oder Arbeitslosigkeit braucht man Hilfe.) In Abstufungen ist jeder betroffen; selbst wenn man auf dem Lebensweg gut unterwegs ist, schätzt man die Krankenversicherung, die Straßenbahn und die polizeilich erzeugte Sicherheit. Jedenfalls ist dies in Europa der Fall, nicht unbedingt in den USA – es gibt Differenzierungen in der „westlichen Wertegemeinschaft“. Im Falle der genannten Beispiele: In den (in vieler Hinsicht im Vergleich zu Europa „christlicheren“) USA hält man nicht viel von einer gemeinsamen Krankenversicherung, ebenso wenig schätzt man ein öffentliches Verkehrssystem, und schließlich beruht auch die öffentliche Sicherheit vermeintlich darauf, dass man hinreichendes Schießwerkzeug im Hause hat. „Amerikanische Eigenverantwortung“ bedeutet deshalb: private und deshalb für viele unbezahlbare Krankenversicherung, das eigene Auto anstelle eines öffentlichen Verkehrssystems und den Colt bei der Hand haben. Die „europäische Eigenverantwortung“ würde man anders verstehen.
Grundsätzlich setzt Eigenverantwortung ein bestimmtes Modell des Menschen voraus: Sie verweist auf die Fähigkeit, die Bereitschaft und die Pflicht der einzelnen Menschen, für das eigene Handeln und Unterlassen Verantwortung zu übernehmen; sich also Aktivitäten und Ergebnisse zuschreiben zu lassen und für sie einzustehen; die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen. Es ist ein aktives Menschenbild: der Mensch als Tätiger, nicht nur als Erleidender; als Gestalter der Welt, nicht nur als Hineingeworfener; als aktives Mitglied einer Gesellschaft, auch im Sinne demokratisch-liberaler Teilnahme, nicht nur als Mitläufer, Unterworfener, Untertan, „Patient“, „Stimmvieh“.
Eigenverantwortung setzt wohlverstandene Freiheit voraus
Eigenverantwortung setzt Handeln (im eigentlichen Sinn des Wortes) voraus, also Ausübung des Willens im Tun, Fällen einer Entscheidung, Choice. Wenn es nichts zu entscheiden gibt, ist der Begriff nicht anwendbar. Mit christlich-sozialer Ironie formuliert: Die Eigenverantwortung beginnt im Paradies, mit der Unbotmäßigkeit von Adam und Eva, die sich im Verstoß gegen das Verbot ihres Schöpfers die Fähigkeit aneigneten, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (Palmer 2014). Was in diesem Falle ganz individualistisch formuliert wird, verweist in einem gesellschaftlichen Ambiente auf kollektive Rahmenbedingungen: Es bedarf einer gesellschaftlichen Ordnung, die den individuellen Akteuren jene Freiheitsräume eröffnet, in denen Eigenverantwortung sinnvoll ausgeübt werden kann. (Wer nichts entscheiden kann, dem wird man sein Handeln nicht zurechnen können; man wird die Menschen Nordkoreas nicht unter dem Aspekt der von ihnen nicht geübten Eigenverantwortung kritisieren, ihnen also individuelles Versagen vorwerfen wollen.) Eigenverantwortung setzt, kurz gesagt, Freiheit voraus. In Fremdbestimmtheit gibt es nichts zu verantworten. Es sind somit von Anfang an die beiden Elemente im Spiel. Einerseits das Menschenbild, das heißt, der individuelle Akteur, der fähig und bereit sein soll, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen; andererseits das Gesellschaftsbild, das heißt, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die ihm diese Entscheidungsfreiheit ermöglichen.
