Kitabı oku: «Christlich-soziale Signaturen», sayfa 6
Eigenverantwortung wird reduziert durch staatliche Inpflichtnahme
Menschen haben unterschiedliche Kompetenzen, sie können sich auf unterschiedliche Ressourcen stützen, sie kommen aus unterschiedlichen Milieus, sie haben unterschiedliche Lebensgeschichten, sie sind unterschiedlichen Risiken ausgesetzt, sie geraten in unterschiedliche Situationen. Eigenverantwortung ist begrenzt durch das, was den Menschen jeweils zumutbar und durch sie in der Lebenspraxis leistbar ist. Das Komplement zur Eigenverantwortung ist die (notwendige) Verantwortung der Gemeinschaft. Damit liegt der Bezug zur Solidarität auf der Hand.
Eine christlich-soziale Haltung ist mit einer Anerkennung der dynamischen Errungenschaften einer europäisch-marktwirtschaftlichen Ordnung verbunden, aber sie geht auf Distanz zu den Auswüchsen exzessiver Wirtschaftsfreiheit. Die Menschheitsgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Gewalt, sondern auch eine Geschichte der Ausbeutung, und die schlecht gestalteten globalisiert-finanzialisierten Märkte der späten Moderne (Wiemeyer 2010) neigen gleichfalls zur maximalen „Abschöpfung“. Das zeigen die Statistiken über Polarisierungsprozesse der letzten Jahrzehnte. Seit dem Entstehen der Industriegesellschaft geht es um das stete Ringen, wie unter jeweils aktuellen Umständen der Kapitalismus domestiziert werden kann, um seine kreativen und wohlstandstreibenden Kräfte zu nutzen, ohne entwürdigende Folgen, Unverschämtheiten und Lähmungen ausufern zu lassen. Seit langer Zeit nennt man das Modell „Soziale Marktwirtschaft“ – eine Rahmenordnung, die einerseits die dynamischen Kräfte eines Marktes nutzt, ermöglicht, fördert, und andererseits ein Leben in Sicherheit und Würde für alle Teilnehmer gewährleistet (Issing 1981; Müller-Armack 1976; Rüstow 1960).
Man kann die Eigenverantwortung untertreiben und übertreiben. (a) Man untertreibt sie, wenn man die vollständige Daseinsvorsorge als Aufgabe des Staates festlegt – Etatismus, Paternalismus, wohlfahrtsstaatlicher Autoritarismus; Betreuungsmentalität; Unmündigmachung. (b) Man übertreibt sie, wenn man unter Bezugnahme auf pauschale Freiheitspostulate oder vermeintliche Leistungsträgerschaften Marktergebnisse nicht korrigieren will – dann befinden wir uns beim Brutalkapitalismus, nicht beim schlanken, sondern beim magersüchtigen Staat, bei der Privatisierung von gemeinschaftsnotwendiger Fürsorge. Manche nennen es „Neoliberalismus“. Im Streit der Weltsichten werden Notlagen dann als bloße Ergebnisse von Faulheit oder Disziplinmangel angesehen – Dispositionen, die im Einzelfall natürlich tatsächlich vorkommen können und deren Leugnung wiederum unrealistisch-ideologisch wäre.
Das Wesen der Sozialen Marktwirtschaft besteht darin, dass man die Kräfte der Menschen, vor allem ihre kreativen Fähigkeiten, nach Tunlichkeit wirken lässt, dass man aber die Risiken, die sich mit der Natur des Menschen und mit den Gefährdungen durch das System verbinden, abfedert und Notlagen beseitigt (Kaufmann 2004, 2019). Soziale Marktwirtschaft bedeutet also nicht nur die Beschreibung eines Regelsystems, sondern verweist auf normative Vorstellungen. Die europäische Ausprägung des Sozialstaates (oder Wohlfahrtsstaates) ist eine genuine Innovation (Becker 1994; Herder-Dorneich 1982; Kaelble/Schmid 2004; Strasser 1983). Wenn Vergleiche mit den USA angestellt werden, dann wird etwa das großartige System einer europäischen Krankenversicherung (mit all den Unterschieden in verschiedenen Ländern) immer wieder herausgestellt. Es ist kein Beispiel für gelingende Eigenverantwortung, wenn man, um die erforderliche Magenoperation zu finanzieren, sein Haus verkaufen muss.
