Kitabı oku: «Der Herkules: 300 Jahre in Kassel», sayfa 4

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Visionen zur Neujustierung des Herkules in Stadt und Landschaft
Folckert Lüken-Isberner

In den 20er- bis 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts geriet das Städtebau- und Landschaftsensemble Wilhelmshöher Allee und Oktogon mit Herkules-Statue im Bergpark ins Visier mancher Utopisten innerhalb der Profession der Stadtplanung. Sie trachteten aus den verschiedensten Beweggründen nach Veränderung und Neubewertung der räumlichen Kontexte der landgräflichen Hinterlassenschaft.

I.

Nach dem Ersten Weltkrieg waren europaweit selbst ernannte Groß-Planer aufgetreten, die mit der Inangriffnahme großräumiger pazifistisch motivierter Projekte zu einer nachhaltigen Völkerverständigung und Friedenssicherung beitragen wollten. Zum Raum Kassel agierte der heute weitgehend vergessene Fritz Stück mit seinen Ideen zu einem „Groß-Kassel der Zukunft“.

Herkules im neuen Blick

Für den hiesigen Raum schlug Stück z. B. vor, eine groß angelegte „Waldrandstrasse“ anzulegen, die als breites Panoramaband das Fuldabecken umkreisen sollte. Diese Straße bringe „die Grünflächen des Tales (…) mit dem Kranz der Wälder in organische Verbindung“ und sie betone und sichere „auch die Kammlinien, Blickfelder und -achsen“.1 Kassels städtebauliche Barockachse war für ihn nur ein Torso, weshalb die von ihm „Talbeckenachse“ genannte Wilhelmshöher Allee nach Osten verlängert werden sollte bis zur Höhe oberhalb von Heiligenrode. Dieser neue Achsabschnitt namens „Landgraf-Karl-Schneise“ sei „mindestens blickfeldmäßig (…) zu sichern“.2 Mit dem auch „Lichtweg“ genannten Einschnitt in das Gelände erhielte das Fuldabecken eine imposante, auf den Herkules orientierte neue Landmarke.3

Auch jenseits des Herkules auf westlicher Seite sollte eine neue Achse, die gradlinig bis zum Hohen Gras-Turm durchlaufen sollte, angelegt werden.4 Als „Kaskadenschneise“ betitelt würde sie auf dem Essigberg an einem „Mal“ enden. In dieser rückwärtigen „Erweiterung“ des Bergparks sah Stück scheinbar überhaupt erst dessen Vollendung, mit der er den Entwürfen Giovanni Francesco Guernieros auf Augenhöhe zu begegnen trachtete.

Ein Zeitgenosse bewertete diese Planungsidee sehr hoch, brachte dabei aber einen anderen Blickwinkel ins Spiel: „Kassel erstrebt den Ruf einer Fremdenstadt großen Stils. Dafür würde der auf das Gebiet der Waldrandstraße beschränkte Stück’sche Plan schon vollständig ausreichen. Ihn sollte man daher zunächst und ernstlich auf seine Durchführbarkeit prüfen und in Verbindung damit auch seine (…) Erweiterung des Wilhelmshöher Parkes durch Verlängerung der großen Parkachse über den Herkules hinaus westlich bis zum Essigberge hin“.5

Herkules an der Autobahn

War es mit den Stück’schen Plänen bei rein planerischen Höhenflügen geblieben, so ging es bei den Großplanungen für die erste mitteleuropäische Fernstraße auf der Trasse von Lübeck–Hamburg über Frankfurt/M. bis Basel (der sog. HaFraBa) in den 20er-Jahren um die konkrete Realisierung im Raum Kassel. Nach Ablehnung einer östlichen Trassenführung über Bettenhausen „als technisch und wirtschaftlich unbrauchbar“6, wurde eine Westumfahrung priorisiert. Die hätte jedoch eines Viadukts über die Wilhelmshöher Allee bedurft, wogegen es starke ästhetische Einwände gab. Auch der Vorschlag, die Allee im Kreuzungsbereich mit der Fernstraße tiefer zu legen, fand keine Akzeptanz. Selbst das Argument, wonach somit doch „die Autofahrer möglichst nahe an das Wilhelmshöher Schloss herangeführt werden“ könnten, „um ihnen das Schloss vor Augen zu führen und so den Fremdenverkehr zu steigern“7, verfing letztlich nicht, obwohl diese Variante von der HaFraBa schon öffentlich gemacht worden war. So war eine künftige Autobahnabfahrt Kassel-West mit direktem drive-in-Anschluss in das heutige Weltkulturerbe doch noch verhindert worden.