(1): Auf der Seite des individuellen Akteurs sind es bestimmte Voraussetzungen von Kompetenz, Disposition, Habitus. Die angemessene Nutzung von Freiheit braucht Freiheitsfähigkeit. Im Zuge der Reflexionen über das Menschliche ist immer auch von der Schwäche dieses Wesens die Rede, zwischen Hinfälligkeit und Bequemlichkeit, Disziplinlosigkeit und Dummheit. Es ist nun einmal, mit Immanuel Kant gesprochen, aus krummem Holze gemacht. Menschen müssen durch Institutionen und Kontrollen daran gehindert werden, die anderen zu schädigen, zu berauben, zu vergewaltigen, zu töten, zu demütigen – anthropologisch kann man dem ständigen Kampf gegen das Böse nicht entrinnen. Es ist eine Frage, wie und wie weit das (durch rechtliche Vorgaben oder durch soziale Kontrollen) geschehen kann. Von Thomas Hobbes bis Arnold Gehlen (Gehlen 2004) sind sich Sozialwissenschaftler über den historisch-anthropologisch gut belegten Befund einig, vielleicht mit der Ausnahme Rousseaus: Der böse Anteil kann durch Optimierung der Lebensverhältnisse zurückgedrängt werden.
Heikler ist die Frage, in welchem Maße Menschen durch Institutionen oder Sanktionen daran gehindert werden sollen, sich selbst zu schädigen – dort ist man rasch beim Problem der Bevormundung beziehungsweise der Verweigerung von Selbstverantwortung. Geht es den Staat etwas an, wenn ein reflektierender Akteur Selbsttötung begehen will? 4 Muss man das Rauchen verbieten – unter welchen Umständen? Wie „locker“ geht man mit Drogen und Alkohol um? Gurtanlegepflicht? In solchen Fällen, gerade wenn es nur um den Schutz des Akteurs vor sich selbst geht, pflegen die Gegner entsprechender Maßnahmen auf die Eigenverantwortung in einer freien Gesellschaft zu verweisen; und die Befürworter von Eingriffen weisen auf den Befund hin, dass die Menschen sich halt einfach nicht vernünftig verhalten. Allenfalls wird auch noch auf die für andere entstehenden Kosten der Sozialversicherung verwiesen, sodass man sich um die Bevormundungsentscheidung herumdrücken kann.
(2): Auf der institutionellen Seite kann man die historischen Leistungen Europas im Institution-Building hervorheben. Europa rühmt sich – nicht zu Unrecht – seiner Freiheiten, die Ergebnis eines langwierigen (und oft gewalttätigen) historischen Prozesses sind. In seiner gegenwärtigen Verfasstheit und im Rückblick auf die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist dieser Halbkontinent eine historische Anomalie: ein Wunder von Freiheit, Wohlstand und Frieden. Der Blick in die europäische Geschichte würde uns lehren, dass mehrfacher Kriegszustand eher der Normalfall wäre.
Die Idee der Freiheit ist freilich insoweit ein wenig heruntergekommen, als sie oft auf die Segnungen einer reichen Marktwirtschaft beschränkt wird: Freiheit beim Einkaufen? Mehr Auswahl bei den Joghurts? Aber auch bei bestimmten neuen Freiheiten sind wir unsicher: Freiheit beim Beschimpfen, im Internet – jeden schmähen und verleumden können? Oder gar Freiheit bei Steuerhinterziehung? In der Gentechnik? Die Gesellschaft der wohlverstandenen Freiheit, die Gesellschaft der kultivierten Freiheit ist nicht identisch mit vulgärem Liberalismus (weniger Staat ist immer besser), mit vulgärem Spontanismus (jeder darf tun, was er will) oder mit vulgärer Niedertracht (Politik als Forum ausschließlichen Schienbeintretens). Sie setzt vielmehr feste Regeln, verlässliche Institutionen und Rahmenbedingungen sowie eine gewisse zivilisierte Grundhaltung voraus, ein Ambiente, in dem „Freiheiten“ zur „Freiheit“ zusammenfließen können.