Zwangsläufig ist immer umstritten, in welchem Ausmaß kollektive Vorkehrungen getroffen werden oder Problemlösungen dem Einzelnen überlassen werden sollten; aber das kann gerade in einer ebenso komplexen wie turbulenten spätmodernen Gesellschaft nicht anders sein. Doch das „Subsidiaritätsprinzip beruht auf der anthropologischen Prämisse, dass das Gelingen des menschlichen Lebens nicht in erster Linie vom Sozialleistungssystem abhängt, sondern von der Bereitschaft und der Fähigkeit des einzelnen Menschen, Initiativen zu ergreifen, Anstrengungen auf sich zu nehmen und Leistungen zu erbringen.“ (Spieker 2000, S. 319). Eine solche Maxime verpflichtet ein sozialstaatliches System, das Notwendige zu tun, aber sie entlastet es auch davon, alle wahrnehmbaren Probleme lösen zu müssen. Sie hat zudem eine Forderung an die Wählerschaft: „Sie gebietet auch dem Bürger, sein Verlangen nach sozialstaatlichen Leistungen zu zügeln, ständig zu überprüfen und auf Leistungen zu verzichten, die er gar nicht nötig hat oder die ihren Zweck – Hilfe zur Selbsthilfe – erreicht haben.“ (Spieker 2000, S. 321). Das richtet sich gegen die Maxime: „Herausholen, was herauszuholen ist, solange es die anderen zahlen.“
Eigenverantwortung ist nicht Egoismus
Soziale Marktwirtschaft und Sozialstaat sind europäische Errungenschaften, sodass in einigen europäischen Ländern die am wenigsten ungerechten Gesellschaften der Geschichte geschaffen wurden. Eigenverantwortung schließt keineswegs die Sensibilität für Armut und Bedürftigkeit aus, auch mit Blick auf jene, die aus eigener Kraft nicht mehr hochkommen. Sie braucht die komplementäre Komponente der Solidarität (Große Kracht 2017): Wo Eigenverantwortung der Person A nicht mehr greifen kann, muss Solidarität der Person B (bzw. eines Kollektivs) geübt werden – jede Versicherung beruht auf diesem Prinzip. Umgekehrt formuliert: Wenn es A in seiner individuellen Verantwortung nicht schafft oder schaffen kann, wird die kollektive Verantwortung, also Solidarität, aktualisiert (Bayertz 1998; Hondrich und Koch-Arzberger 1992; Prisching 2003, 2010).
Für die Übung von Solidarität gilt:
(1) Solidarität muss machbar sein. Weltferne Utopien sind wenig hilfreich. Freilich kann man sich ein Paradies vorstellen, in dem man ohne Arbeit in Reichtum lebt. Aktuelle Vorstellungen eines bedingungslosen Grundeinkommens sind Beispiele (Eicker-Wolf 2013). Aber das gehört in eine fiktive Welt, die den Einzelnen von jeder Verantwortung entlastet.
(2) Solidarität muss so geartet sein, dass sie an der Natur der Menschen nicht scheitert. Die Imagination der „neuen Menschen“ knüpft meist an rousseauistische Vorstellungen an: Der Mensch ist an sich gut; er ist durch die Zivilisation (durch den Kapitalismus) verdorben worden; und wenn erst ein neues Ambiente geschaffen ist, wird er wieder gut sein und sich ganz anders verhalten als die derzeit empirisch sich vorfindlichen Menschen. Das sind unbegründete Träume. Wir haben es mit konkreten Menschen – und ihren guten und bösen Eigenschaften – zu tun. Das ist Anthropologie, nicht Sozialpolitik.