1 Hans C. Reissinger, Die neue Irminsul im Oktogon, Bayreuth 1933 und 1942

II.

Neue Begehrlichkeiten zur Vereinnahmung der Bergparkanlage zeigten die Machthaber des nationalsozialistischen Staates, die sich in der neuen Hauptstadt ihres Gaues Kurhessen mit Zäsuren im Stadt- und Landschaftsraum zu verewigen trachteten.

Herkules im Bühnenbild

Die amtlichen NS-Planer gaben sich, im Unterschied zu Fritz Stück, mit der gegebenen Länge der Barock-Allee zwar zufrieden, wollten aber mit ihren Planungen aus den frühen 40er-Jahren die Blickbeziehung zum Herkules durch eine durchgängige Aufweitung der Achse neu gewichten. Im westlichen Teil sollte die Allee mit 80 m Breite so gewaltig werden, dass der Ortsteil Wahlershausen quasi verschwunden wäre. Die Allee wäre als „NS-Erlebnisachse“ für Fußvolk und Aufmärsche präpariert worden, für die Herkules und Co. lediglich als niedlicher Kulissen-Hintergrund fungiert hätten. Eine Zeichnung, die sich der Mittel der Bühnenbild-Architektur bedient (Weglassung, Hinzufügung, Belichtung), belegt dies eindrucksvoll.8


2 Hans C. Reissinger, Der neue Herkules am Wilhelmshöher Tor, Bayreuth 1944

Herkules versetzt

Schon gleich nach der Machtübernahme erhielt der Bayreuther Architekt Hans Reissinger vom Gauleiter den Auftrag für ein Reichsehrenmal im Habichtswald, das ursprünglich in Bad Berka in Thüringen entstehen sollte. Der Entwurf sah vor, den Herkules als Landmarke eines längst vergangenen Kleinstaates schlicht auszuwechseln durch ein Bauwerk, das mit ganz anderen Dimensionen einem neuen Großdeutschen Reich dienlich gemacht würde. Mit einer sog. „Neuen Irminsul im Oktogon“ wäre eine 100 m hohe Stele in das offene Sockelbauwerk hineingesetzt worden (Abb. 1). Wäre die Irminsul zeitnah tatsächlich so realisiert worden, wäre möglicherweise schon zum „Großdeutschen Reichskriegertag“ 1939 eine propagandistisch aufwendige Weihung erfolgt.

Zum Verbleib der abgetragenen Pyramide samt Herkules legte der Architekt in einer späteren Planung 1944 Rechenschaft ab, als er sich erneut mit Kassel befasste. Für seinen neuen Auftraggeber Rüstungsminister Speer, der angesichts der zerstörten Stadt „Wieder“-Aufbaukonzepte gefordert hatte, erfand Reissinger die Achse der Wilhelmshöher Allee neu, die in zwei Stränge aufgespalten durch eine neue Parklandschaft („Wilhelmshöher Alleenpark“) direkt auf ein vor den Torbauten am Grimm-Platz befindliches Rondell zuläuft. Auf dem Rondell steht ein unterfahrbares (Wilhelmhöher) Tor, auf dem der Herkules samt Pyramide seine neue Heimat findet. Unser Heroe blickt nunmehr vom Endpunkt des neu geschaffenen Parks nach rückwärts auf seinen alten Standort auf dem Karlsberg, von wo ihn die neue Stele mit dem Adler grüßt (Abb. 2). Ob der Herkules nunmehr vom Stadtplaner hier nur abgestellt oder aber von der NSDAP schon mit neuer Sinnunterlegung geparkt war, wissen wir nicht.

Herkules ignoriert und relativiert

Die zerstörte Stadt gab den Hintergrund ab nicht etwa für eine neue Bescheidenheit bei den Stadtplanern, sondern für Jetzt-erst-recht-Pläne, die sich nicht im Geringsten um die tradierten Vorgaben im Stadtraum kümmerten.

So lieferte ein von Speer beauftragter Planer noch 1946 (!) einen Entwurf, der die Kasseler Innenstadt völlig neu erfand mit der Ausrichtung des Stadtkörpers nach einer Magistrale, die vom Friedrichsplatz bis zum Fuße des Rothenbergs verlief. Dieser Einschnitt war so gewaltig dimensioniert, dass die Wilhelmshöher Allee nur mehr als eine Straße unter vielen rangierte.9 Einem Herkules, auf den sich der Stadtplan über lange Jahrzehnte ausgerichtet hatte, war so keine Bedeutung im Stadtbild mehr zugebilligt.