Diese Freiheitsordnung, in der allein die Rede von der Eigenverantwortung Sinn hat, ist ständig gegen Angriff, Diskreditierung und Unterhöhlung zu verteidigen, denn es gibt alle möglichen alten und neuen Freiheitsbedrohungen: Dogmatismus, Planungsexzesse, Korruption, bürokratische Pingeligkeit, Kontrollgesellschaft, politische Korrektheitsideologie, sich aufschaukelnder Hass. Solche Phänomene gelten nicht nur für Länder an der europäischen Peripherie, zu deren entscheidenden Entwicklungshemmnissen das hohe Maß an Korruption zählt, sondern auch für Länder im Herzen Europas. Der immerwährenden Drift zu Malversationen muss stets Widerstand geleistet werden – institutioneller (Justiz) und individueller Widerstand (persönlicher Anstand). Institutionelle Degeneration droht immer. Der institutionelle Rahmen einer wohlverstandenen Eigenverantwortung kann somit niemals als gewährleistet betrachtet werden.5 Betrachtet man ihn als gesichert, setzt der Niedergang ein.
Eigenverantwortung setzt bei der persönlichen Identität an
Eigenverantwortung beginnt bei der eigenen Person. Diese Person muss „entwickelt“ werden: Besinnungslosigkeit ist mit Eigenverantwortung nicht verträglich, ebenso wenig wie Stumpfheit, Unverständnis, Gesinnungsmangel. Eigenverantwortung ist eine Zumutung an das Individuum – es ist für sich verantwortlich. Zugleich drückt diese Zumutung Wertschätzung und Respekt aus – das Individuum zählt.
(1): Max Scheler hat auf die allgemeine Tendenz schon 1921 aufmerksam gemacht, und viele andere später auch: die Tendenz, die menschliche Eigenverantwortung durch die Bestimmung zusätzlicher ökonomischer, psychologischer oder (vor allem) gesellschaftlicher Einflüsse einzuschränken (Scheler 1921). Wenn immer neue Bestimmungsgründe vorder- oder hintergründiger Art namhaft gemacht werden, die das Verhalten des Einzelnen lenken, prägen oder letztlich determinieren, wird dem Einzelnen jede Verantwortlichkeit und jede Schuld abgesprochen (Messner 2001, S. 292); er benötigt dann keine Reue, keine Überlegungen zum Umdenken, ja letzten Endes keine Anstrengung. Es sind dann immer die „Verhältnisse“, gar nicht mehr die Menschen selbst, die als „Wirkkräfte“ angesehen werden. Es bedarf konsequenterweise auch keiner Reflexion über die Angemessenheit des eigenen Verhaltens oder die eigenen begangenen Fehler, denn die entscheidende Determinante ist dieser Auffassung zufolge eben nicht beim Einzelnen zu suchen.
Es ist andererseits trivial festzustellen, dass man nicht nur durch seine genetische Erbschaft, sondern auch durch Erziehung, Herkunft und Milieu geprägt ist. Daraus ergeben sich Grenzen der Zurechnungsmöglichkeit. Gleichwohl kann nicht jedes Handeln durch die Umstände gerechtfertigt oder entschuldigt werden, zumal unter ähnlich beschränkten Verhältnissen andere Individuen erfolgreicher oder anständiger geworden sind. Es gibt in einer soziologistisch ideologisierten Gesellschaft einen Trend zur billigen Exkulpation: Wenn man aus der Schule fliegt, ist das bildungsferne Elternhaus schuld; wenn man zu viel trinkt, musste man dem Druck bei gesellschaftlichen Anlässen nachgeben; wenn man sich überschuldet, wurde man Opfer des generellen Konsumismus oder Modewahnsinns; die Person ist niemals schuld. Aber natürlich setzt Eigenverantwortung Kompetenzen voraus, die nicht aus dem gesellschaftlichen Nichts kommen: Verantwortung braucht Verantwortungsfähigkeit. Trivialerweise beginnen solche Fähigkeiten mit Information, Bildung und Reflexion.
