Kitabı oku: «Der undankbare Kontinent?», sayfa 5

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Die Politik der Ignoranz

Und so wird die Rede abgespult gemäß dem gesegneten Vorsatz, den Gegenstand zu ignorieren, als hätte es während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht einen beeindruckenden Zuwachs an Wissen über die Wandlungen und die longue durée der afrikanischen Welt gegeben.

Über den unschätzbaren Beitrag, den die afrikanischen Forscher selbst zur Erkundung ihrer Gesellschaften und zur internen Kritik ihrer Kulturen geleistet haben, manchmal mit Strenge, immer mit Menschlichkeit, will ich hier gar nicht sprechen. Manche von uns Heutigen haben wichtige Beiträge zu dieser kritischen Forschung erbracht. Aber ich spreche von den Milliarden, die die französische Regierung aus ihrem eigenen Budget in dieses große Unternehmen investiert hat, so dass mir unerklärlich ist, wie vor dem Hintergrund einer solchen Investition jemand heute noch derart befremdliche Reden über den Kontinent schwingen kann.

Was verbirgt sich also hinter dieser Politik der freiwilligen und absichtsvollen Ignoranz?

Wie kann man sich an der Universität Cheikh Anta Diop im Dakar des beginnenden 21. Jahrhunderts hinstellen und die geistige Elite so anreden, als hätte Afrika keine eigene Tradition der Kritik, als wären Senghor und Camara Laye, diese Sänger des empfindsamen Negers und des Zauberreichs der Kindheit, nicht aus den eigenen Reihen scharf kritisiert worden?

Wie glaubhaft kann ein Lamento sein, das aus den Afrikanern zutiefst traumatisierte Geschöpfe macht, unfähig zu selbständigem Handeln in Umsetzung wohlverstandener Eigeninteressen? Was ist das für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kontinents, die die lange Tradition der Widerstandsbewegungen total verschweigt, sowohl die Tradition des Widerstands gegen den französischen Kolonialismus wie auch die heutigen Kämpfe für die Demokratie, die keinerlei offene Unterstützung durch ein Land erfahren, das seit langem aktiv die Partei der lokalen ­Satrapen ergreift. Wie kann man uns das Hirngespinst eines Euro-Afrika versprechen, ohne nur ein Wort über die Bemühungen der Afrikaner um die Schaffung eines gesamtafrikanischen Wirtschaftsraums zu verlieren? Was ist eigentlich mit der Fülle an Informationen passiert, die das Institut für Entwicklungsforschung und die Arbeitsgruppen des Centre National de la Recherche Scientifique gesammelt haben? Was wurde aus den thematischen Schwerpunkten all der Tagungen, die afrikanische und französische Forscher zusammenführten und so viel für ein besseres Verständnis des Kontinents geleistet haben? Wie würdigt man den Idealismus, der diese Kongresse, an denen ich mehr als einmal teilnehmen durfte, inspirierte? Wie kann man so tun, als hätte nicht Georges Balandier schon in den 1950er Jahren in Frankreich selbst die fundamentale Modernität der afrikanischen Gesellschaften gezeigt;30 als hätten nicht Claude Meillassoux, Jean Copans, Emmanuel Terray, Pierre Bonafé neben vielen anderen die innere Dynamik der Ungleichheit erzeugenden Faktoren vorgeführt;31 als hätten nicht Catherine Coquery-Vidrovitch, Almeida Topor und Jean Suret-Canale (wieder neben mehreren anderen) die Brutalität der Gesellschaften, welche Konzessionen vergeben, und die Doppelbödigkeit der kolonia­len Wirtschaftspolitik deutlich gemacht;32 als hätten nicht Jean-François Bayart33 und die Revue Politique Africaine mit der Illusion aufgeräumt, die afrikanische Unterentwicklung erkläre sich durch Afrikas »Abkehr von der Welt«; als hätte nicht Jean-Pierre Chrétien neben vielen anderen Geographen den sich in nachhaltigen Agrartechniken manifestierenden Erfindungsreichtum bewiesen;34 als hätten nicht Alain Dubresson, Annick Osmont und andere das unglaubliche Völkergemisch in den afrikanischen Städten dargestellt;35 als hätte nicht Jean-Pierre Warnier die Vitalität der Wertschöpfungsmechanismen in Westkamerun beschrieben36 und so weiter …!