Schließlich waren es die Städtebauer im Rathaus, die in ihrem Plan „Stadtkern neuer Gattung“ 1944 der Wilhelmshöher Allee durchgehend 80 m Breite verpassten,10 was das Doppelte der seit über 100 Jahren gewollten, in den Fluchtlinienplänen seitdem festgelegten Breite von ca. 40 m entsprochen hätte. Am westlichen Ende dieser Schneise hätte ein Herkules aber wohl nicht mehr die Figur abgegeben, die sie einmal als dramaturgischer Endpunkt eines perspektivischen Blicks im wohl proportionierten Straßenraum bedeutet hatte. Die sich dem heutigen Blick in den Bergpark bietende, wohl angemessene räumliche Ausprägung der Allee mit dem 40 m-Profil ist bekanntermaßen nur den Kriegszerstörungen und ergänzenden Abrissen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren geschuldet.

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1 Fritz STÜCK, Kassels städtebauliche Zukunft, in: Städtebau 25 (1930), S. 480, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück und die Stadtplanungsdiskussion in der Weimarer Republik, Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte Bd. 40, Marburg 1990, S. 226.

2 Ebd, S. 228.

3 Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft, Die Waldrandstraße – Die Grünflächen, 1.7.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62–6.

4 Kasseler Post vom 22.5.1927. – Plan: Fritz STÜCK, Das Groß-Kassel der Zukunft 9, Der Habichtswald, 1.6.1927, Hessisches Staatsarchiv Marburg, M 49 P II, 62-9.

5 Regierungsrat HEMPEL, Ein Großstadtprojekt Kassel-Wilhelmshöhe, in: Die Gartenkunst, 12 (1927), S. 189–195, hier 189ff.

6 Kassel als Station der Autofernstrasse, aus der Denkschrift eines Vorstandsmitgliedes der Gesellschaft HaFraBa, Kasseler Post vom 1.9.1927, zit. in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Fritz Stück, S. 239.

7 Kasseler Tageblatt vom 31.8.1927, in: Hafraba in Kassel, Regiowiki (1.4.2014).

8 Plan: Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (Perspektive Wilhelmshöher Allee), 1942, Stadtarchiv Kassel, A.61.2,19.

9 Plan: Friedrich HETZELT, ohne Titel (Generalbebauungsplan Wiederaufbau Kassel), Januar 1946, Stadtarchiv Kassel, A.6.16.2,16.

10 Plan: Erich HEINICKE, Emil POHLE (Stadtplanungsamt Kassel), ohne Titel (aus der Serie: Stadtkern neuer Gattung), Ende 1944, Stadtarchiv Kassel, A.6.61.2,60

Alle in den Anmerkungen zitierten Pläne sind abgebildet und textlich ausführlich in ihrem historischen Kontext gewürdigt in: Folckert LÜKEN-ISBERNER, Große Pläne für Kassel 1919–1949, Projekte zu Stadtentwicklung und Städtebau, Marburg/L. 2016.

The Versailles of Germany: Der Kasseler Herkules in internationalen Enzyklopädien
Sabine Naumer

Als weit sichtbare Marke nadelt sich der monumentale Mann aus Metall als Wahrzeichen Kassels in den Himmel. An der Autobahn wirbt die Stadt mit einem Welterbepiktogramm, das Herkules, Oktogon und Kaskaden repräsentiert. Um herauszufinden, ob und wie der Kasseler Koloss im Laufe der Jahrhunderte außerhalb der Stadt wahrgenommen wurde, werden in chronologischer Folge ausgewählte Allgemeinenzyklopädien konsultiert. Wird der Herkules in Universallexika erwähnt, beschrieben, bewundert, vielleicht sogar abgebildet? Gehört er damit zur Allgemeinbildung? Wenn ja, seit wann?

Zwei Jahre nach der Aufstellung der Herkulesfigur erscheint 1719 Johann Hübners ‚Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon‘ in der 9. Auflage. In dem einbändigen Werk haben Schloss und Lustgarten namens „Weissenstein“ einen eigenen Eintrag. Nach einigen Worten zur Lage des Schlosses heißt es hier: Dabei ist auf dem sehr hohen Berge des Habichtswaldes oder so genannten Winterkastens eine kostbahre und rare Grotte und Thurm erbauet.1 Die kurz vor dem Erscheinungsdatum vollendete Herkulesfigur fehlt in dieser Beschreibung, was vielleicht lediglich dem Redaktionszeitraum geschuldet sein könnte.