(2): Die Zumutung individueller Verantwortlichkeit hat auch in Rechnung zu stellen, dass gerade die Insassen einer postmodern-individualistischen Gesellschaft unermüdlich den Anspruch erheben, ihr eigenes Selbst finden, gestalten und ausagieren zu wollen (Keupp 1999; Berger/Hitzler 2010). Bei allen Übertreibungen und Illusionen steckt in dieser Forderung ein ausgeprägter Gestaltbarkeitsanspruch. Man fühlt sich nicht nur als willenloses Produkt der Verhältnisse, man hat einen Teil seiner Identität selbst ausformuliert und entwickelt; konsequenterweise ist man dann zumindest teilweise für die Person, die man geworden ist, verantwortlich. Was dieses Selbst tut, ist deshalb auch unter dem Aspekt der jeweils individuellen Verantwortung zu sehen – auch wenn es Milderungsgründe für übles Verhalten und Minderungsgründe für Leistungserfolge geben mag. Ein triviales Beispiel ist die Eigenverantwortung für den eigenen Körper – nicht ganz inaktuell in Anbetracht einer Verfettungsepidemie, die sich durch die modernen und sich modernisierenden Länder zieht. Das Argument, dass man den wohlgefüllten Tischen reicher Länder nicht Widerstand zu leisten vermag, ist eine Art von Selbstdesavouierung. Norbert Bolz bringt ein bürgerliches Prinzip ins Spiel: „Freiheit impliziert Selbstdisziplin. Frei ist ein Mensch, dessen Selbstwertgefühl aus Selbstdisziplin erwächst. Kein Selbst ohne Selbstdisziplin.“ (Bolz 2010, S. 75).
Eigenverantwortung respektiert Menschen und ihre Leistungen
Eigenverantwortung bedeutet: Den Menschen ist etwas zuzutrauen. Eine christlich-soziale Perspektive setzt an bei der Respektierung des Menschen und seiner Leistungen; bei der Anerkennung des Umstands, dass der einzelne Mensch von Bedeutung ist und in Gemeinschaft lebt. Oft wird diese Einschätzung mit dem Begriff der Personalität (Personenprinzip, Personalismus) verbunden: den Menschen in seinen Fähigkeiten erkennen, ein grundsätzliches Vertrauen in seine Urteilsfähigkeit haben, den Menschen aber in der Folge auch verantwortlich machen. Gegenstück wäre die umfassende Entlastung: eine paternalistisch-fürsorgliche Staatsdiktatur, die den Menschen entmündigt. Es ist die „Person“, die im letzteren Fall unter die Räder gerät. Es gilt bei Erwachsenen dasselbe wie in der Kindererziehung: Wenn man den Kindern nichts zutraut, werden sie keine Fähigkeiten entwickeln können.
Eigenverantwortung ist deshalb eine leistungsfreundliche Geisteshaltung. Diese Wertschätzung von Leistung hat nichts damit zu tun, dass Menschen an die Burn-out-Grenze getrieben werden; ganz im Gegenteil richtet sich eine solche Haltung zunächst einmal auf sich selbst, auf die eigene Person. Sie meint: nicht allzu bequem sein – beim Denken, beim Arbeiten, beim Umgang mit anderen Menschen. Denn Selbstverwirklichung ohne Sinn und Verstand – das wäre Friedrich Nietzsches „letzter Mensch“: das bloße (bequeme) Lebenwollen; eine Unterschätzung der Möglichkeiten des Menschen. Das Pensionistenideal. Freiwillige Knechtschaft.
Ein ehemaliger österreichischer Bundeskanzler hat einmal von einer „solidarischen Hochleistungsgesellschaft“ gesprochen, und er hat damit die Balance zwischen solidarischer Unterstützung durch die Gemeinschaft und berechtigten Anforderungen an den Einzelnen gemeint – es ist ihm freilich in seiner (sozialdemokratischen) Partei nicht gut bekommen, dass er „Leistung“ verlangt hat.6 Es gibt ideologische Milieus, die eine Leistungsforderung per se als Unanständigkeit und Repression betrachten.7