Ablehnung der Verantwortung

Die Leier über die Kolonisierung und die Verweigerung der »Zerknirschung« stammen direkt aus den Gedankenspielen von ­Pascal Bruckner,37 Alain Finkielkraut,38 Daniel Lefeuvre39 und wie sie alle heißen. Aber wem kann man einreden, dass es keine moralische Verantwortung gibt für die Taten, die in der Geschichte eines Staates begangen wurden? Wer soll glauben, dass, wer eine humane Welt erschaffen will, Moral und Ethik über Bord werfen muss, da nun einmal Recht und Gerechtigkeit in dieser Welt nicht ­existieren?

Jene, die ein ungerechtes System weißwaschen wollen, geben heute gerne der Versuchung nach, die Geschichte Frankreichs und seines Kolonialreichs neu zu schreiben, indem sie daraus eine Geschichte der »Befriedung« machen, eine Geschichte der »Erschließung von unbebauten Gebieten, die niemandem gehören«, der »Verbreitung von Schulbildung«, des »Aufbaus einer modernen Medizin« sowie der Schaffung eines modernen Straßen- und Eisenbahnnetzes. Dieses Argument gründet sich auf die alte Lüge, der zufolge die Kolonisation ein menschenfreundliches Unternehmen war und zur Modernisierung der alten, in Auflösung befindlichen Primitivgesellschaften beitrug. Hätte man sie sich selbst überlassen, nicht wahr, dann hätten sie sich am Ende wahrscheinlich selbst zerstört.

Wer die Kolonisation so darstellt, wie in der Rede von Dakar geschehen, umgibt sich mit dem Nimbus tiefer Aufrichtigkeit und echter Gefühle, um die Suche nach Alibis für eine überaus grausame, widerliche und gemeine Sache zu erleichtern – auch wenn nur er selbst an diese Alibis glaubt. Behauptet wird, dass die Eroberungskriege, die Massaker, die Deportationen, die Raubzüge, die Zwangsarbeit, die Rassendiskriminierung als ­Institution, dass all das nur die »Verfallsgeschichte einer großen Idee« war oder, wie Alexis de Tocqueville erklärt, »bedauerliche Zwänge«.40

Wenn man von Frankreich verlangt, es möge bekennen, dass die Kolonialherrschaft »hart, gewalttätig, willkürlich und primitiv« gewesen ist, so wie es der genannte Tocqueville getan hat, oder wenn man erreichen möchte, dass Frankreich aufhört, in Afrika korrupte Diktaturen zu unterstützen, so bedeutet das nicht, dass man Frankreich verleumdet oder hasst. Es bedeutet nur, dass man fordert, es möge seine Verantwortung wahrnehmen und dem gerecht werden, was es als seine universelle Berufung definiert. Diese Forderung ist angesichts der heutigen Verhältnisse unbedingt notwendig. Insbesondere wenn es um Frankreichs koloniale Vergangenheit geht, muss eine Politik der unbegrenzten Unverantwortlichkeit einer strengen, durchdachten und andauernden Kritik unterzogen werden.

Andererseits gilt es, konsequent zu sein und aufzuhören, über die Kolonisation im Sinne einer »variablen Geometrie« zu sprechen41 – bald für den internen Gebrauch, bald für den Export. Wen will man denn vom guten Willen überzeugen, wenn man die eigene Aufrichtigkeit hervorkehrt, wie in Dakar geschehen, und ganz nebenbei versucht, das Kolonialsystem salonfähig zu machen, indem man trachtet, so üble Gestalten wie Raoul Salan42 posthum zum Marschall zu ernennen oder für Killer wie Bastien-Thiry, Roger Degueldre, Albert Dovecar, Claude Piegts und andere ihres Schlags ein Denkmal zu errichten.43

Schlusswort

Die Mehrheit der Afrikaner lebt weder in Frankreich noch in den ehemaligen französischen Kolonien. Sie bemüht sich auch nicht um Emigration ins europäische Frankreich. Millionen von Afrikanern gehen täglich ihrem Beruf nach und hängen von keinem Hilfsprogramm Frankreichs ab. Im Kampf ums Überleben schulden sie Frankreich nichts, ebenso wenig wie Frankreich ihnen etwas schuldet. Und das ist gut so.

Darüber hinaus gibt es eine starke Beziehung auf kulturellem Gebiet, die viele von uns mit diesem alten Land, in dem wir Teile unseres Bildungswegs beschritten haben, verbindet. Dort lebt eine starke Minderheit von französischen Staatsbürgern afrikanischer Herkunft, Nachfahren von Sklaven und Kolonisierten, deren Schicksal uns keineswegs gleichgültig ist, nicht anders als das Schicksal der illegalen Einwanderer, die nicht konform mit den Gesetzen sind, aber dennoch ein Anrecht auf menschliche Behandlung haben.