Ähnlich verhält es sich in Hübners gleichnamiger Ausgabe von 1737. Es folgt im Artikel über „Cassel“, nach der Erwähnung der Gärten an der Orangerie, ingleichen das eine Stunde davon gelegene Schloß Weissenstein mit seinen vortrefflichen Fontainen und Cascaden sehenswürdig.2 Kein Herkules. Im separaten Eintrag zum Weißenstein, der nun noch ausführlicher die Wasserkünste beschreibt, ist auch 20 Jahre nach der Aufstellung der Herkulesfigur diese keine Erwähnung wert.3

In den Jahren 1732 bis 1764 erscheint der ‚Zedler‘. Mit 64 großformatigen Bänden ist es die eindrucksvollste deutschsprachige Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts. Über den Weißenstein ist zu lesen: Weissenstein, ein Fürstliches Schloß und Lust-Garten in Nieder-Hessen, eine Stunde, oder eine Meile, von Cassel, und dem Landgrafen von Hessen-Cassel gehörig, auf welches der Landgraf Carl viele Tonnen Goldes verwendet hat. Die es gesehen haben, können sonderlich die Grotten, Fontainen und Cascaden, nicht genug bewundern. Denn da ist auf dem sehr hohen Berge des Habichtwaldes, oder Habuchswaldes, oder des Winter-Kastens, (wie die dasige Gegend genennet wird) eine kostbare und rare Grotte, nebst einem künstlichen und so hoch erbaueten Thurme, von welchem man, bey heiterm Wetter, nach Mayntz in den Rhein sehen kann,4 und aus welchem das durch Röhren hinauf getriebene Wasser zu beyden Seiten, durch die künstlichen Fontainen und Cascaden, stuffenweise wieder herab fället, angeleget, und wird noch jährlich an dessen Perfection gearbeitet. Dieses Grotten-Werck, welches das unvergleichlichste in ganz Deutschland ist, kan mit allen Grotten-Wercken in ganz Europa streiten.5 Der Text ist teilweise wortgleich mit den Ausführungen von Hübner, weshalb konsequenterweise auch bei Zedler die Herkulesfigur fehlt. Der von Hübner und Zedler gesetzte Schwerpunkt der Beschreibung auf Wasserkünste und Aussicht wird von den nachfolgenden Enzyklopädien übernommen.

1751 räumt die berühmte französische Encyclopédie von Diderot und D’Alembert Cassel zwei Zeilen ein: eine große Stadt in Deutschland, Längen- und Breitengrade, mehr erfährt man hier nicht.6 Der Weißenstein ist nicht berücksichtigt und auch im Artikel „Cascade“ kennt man die größten Wasserkünste aus Deutschland nicht.

Die ‚Oekonomische Encyklopädie‘ von Johann Georg Krünitz aus den Jahren 1773 bis 1858 enthält keine geographischen Lemmata, so dass man in den 242 Bänden nur indirekt fündig werden kann.7 Die Artikel „Grotte“8 und „Lustberg“9 beachten den Karlsberg als Gesamtanlage mit Wohlwollen. Wenngleich die Herkulesfigur im Text keine Rolle spielt, zeigt der die Grotten illustrierende Stich10 die Kasseler Kaskadenanlage in Schrägansicht – und damit auch den Herkules. In den Artikeln „Monument“11 sowie „Leibes-Größe“12 dient der gewaltige Herkules in Cassel jeweils als Teil der aufgezählten Beispiele.