(3) Solidarität muss nicht bis zur Selbstaufgabe führen, im Dienste der Beseitigung des Elends auf der ganzen Welt. Freilich ist es moralisch geboten, den eigenen Überschuss zu verwenden, um Menschen in Not zu unterstützen. Das aber lässt sich auf konkrete Fälle herunterbrechen: Darf man sich ein (billiges) Auto kaufen, wenn man mit demselben Geld ein paar Dutzend Menschenleben in Zentralafrika retten könnte? Darf man ein Schnitzel verzehren, wenn man mit demselben Geld einen Menschen vor der Blindheit bewahren könnte? Bei solcher Zuspitzung wäre es geboten, das Leben aller Europäer auf das Existenzminimum zu reduzieren, um eine globale Umschichtung vorzunehmen. Jeder Kinobesuch wäre Sünde. Es gibt aber wohl eine (räumlich) abgestufte Verantwortung, und diese ist mit gängigen Gerechtigkeitsgefühlen verträglich. Das ist auch auf Migrationsprobleme anwendbar. Wenn man die ethische Latte so hoch legt, dass man sie nur durch den eigenen Ruin erreichen kann, ist das weder lebenspraktisch noch ethisch sinnvoll.8
Dennoch gilt auch wieder: Freiheit stabilisiert sich nicht nur durch Institutionen. Sie braucht ein Substrat an Gesinnung, und das bei jedem Einzelnen: Respekt dem Nächsten gegenüber, in seiner Würde, auch wenn er in dieser oder jener Hinsicht – ethnisch, habituell, sexuell – ein wenig „anders“ sein mag (Etzioni 1994; Sen 2002). Ein wohlverstandenes, moralisch akzeptables Selbstinteresse entbindet nicht von jeder Verantwortung. Vielmehr gelten Verpflichtungen: über niemanden einfach drüberfahren in der Berufung auf die „Wahrheit“ (wie alle linken und rechten Dogmatiker), im Dienst einer höheren (allenfalls religiösen) Ordnung oder zugunsten einer besseren Zukunft (unter Opferung der Gegenwartsgeneration).
Eigenverantwortung gilt für unterschiedliche institutionelle Ebenen
Die Handlungsreichweite der Menschen hat sich erweitert: von Nachbarschaften und Städten über Regionen und Nationen bis zu Europa und der Welt. Die zeitweise betonte politische Einheit, der Nationalstaat, ist längst auch Teil eines politisch-administrativen Mehrebenensystems geworden. Wir haben es mit dem weiten Feld von Subsidiarität und Zentralität, Lokalismus und Kosmopolitismus, Föderalismus und Einheitlichkeit zu tun; aber auch mit der Logik von verhaltensbestimmenden Systemen. Die Theoretiker des Marktversagens stellen immer wieder heraus, dass eine ungenügende Definition von Eigentumsrechten die Eigenverantwortung beseitigt, weil die negativen Konsequenzen individuellen Handelns eine Gemeinschaft (ein Kollektiv) trägt. Allmende-Probleme unterhöhlen die Eigenverantwortung. Damit ist es dem Einzelnen gestattet, „unverantwortlich“ zu sein für das Ganze. Regelsysteme sollen tunlichst Freerider- beziehungsweise Gefangenendilemma-Situationen vermeiden, denn die Berufung auf die Eigenverantwortung der Akteure (im Sinne einer Forcierung von Moral zulasten des Eigeninteresses) scheint nicht hinreichend zu funktionieren.
(a) Dass die Staaten für die Aufrechterhaltung „nachhaltiger Meere“ verantwortlich sind, würden die meisten befürworten, doch bislang hat dies zu keinen ausreichenden Konsequenzen geführt. Die Klimapolitik ist generell ein gutes Beispiel dafür, dass die Eigenverantwortung sich nicht selten der Eigensucht beugt; denn die Forderungen nach durchsetzungskräftiger Öko-Politik gehen einher mit großen Aversionen gegen alle Maßnahmen, die zu irgendeiner persönlichen Verhaltenseinschränkung führen würden. Es ist Heuchelei, vehement Forderungen an die Politik zu erheben, aber bei jeder kleinen Beschränkung des Autoverkehrs einen Proteststurm auszulösen.