Seit Fanon wissen wir, dass es unsere Aufgabe ist, die ganze Weltgeschichte neu zu gestalten; dass wir nicht das Vergangene auf Kosten unserer Gegenwart und unserer Zukunft lobpreisen dürfen; dass die »Seele des Negers« eine Erfindung der Weißen ist; dass es ›den Neger‹ nicht gibt, ebenso wenig wie ›den Weißen‹; und dass wir uns nur auf uns selbst stützen können.44

Heute wissen viele ganz genau – sogar unter den frankophonen Afrikanern, deren Unterwürfigkeit gegenüber Frankreich besonders ausgeprägt ist, unterliegen sie doch der Verführung durch den Heimatmythos und die Opferrolle –, dass das Schicksal des Kontinents und wohl auch seine Zukunft nicht von Frankreich abhängen. Nach einem halben Jahrhundert der formalen Entkolonisierung haben die jungen Generationen gelernt, dass von Frankreich nicht allzu viel zu erwarten ist, ebenso wenig wie von den anderen Weltmächten. Die Afrikaner werden sich entweder selber retten oder zugrunde gehen.

Sie wissen auch, dass manche dieser Weltmächte mehr Schaden anrichten als andere. Angesichts unserer vergangenen und gegenwärtigen Verwundbarkeit können wir nicht viel mehr tun, als dieser Macht zum Schaden-Anrichten Grenzen zu setzen. Eine solche Haltung hat mit Hass gegen irgendjemanden nichts zu tun. Im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung für eine Politik der Gleichheit, ohne die es keine Weltgemeinschaft geben kann.

Wenn somit Frankreich eine positive Rolle in der Durchsetzung dieser Weltgemeinschaft spielen will, muss es seine Vorurteile aufgeben. Seine neuen Eliten müssen die schwierige Geistesarbeit leisten, ohne die politische Freundschaftsbekundungen keinen Sinn haben. Man kann nicht, wie in Dakar geschehen, zu einem Freund sprechen, ohne ihn anzusehen. Zur Freundschaft fähig sein bedeutet, in seinem Freund den möglichen Feind zu ­respektieren, wie Jacques Derrida betont hat.45

Der kulturelle und intellektuelle Blickwinkel, unter dem die neuen französischen Machteliten Afrika betrachten, beurteilen oder belehren, ist heute nicht nur überholt. Er lässt auch keinen Raum für freundschaftliche Beziehungen, die der Freiheit ein Zeichen setzen würden, da sie mit von Gerechtigkeit und Respekt geprägten Beziehungen vereinbar wären. Wenn es um Afrika geht, fehlt Frankreich derzeit schlicht der moralische Kredit, der es ihm erlauben würde, mit Gewissheit und Autorität zu sprechen.

Aus diesem Grund wird die Rede des Nicolas Sarkozy in Dakar weder Gehör finden, noch von denen, an die sie sich richtete, ernst genommen werden.

Übersetzt von Fritz Peter Kirsch

Für Makhily Gassama
Doppelbödigkeit und Geschichtsschacher
Zohra Bouchentouf-Siagh

Zohra Bouchentouf-Siagh ist Absolventin der École Normale Supérieure im Fach Lettres Modernes Françaises. Sie hat am Institut de Phonétique et de Linguistique in Alger sowie an der Universität René Descartes – Paris V Sorbonne Sprachwissenschaft studiert. Ihre Dissertationen betreffen die Dialektologie und die Soziolinguistik des Maghreb: Les parlers arabes de l’Ouest algérien. Approche phonologique, Alger 1976, Les usages linguistiques dans la langue du théâtre amateur, Paris 1984, Paroles maghrébines, Alger 2004.

Lehre und Forschung am Institut des langues étrangères von Alger und am Institut für Romanistik der Universität Wien.

Herausgeberschaft:

Dzayer, Alger. Ville portée, rêvée, imaginée. Lectures autrichiennes, Alger, Casbah Éditions, 2006.

Zeitschrift Quo vadis Romania?: Leitung der Nummern 11/1998 (Algérie des femmes. Approches littéraires et linguistiques) und, gemeinsam mit Peter Cichon, 21/2002 (Le Sénégal, un modèle de gestion et de promotion des langues nationales en ­Afrique?)

Monographie gemeinsam mit Peter Kampits: Zur Aktualität von Albert Camus, Wien, Picus, 2001.