1796 bis 1808 erschien das sechsteilige ‚Conversations-lexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten‘ von Renatus Gotthelf Löbel und Christian Wilhelm Franke. Der Weißenstein findet in der knappen Beschreibung der Stadt „Cassel“ Erwähnung: (in der Nachbarschaft): das Schloß Weißenstein; der Garten und die Cascada daselbst, nebst dem riesenmäßigen Herkules auf dem Gipfel desselben […].13 Damit ist die Herkulesfigur – 80 Jahre nach ihrer Aufstellung – enzyklopädisch eingeführt. Friedrich Arnold Brockhaus kaufte die „Löbel-Ausgabe“ und führte sie in neuen Auflagen fort. In seinem in Amsterdam in den Jahren 1809 bis 1811 verlegten sechsbändigen ‚Conversations-Lexikon‘ bleibt der Artikel über ‚Cassel‘ mit dem benachbarten Weißenstein völlig unverändert.14 In der 4. Auflage von 1817 wird die „Wilhelmshöhe“, wie der Weißenstein seit 1798 bezeichnet wird, als „irdisches Paradies“ vorgestellt. Ihre Anlagen, die zu den merkwürdigsten Europas zu zählen seien, werden geradezu ausschweifend beschrieben. Die über mehrere Seiten reichende, ciceroneartige Schilderung schraubt sich mit der Aufzählung aller Details und Bauwerke vom Schloss bis zur Bergspitze und würdigt ausführlich – exakt 100 Jahre nach ihrer Aufstellung – die Herkulesfigur: Oben auf dieser Pyramide steht auf einem 11 Fuß hohen Piedestal die kolossale Statue des Farnesischen Herkules, in der umliegenden Gegend der große Christoph genannt, und krönt die Spitze des ganzen bewundernswürdigen Gebäudes. Drei Jahre nachher, als Guernieri den großen Bau vollendet hatte, nämlich im Jahre 1717, wurde sie an ihrem jetzigen Platze aufgestellt; sie ist aus Kupfer getrieben und 31 Fuß hoch. Das Piedestal und die Bildsäule selbst sind hohl und auf Leitern kann man bis in die kupferne Keule, worauf der Koloß seinen kräftigen Arm stützt, steigen; diese Keule ist von solcher Größe, daß zwölf erwachsene Personen darin Raum haben; in derselben ist eine Thür angebracht, deren Öffnung theils die außerdem hier herrschende finstere Nacht in eine Dämmerung verwandelt, theils dazu dient, die unbeschränkteste und herrlichste Aussicht sogar bis zum Inselberg bei Gotha und bis zum Brocken hin zu gewähren.15 Die Genauigkeit des Brockhaus setzt Maßstäbe für die folgenden Nachschlagewerke. Die Herkulesfigur mit ihrer gewaltigen Größe wie auch die Bezeichnung „großer Christoph“ sind ab jetzt enzyklopädietauglich.

Um einen Brockhaus-Nachdruck – eigentlich Raubdruck – handelt es sich bei dem inaktuellen Conversations-Lexicon von Macklot, der noch 1819 den längst in Wilhelmshöhe umbenannten „Weißenstein“ als Lemma führt.16

Erfolglos bleibt die Recherche in der großen deutschsprachigen Enzyklopädie von Ersch und Gruber. In den Jahren 1818 bis 1889 erschienen nicht weniger als 167 Bände, die allerdings beim Buchstaben P enden. Im vierspaltigen Artikel über „Cassel“ gehört die „prächtige Wilhelmshöhe“ zu den aufgezählten Besonderheiten, die die Stadt vorzüglich anziehend machen, dennoch wird sie an dieser Stelle nicht näher beschrieben.17

Die 31. Auflage von Johann Hübners ‚Conservations-Lexikon‘ von 1824 würdigt beim Stichwort „Wilhelmshöhe“ zunächst die Bauten Kurfürst Wilhelms. Danach heißt es hier: Der Karlsberg oder der Winterkasten mit dem Riesenschloß sind frühere Anlagen. Aus der Keule des Herkules blickt man nach dem gothaer Inselberg.18

In David Brewsters ‚Edinburgh Encyclopaedia‘ wird die Wilhelmshöhe im einspaltigen Artikel über „Cassel“ als herausragendes Reiseziel gerühmt. Aus der Ferne gewinnt die mächtige Figur an Bedeutung: In the neighbourhood of Cassel is the beautiful castle of Wilhelmshohe, formerly Weissenstein, which is visited by all strangers. The fine cascades; the colossal Hercules of Winterkasten; the lofty jet d’eau; the Loweenbourg …19


1 Carl Herloßsohn, Damen Conversations-Lexikon. Titelblatt von Bd. 6, 1836

Als eine der imposantesten Städte Deutschlands bezeichnet das zehnbändige ‚Damen Conversations-Lexikon‘ von 1834 bis 1838 (Abb. 1) die Stadt Kassel: Eine Stunde von der Stadt liegt Wilhelmshöhe, ein im edlen Stile gebautes Schloß mit herrlichem Parke, ferner die Löwenburg mit Einsiedeleien, Cascaden, Fontainen, einer 127 F. hohen Säule des Herkules.20 Doppelt hält besser: im Beitrag über „Wilhelmshöhe“ zählt „die Bildsäule des Herkules“ zur „höchst interessante[n] Zusammenhäufung von Sehenswürdigkeiten“.21