(b) Im wirtschaftlich-politischen Bereich versucht die Europäische Union, durch Regelsetzung gewissen Dilemmata mangelnder Eigenverantwortung zu entkommen. Wenn Banken leichtsinnige Kreditpolitik betreiben, aber wissen, dass sie im Bedarfsfall durch die EU aufgefangen werden, ist dies ein Anreiz, über alle politische Vernunft hinaus zu handeln. Wenn Staaten wissen, dass es sich die Europäische Gemeinschaft nicht leisten kann, Mitglieder „zusammenkrachen“ zu lassen, werden sie eine leichtsinnige Politik in Verfolgung innenpolitischer Machtspiele betreiben – Griechenland war das erste Beispiel, Italien drängt sich auf, Brexit wird folgen. Das heißt zum einen: Auch Kollektive sind „eigenverantwortlich“ – und die Menschen haben (fatalerweise) die Konsequenzen ihrer (Wahl-)Entscheidungen zu tragen. Auch jene, die dagegen waren oder sind, müssen entsprechende Folgen gegen sich wirken lassen. Mitgefangen und mitgehangen. Und es heißt zum anderen: Vorstellungen einer europaweiten Transferunion zielen auf die Dauerhaftigkeit von Umverteilungsvorgängen und entlasten „Nachzügler“ und „Opportunisten“ von wirtschaftlicher Vernunft.
„Eigenverantwortung“ bezieht sich somit auf das eigene Tun, aber durch die Teilhabe an einer „Lebensgemeinschaft“ (im Sinne sozialer Agglomerationen, vom Dorf bis zur Nation und darüber hinaus) hat sie auch eine kollektive Komponente. Politische Entscheidungen gelten für Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die sich in freier Wahl eine schlechte Regierung auferlegt haben. Venezuela ist nur das jüngste Beispiel unter anderen süd- und mittelamerikanischen Ländern, die durch sozialistische Gestaltungsversuche aus dem Wohlstand in den Ruin getrieben wurden.9 Wenn frei gewählte Regierungen trotz des Reichtums im Land die Bevölkerung im Elend verkommen lassen, handelt es sich in erster Linie um ein Problem von Eigenverantwortung, nicht um die Verantwortlichkeit besonnenerer Regierungen.
Eigenverantwortung steht in gewisser Korrelation zur Demokratie
Wenn man, im Sinne der Eigenverantwortung, dem Menschen etwas zutraut, dann soll er auch in die Entscheidung über gesellschaftliche Prozesse einbezogen werden, und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (genau genommen erst seit dem Zweiten Vatikanum) hat sich diese Einsicht (zumindest für das politische Geschehen, nicht für die eigene Organisation) auch in der katholischen Kirche verbreitet. Im einfachsten Fall heißt das: Partizipation beziehungsweise Demokratie. Seit geraumer Zeit darf das Bekenntnis zur Demokratie europäischer Prägung als Selbstverständlichkeit gelten: Institutionenrespekt, Liberalität, Rechtsstaatlichkeit.
Das Selbstverständliche ist nicht immer selbstverständlich. Erstens bedarf es für die Teilnahme an einer demokratischen Ordnung nicht nur der Alltagskompetenz, sondern auch einer gewissen gesellschaftlichen Kompetenz. Auf diese Weise sind Wissens- und Bildungsvoraussetzungen immer begründet worden: Demokratie braucht kluge Bürgerinnen und Bürger. Das darf auch als Anspruch an die Wählerschaft formuliert werden: Verantwortliches Wählen oder Abstimmen kommt nicht aus dem Bauch. „Dumm wählen“ ist kein Ausdruck von Eigenverantwortung, sondern eben nur ein Ausdruck von Dummheit, der man auch „zivilisierte Verachtung“ (Strenger 2015) entgegenbringen kann.