Über drei Spalten reicht die umfangreiche Darstellung der Wilhelmshöhe in Pierers ‚Universal-Lexikon‘ aus dem Jahre 1836, die in der Beschreibung des Herkules gipfelt: … auf dem Plateau dieser Pyramide ist endlich die kolossale Statue des Hercules (auch der große Christoph genannt) aufgestellt, sie ist ohne das 11 Fuß hohe Piedestal, 31 Fuß hoch aus Kupfer (von Küper 22 1717) verfertigt. Durch das Piedestal kann man auf Leitern bis in die Keule des Hercules steigen, der untere Theil derselben hat 9 Fuß im Durchmesser, so daß mehrere Personen darin stehen können, es ist auch eine Fensteröffnung angebracht, durch welche man eine reizende Aussicht auf Kassel und zur Seite weithin zum Brocken hat.23 Pierer vergisst nicht, am Ende auf die teuren und schwierigen Reparaturen hinzuweisen.

Ganz anders sieht es dagegen im ‚Volks-Conversations-lexikon‘ (1848) aus, eine immerhin 18 Bände umfassende bescheidene Oktavausgabe der „Gesellschaft zur Verbreitung guter und wohlfeiler Bücher“. Die auf einen Satz komprimierte Aussage zur Wilhelmshöhe bietet keinen Platz für die Erwähnung der Herkulesfigur.24

Aufmerken lässt der Blick in die Urausgabe von Meyers ‚Conversations-Lexikon‘ (1839–1855). Die seinerzeit noch selbständige Wilhelmshöhe ist hier Teil des Artikels über „Kassel“. Im Meyer wird außerordentlich subjektiv geschwärmt vom „schönsten und großartigsten Garten auf deutscher Erde“. Wie bereits im Brockhaus ist auch hier vom „irdischen Paradies“ die Rede und völlig überwältigt heißt es: Die Worte unserer Sprache sind zu arm, um ein anschauliches Bild des Ganzen zu geben […]. Das Herkulesbauwerk selbst wird sachlicher bedacht: Dieses Gebäude, wegen seiner achteckigen Form auch das Oktogon genannt, besteht aus 3 über einander gestellten, von fast unzähligen Säulen getragenen Kreuzgewölben, welche oben in eine Plateform enden, über der sich eine 96 Fuß hohe Pyramide mit der kolossalen (mit dem Fußgestell 42 Fuß hohen) kupfernen Statue des auf seine Keule gelehnten Hercules erhebt.25

Auch in Herrmann Wageners ‚Neuem Conversations-Lexikon‘ findet man die Wilhelmshöhe im Artikel über Kassel: In dem genannten Jahre wurde das Octogon begonnen, und im Jahre 1717 mittels Aufsetzung der kupfernen Statue des Herkules („des großen Christoph“, wie das Volk spricht) vollendet […].26

In ‚Chamber‘s Encyclopaedia‘ (1859–1868), eine für den englischen Bedarf überarbeitete Übersetzung des deutschen Brockhaus, erhält „Cassel“ einen knappen Abschnitt, in dem allerdings die Wilhelmshöhe nicht zu kurz kommt; diese wird gerühmt als the Germain Versailles, with their splendid fountains and cascades, and the colossal statue of Hercules, within the hollow of whose club eight persons can stand at one time […].27 Wenn die Wilhelmshöhe berücksichtigt wird, dann fehlt inzwischen auch nicht mehr der Herkules, dessen gigantische Größe am Ausmaß der begehbaren Keule verdeutlicht wird. Die Wilhelmshöhe sometimes called the Versailles of Germany ist auch in der 9. Auflage der ‚Encyclopaedia Britannica‘ (1875–1889) Teil des zweispaltigen Artikels über „Cassel“: […] and at the top is an octagon building called the Riesenschloss, surmounted by a colossal copper figure of the Farnese Hercules, 31 feet high, whose club alone is sufficiently capacious to accommodate from eight to ten persons.28