Ein zweiter Aspekt drängt sich auf; nach der Demokratisierungswelle der 1990er-Jahre gibt es weltweit Rückschläge, auch die vorderhand stabilen Demokratien sind verunsichert: Welche „Gefühlswellen“ sind aushaltbar? Ist eine „Schlechtwetterdemokratie“ überhaupt möglich? „Wutbürger“ (Hessel 2011) haben nichts zu bieten als ihr Ressentiment. Sie dokumentieren nicht Eigenverantwortung, sondern negieren sie. Diverse Links- und Rechtspopulismen, die oft, wie Wählerströme zeigen, austauschbar sind, weil sie derselben Emotions- und Mobilisierungslogik folgen, gedeihen in Situationen der Verwirrung, und sie packen die Menschen bei ihren schlechteren Impulsen (Müller 2016). Ivan Krastev hebt die Widersprüchlichkeit hervor: „Der protestierende Bürger will Veränderungen, lehnt aber jede Form politischer Vertretung ab. Er stützt seine Theorie sozialen Wandels auf Werbetexte aus Silicon Valley und schätzt die Zerstörung, verachtet aber politische Programme. Er sehnt sich nach politischer Gemeinschaft, lehnt es aber ab, sich von anderen führen zu lassen. Er riskiert Zusammenstöße mit der Polizei, traut sich aber nicht, einer Partei oder einem Politiker Vertrauen zu schenken.“ (Krastev 2017, S. 100). Das Risiko der genannten Zusammenstöße wird zudem nicht als solches gesehen, sondern eher als eine Art Abenteuer und Action lustvoll erlebt. Grundsätzlich wird in der öffentlichen Argumentation oft die Wählerschaft von ihrer Verantwortung entlastet, weil allemal böse Menschen und Mächte schuld sind, und eine vollständige Verantwortungsentlastung ist vollzogen, wenn sich politischer Akteur und Wählerschaft in der emotionalisiert-lauschigen Überzeugung finden, dass Fakten irrelevant sind (McIntyre 2018) – denn dann hat man nicht einmal mehr eine Verantwortung für eigene Irrtümer oder Lügen.
Eigenverantwortung fordert aber sehr wohl die Reflexion über die Frage: Was können wir tun? statt nur die Frage zu stellen: Was geschieht uns? Die letztere Frage drückt jene Passivität aus, die gerade nicht mit Eigenverantwortung einhergeht. Bei allen Schwierigkeiten, bei aller Unübersichtlichkeit ist die Option einer schrittweisen (nüchternen, abgewogenen) Verbesserungspolitik aufrechtzuerhalten. Denn dies sind die beiden extremen Optionen: (a) Wer sich mit der Unvollkommenheit abfindet („Es hat ohnehin alles keinen Sinn.“), der verspielt Chancen. (b) Wer die vollkommene Gesellschaft herstellen will („Wir brauchen ein ganz neues System.“), landet im Totalitarismus (Bracher 1982).
Eigenverantwortung wird minimiert durch die Stilisierung von Opferrollen
Es gibt zwei Haltungen, die man als Gegenstück zur Eigenverantwortung sehen kann (und die oft in Kombination auftreten). Sie gehörten nicht zuletzt bei den großen Staatsideologien Faschismus und Bolschewismus zum Kernbestand. Die erste Haltung ist die Abweisung von Eigenverantwortung in dem Sinne, dass für alle Unzulänglichkeiten Schuldige zu suchen sind: Feinde, Agenten oder Sündenböcke. Die anderen sind schuld: die Abzocker, die Kapitalisten, die Faulpelze, die Migranten, die Manager, die Sozialhilfeempfänger, die Steuerhinterzieher, die Konzerne, die gierige Oberklasse, die leistungsschwache Unterklasse, die ängstlich-sklerotische Mittelklasse, die verwöhnte und lethargische Jugend, die Fleischfresser und die SUV-Fahrer, die Pop-Abkömmlinge und beliebige andere. Alles könnte schön sein, wenn es nur die Gruppe X nicht gäbe.