Im späten 19. Jahrhundert entsteht der mit Daten und Fakten angereicherte neutral-sachliche Lexikonstil. In Pierers ‚Konversations-Lexikon‘ von 1893 ist der Artikel über Wilhelmshöhe kurz. Zum Bergpark heißt es: Auf dem höchsten Punkte desselben erhebt sich das achteckige Riesenschloß (Oktogon), ein aus drei riesigen übereinander gestellten Tonnengewölben bestehender Bau, deren oberstes von 192 gekuppelten Säulen getragen wird. Auf der Plattform erhebt sich auf einer 31m hohen Pyramide die aus Kupfer getriebene Nachbildung des Farnesischen Herkules.29 Ähnlich zahlenlastig fällt die Beschreibung in der 14. Auflage des Brockhaus von 1908 aus, in welcher der Herkules immer noch den Beinamen „Der große Christoph“ trägt.30

Wilhelmshöhe wurde 1928 eingemeindet und damit Stadtteil von Kassel. So findet man konsequenterweise die Wilhelmshöhe in der 15. Auflage des Brockhaus von 1931 nicht mehr als selbständigen Eintrag, sondern als „Hauptanziehungspunkt“ der „Umgebung“ von Kassel. Die wesentlichen Fakten zu Schloß, „Hochwaldpark“ und Herkulesfigur werden umstandslos referiert. Illustriert wird der Kasselartikel mit zwei Fotografien, wovon eine den Herkules mit den Kaskaden zeigt.31

Für die ‚Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti‘ von 1933 krönt die Herkulesfigur den Park: A 4 km a O. si trova ai piedi ell’erto Habichtswald l’antica residenza estiva dell’elettore (Wilhelmshöhe), nota per i suoi giuochi d’acqua e per i suoi splendidi giardini, coronati dalla grande statua di Ercole.32

In der 24-bändigen 19. Auflage des Brockhaus (1990) reduzieren sich die Informationen zur Wilhelmshöhe auf neun Zeilen. Die Statue des Herkules gilt jetzt als „Wahrzeichen der Stadt“, was durch eine farbige Fotografie des Herkules über schäumenden Wasserkaskaden und unter blauem Himmel untermalt wird.33

Selbstverständlich wird der Wikipediaartikel über Kassel von einer Herkulesfotografie begleitet. Mehrfach wird der Herkules als Wahrzeichen der Stadt bezeichnet.34

Die chronologische Sicht auf die Erwähnung der Herkulesfigur in Allgemeinenzyklopädien zeigt, dass Schloss und Park Wilhelmshöhe bzw. ursprünglich der Weissenstein vom separaten Eintrag im Laufe der Zeit in das Lemma Kassel hinüberwachsen. Die Einzigartigkeit des Ortes wurde in der Vergangenheit vor allem in der Einfügung der großartigen Wasserkünste in die natürliche Topographie gesehen. Der Gegenstand unserer Recherche, die Herkulesfigur, findet ihren Platz allerdings erst 80 Jahre nach ihrer Errichtung in den einschlägigen Nachschlagewerken. Von da an gewinnt der Herkules an Wahrnehmung, Ansehen und Bedeutung. Die Eingemeindung von Wilhelmshöhe fällt zeitlich zusammen mit illustrierenden Abbildungen in den Nachschlagewerken, sodass ab den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts der Herkules mit den Kaskaden das Paradebild für Kassel abgibt. Vom Abbild zum Wahrzeichen ist es nur noch ein kleiner Schritt. Der Herkules rückt damit von der zunächst vergessenen zur sachlich vermessenen Randfigur und schließlich zum abgebildeten Wahrzeichen der Stadt Kassel auf und nicht nur deswegen gehört er auf jeden Fall zur Allgemeinbildung.

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1 Johann HÜBNER, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon, 9. Auflage, Leipzig 1719, Sp. 2014.

2 Johann HÜBNER, Reales Staats-, Zeitungs- und Conversationslexicon, neue mit nöthigen und nützlichen Kupfern versehene Auflage, Leipzig 1737, Sp. 396.

3 Ebd., Sp. 2176.

4 Vgl. in diesem Buch Siegfried HOSS und Andreas SKORKA, Herkules als Landmarke und als Aussichtspunkt.

5 Johann Heinrich ZEDLER, Großes vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Halle–Leipzig 1732–1754, 64 Bände, Bd. 54, 1747, Sp. 1403-1404.

6 Denis DIDEROT, Jean Le Rond D’ALEMBERT, Encyclopedie, ou dictionnaire raisonnè des sciences, des arts et des métiers, Paris 1751–1772, 28 Bände, T. 2, 1751, S. 746.

7 Für den freundlichen Hinweis danke ich Christian Presche.

8 Johann Georg KRÜNITZ, Ökonomisch-technologische Enzyklopädie, Berlin, 1773–1858, 242 Bände, Bd. 20, 1780, S. 149, (elektronische Ausgabe der Universitätsbibliothek Trier http://www.kruenitz.uni-trier.de/).