Die zweite Haltung ist die Stilisierung der eigenen Opferrolle. Man hat keine Eigenverantwortung, wenn man bloß das Opfer übermächtiger Mächte ist. Eine solche Opferrolle kann besonders dann attraktiv sein, wenn die institutionellen Verhältnisse aus einem beliebigen Opfer-Titel zu kollektiven Leistungen berechtigen. Aber sie hat auch ihren psychosozial-narzisstischen Eigenwert, weil sie an jene Sensibilitäten appelliert, die in einer luxuriösen spätmodernen Gesellschaft gewachsen sind. Radfahrer sind Opfer der Autofahrer, und umgekehrt. Nichtraucher sind Opfer der Raucher, und umgekehrt. Stromkunden sind Opfer der teuren Alternativenergieerzeuger. Frauen und Alleinerziehende sind ohnehin Opfer, Eltern erst recht. Die Jüngeren sind Opfer, weil sie in diese Welt geboren werden, die Älteren, weil sie alt sind. Muslime sind Opfer der Diskriminierung, Einheimische sind Opfer radikaler und krimineller Muslime. Wer kein Opfer ist, der ist deswegen ein Opfer, weil alle anderen Opfer sind, die er bezahlen muss (Prisching 2009). Es ergibt sich ein riesiges Opfer-Panoptikum. Durch die allseitige Sichtbarkeit in der Kommunikationsgesellschaft lassen sich immer Vergleichsgruppen finden, gegenüber denen man ein eigenes Opfer-Design aufbauen kann.
Beide Haltungen weisen Eigenverantwortung von sich: Es sind hinterlistige Mächte, denen man ausgesetzt ist und die den Einzelnen passivieren, bedrängen, beeinträchtigen. Der Einzelne muss dann gar nicht mehr anfangen, die Ärmel aufzukrempeln.
Eigenverantwortung steht in Spannungsfeldern und Balancen
Der Begriff der Eigenverantwortung steht in Balance zu zahlreichen anderen sozial und politisch relevanten Begriffen. Es geht immer um das rechte Maß, und was das ist, lässt sich nur im konkreten Fall diskutieren oder beurteilen. (a) Eigenverantwortung korrespondiert etwa mit Freiheit; aber zu viel Freiheit bedeutet Überlastung, Anarchie, Indifferenz und macht Eigenverantwortung unmöglich. (b) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Gleichheit, denn es müssen aufgrund der Verantwortungszuschreibung unterschiedliche Ergebnisse möglich sein; aber extreme Ungleichheit macht es manchen Menschen unmöglich, überhaupt Eigenverantwortung auszuüben. (c) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Solidarität, denn zu viel Solidarität reduziert oder beseitigt das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit, während wohlverstandene Eigenverantwortung auch den Blick auf Gemeinwohl und Gemeinschaft, also Solidarität, einschließt. So könnte man fortfahren.
Zu einem christlich-sozialen Weltbild10 gehört das Leben in Widersprüchen, in der Ausbalancierung – einfach deshalb, weil ein nüchterner Blick auf die Welt verrät, dass es anders gar nicht geht. Einerseits kommt unser Wohlstand aus Kreativität und Dynamik; andererseits kann Geld die Sitten verderben. Einerseits ist der Staat gut, wir brauchen ihn; andererseits kann er repressiv, korrupt und bevormundend werden. Der Markt und seine Zähmung. Die Technik und die Skepsis ihr gegenüber. Die Demokratie und ihre Beschränkung. Die Individualität und ihre Wiedereinbettung. ‚Checks and balances“. Die christlich-soziale Perspektive konzipiert das Leben in der stets verbesserbaren Unvollkommenheit. Es geht um das Leben im richtigen Maßstab. Eigenverantwortung heißt also auch: das richtige Maß anstreben. Nicht die Mittelmäßigkeit, Durchschnittlichkeit oder Normalität zum Prinzip erheben, sondern in freier Beurteilung jenes richtige Maß finden, welches Extremismen (und ihre zuverlässig schädlichen Folgen) vermeidet.
Literatur
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1Das bedeutet nicht, dass die Reflexion über alle derartigen Begriffe von vornherein sinnlos ist, man muss sich nur im Klaren sein, dass die Begriffe selbst keinen „anwendbaren“ Inhalt besitzen, sondern dieser Inhalt in einer konkreten Situation erst hinzugefügt werden muss. Es handelt sich ja auch um kein Spezifikum der christlichen Soziallehre, gerade der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ kommt häufig in sozialistischen Argumentationen vor. Man kann auch dieselben Inhalte auf unterschiedliche Weise begründen; in der christlichen Soziallehre ist der Bezug zur Transzendenz gegeben.
2In die Gestaltung der europäischen Strukturen ist die Subsidiarität beispielsweise explizit eingebracht worden. Im EG-Vertrag heißt es: „Die Gemeinschaft wird innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig. In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“ In verschiedenen Dokumenten ist diese Grundhaltung auch für die Europäische Union gültig. Vgl. zum Kontext Europa: Lübbe 2005.
3Auch Eigenverantwortung wird für viele Sachverhalte und Argumentationen verwendet, die hier nicht verfolgt werden können. Nur eine kleine Presseschau: „Auch Almwanderer müssen, mit Kühen konfrontiert, Eigenverantwortung zeigen.“ „Innenminister ruft in Anbetracht möglicher ‚Blackouts‘ nach Eigenverantwortung.“ „Hinsichtlich des Bräunungsgrades von Pommes frites wäre auch die Eigenverantwortung der Kunden gefragt.“ „E-Bikes brauchen Eigenverantwortung.“ „Im Umgang mit Datensicherheit ist die Eigenverantwortung der Nutzer gefragt.“ „Ein Bischof appelliert in Sachen Missbrauch an die Eigenverantwortung des Kirchenpersonals.“ „Bergsteiger lassen Eigenverantwortung vermissen.“ „Vorsorge durch Versicherung ist ein Element der Eigenverantwortung“. Auch für die Integration von Migranten haben diese ihre Eigenverantwortung einzubringen.“ „Hausbauen im Überschwemmungsgebiet – eine Sache der Eigenverantwortung.“ Und so weiter.
4Es gibt wohl insoweit etwas wie ein Grundrecht auf Selbsttötung, als ein missglückter Suizid nicht bestraft wird. Aber die Hilfe zur Selbsttötung ist umstritten, gewerbsmäßig weithin verboten. Gleichwohl wissen wir über die Grauzonen am Ende eines Lebens.
5Zur aktuellen Lage, insbesondere mit dem Blick auf die Ostländer, vgl. auch: Renöckl 2007.
6https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/archiv/analysen/80794_Gusenbauers-Traum-von-einer-solidarischen-Hochleistungsgesellschaftist-gescheitert.html (abgerufen am 8. Juni 2019).
7Das ist nicht bloße Theorie, ein Beispiel bietet die Schulpolitik: Es macht sich die Attitüde breit, dass mangelnde Leistungserbringung des Schülers ausschließlich auf mangelnde Didaktik des Lehrers zurückgeführt wird. Daraus leitet sich die didaktische Forderung ab, dass Prüfungen bestanden werden müssen, denn auch an einer mangelnden Vorbereitung ist das Begeisterungsfähigkeitsdefizit des Lehrers schuld. Zudem ist jeder zu allem fähig und berechtigt. Somit muss jedem ein Weg bis zum Doktorat zugestanden werden; den Weg muss man ebnen, Drop-outs vermeiden, schließlich kann keiner etwas für intellektuelle Schwächen, ob diese nun ererbt oder sozialisiert sind.
8Das heißt wiederum nicht, dass man das Problem mit bedauerndem Schulterzucken beiseitelegen kann – schon aus Selbsterhaltungsinteresse. Wenn man etwa die zuweilen geäußerten Forderungen nach einer Angleichung von Emigrationsländern an die entwickelten Staaten oder nach einem Marshall-Plan für Afrika betrachtet, stößt man zwangsläufig auf ein Abwägungsproblem: Könnte oder sollte man die österreichischen Einkommensverhältnisse um drei oder um zehn oder 20 Prozent kürzen, um die Ressourcen sinnvoll und kontrollierbar in Afrika zu investieren? Da wäre gerade bei jenen, die solche Vorschläge ventilieren, praktisch anwendbare Solidarität auf den Prüfstand gestellt, wenn man quantitativ argumentieren müsste, statt sich auf abstrakte Moralität zu berufen, die üblicherweise mit der Vorstellung verbunden ist, dass der eigene Beitrag minimal ausfällt.