9 Ebd., Bd. 81, 1801, S. 773.

10 Ebd., Bd. 81, 1801, Fig. 1073.

11 Ebd., Bd. 93, 1803, S. 676.

12 Ebd., Bd. 72, 1797, S. 167.

13 Conversationslexikon mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten, Leipzig, Friedrich August Leupold, 1796–1808, 6 Theile, 1. Theil 1796, S. 242.

14 Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung aus den Wissenschaften und Künsten vorkommenden Gegenstände mit beständiger Rücksicht auf die Ereignisse der älteren und neueren Zeit, in sechs Bänden, Amsterdam, 1809–1811, Bd. 1, 1809, S. 242.

15 Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, 4. Orig.-Aufl. Altenburg, Brockhaus 1817–1819, 10 Bände, Bd. 10, 1819, S. 616–619.

16 Conversations-Lexicon oder enyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, Neue Ausgabe, Stuttgart, Macklot 1819, 7 Bände, Bd. 7, 1819, S. 739.

17 Johann Samuel ERSCH, Johann Gottfried GRUBER, Allgemeine Encyclopaedie der Wissenschaften und Künste, Leipzig 1818–1850, 167 Bände, 15. Th., 1826, S. 271.

18 Johann HÜBNER, Johann Hübner’s Zeitungs- und Conversations-Lexikon, […] erweitert, umgearbeitet und verbessert von F. A. RÜDER, 31. Auflage Leipzig, 1828, 4 Bände, Bd. 4, S. 946.

19 David BREWSTER, The Edinburgh Encyclopaedia, Edinburgh 1830, 18 Bände, Bd. 5, S. 602.

20 Carl HERLOSSSOHN, Damen Conversations-Lexikon, hg. im Verein mit Gelehrten und Schriftstellerinnen von C. Herloßsohn, Leipzig 1834–1838, 10 Bände, Bd. 6, 1836, S. 89.

21 Ebd., Bd. 10, 1838, S. 445–446.

22 Vgl. in diesem Buch Joachim SCHRÖDER, Herkules in Festen und Jubiläen.

23 H. A. PIERER, Universal-Lexikon oder vollständiges encyclopädisches Wörberbuch, Altenburg 1836, 26 Bände, Bd. 26. 1836, S. 174.

24 Volks-Conversationslexikon. Umfassendes Wörterbuch des sämmtlichen Wissens, … hg. von der „Gesellschaft zur Verbreitung guter und wohlfeiler Bücher“, Stuttgart 1844–1848, 18 Bände, Bd. 18, 1848, S. 236.

25 Joseph MEYER, Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Original-Ausgabe, Hildburghausen [u. a.] 1839–1855, 46 Bände, Bd. 17, 1850, S. 801.

26 Herrmann WAGENER, Neues Conversations-Lexikon, Staats- und Gesellschafts-Lexikon, Berlin Heinicke, 1859–1867, 23 Bände, Bd. 5. 1861, S. 128.

27 CHAMBERS’s Encyclopaedia, a dictionary of universal knowledge for the people, London, 1859–1868, 10 Bände, Bd. 2, 1861, S. 653.

28 The Encyclopaedia Britannica, a dictionary of arts, sciences, and general literature, 9. ed., Edinburgh, 1875–1889, 24 Bände, Bd. 5, 1876, S. 183.

29 PIERERS Konversations-Lexikon, hg. von Joseph Kürschner, 7. Auflage, Berlin [u.a.] 1888–1893, 12 Bände, Bd. 12, 1893, Sp. 1281.

30 BROCKHAUS’ Konversations-Lexikon, 14. Auflage, Leipzig 1908, 16 Bände, Bd. 16, S. 738.

31 Der Große BROCKHAUS. Handbuch des Wissens in zwanzig Bänden, 15. Auflage, Leipzig 1928–1925, Bd. 9, 1931, S. 777.

32 Enciclopedia Italiana di scienze, lettere ed arti, Nachdruck von 1950, Roma 1929–1936, 35 Bände, Bd. 20, 1933, S. 135.

33 BROCKHAUS Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Auflage, Mannheim 1986–1994, 24 Bände, Bd. 11. 1990, S. 519.

34 https://de.wikipedia.org/wiki/Kassel. Eingesehen am 27.09.2015.

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Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
363 s. 122 illüstrasyon
ISBN:
9783933617682
Yayıncı:
Telif hakkı:
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