Zahlreiche Aufsätze in Zeitschriften. Vorträge im Rahmen von algerischen und internationalen Kolloquien über Themen aus dem Bereich der Didaktik, der ­Soziolinguistik, der »frankophonen« Literaturen und des Kulturlebens während und nach der Kolonisation in den vormals unter französischer Herrschaft befindlichen Ländern.

Vor dem Recht eines einzigen Menschen haben Interessen einer Nation betreffend Macht und Reichtum völlig zu verschwinden; andernfalls ist kein Unterschied mehr auszumachen zwischen einer geordneten Gesellschaft und einer Diebsbande.

Condorcet46

Am 26. Juli 2007 hielt der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy an der Universität Cheikh Anta Diop in Dakar eine Rede, deren Form und Inhalt afrikanische LeserInnen – auch bei großer Vertrautheit mit den ideologischen und propagandistischen Texten, welche die Kolonisation in den letzten Jahrhunderten hervorgebracht hat – einigermaßen aus der Fassung bringen muss. Was ­einem da zugemutet wird? Ein gespreizter Stil, der die Kümmerlichkeit der Argumentation nicht einmal notdürftig kaschiert; Zitate ohne Quellenangabe, die dem ursprünglichen Zusammenhang entrissen und zu einer simplen Blütenlese entstellt werden; eine erstaunliche Unkenntnis der Geschichte der afrikanischen Völker und Kulturen … und vor allem der unglaubliche Dünkel eines von seiner Allwissenheit überzeugten Oberlehrers! Ist der erste Lese­eindruck einmal verdaut und der erste Zorn verraucht, möchte man klarer sehen und verstehen: Wie und warum konnte sich ein französischer Politiker im Jahr 2007 anmaßen, auf afrikanischem Boden vor afrikanischem Publikum solche Aussagen zu treffen? Und vor allem: Auf welchem Gedankengebäude, auf welcher Ideologie beruht heute seine Haltung gegenüber Territorien, die sein eigenes Land früher ausbeutete? Nach einer kurzen Erörterung von Hilfsmitteln der Textanalyse (für studentische LeserInnen und / oder Nicht-Fachleute) werde ich versuchen, die Grundhaltung dieser Rede darzustellen: Sie bewegt sich in historischer und ideologischer Hinsicht konstant auf doppeltem ­Boden.

Begriffe der Erzähltheorie

In der Erzähltheorie wird für gewöhnlich auf der Basis formaler Eigenschaften zwischen zwei Texttypen unterschieden: Bericht und Diskurs.

1. Der Bericht erzählt Ereignisse, die im Medium der Zeit vorgefallen sind (oder vorfallen werden); dazu verwendet er auf spezifische Weise nicht nur das Verbalsystem – Modi und Tempora –, sondern auch die Personalpronomen (er/sie/man, unpersönliche Formen etc.). Auf diese Weise ergeben sich im Bericht Unterscheidungen auf zwei Ebenen: einerseits zwischen den erzählten Ereignissen und der Art, wie sie erzählt werden; andererseits zwischen den verschiedenen Standpunkten, von denen aus die Erzählung dieser Fakten gestaltet wird. Gemeinhin kann man mindestens drei Standpunkte festmachen: Entweder der Erzähler ist allwissend, dann kennt er sogar das Innenleben der einzelnen Personen in seinem Bericht (beziehungsweise der einzelnen Figuren, wenn es sich um ein fiktionales Werk handelt); oder der Erzähler bezieht einen externen Standpunkt mit eingeschränktem Gesichtsfeld, insofern er nur berichtet, was er sieht, und so den Eindruck von Objektivität, von fehlender eigener Gefühlssphäre, von Verzicht auf Meinungsäußerungen vermittelt; oder er bezieht einen internen, zwangsläufig partiellen und parteiischen Standpunkt, weil er selbst Teil seiner Geschichte, mithin der erzählten Fakten ist.

2. Ein Diskurs liegt vor, wenn jemand das Wort ergreift, um in mündlicher oder schriftlicher Form seine Vorstellungen, Kommentare oder Analysen darzulegen, und zwar als selbst zu verantwortenden Redebeitrag (der dementsprechend stark – oder schwach – modalisiert wird, etwa durch Markierungselemente der Beurteilung oder Einschätzung). Sprachliche Markierungen des Diskurses sind beispielsweise der Einsatz der direkten Rede, die Verwendung des Präsens oder der Personalpronomen ich/wir und du/ihr/Sie.

So weit – zur Erinnerung – jene Basisbegriffe, die jedem/r SekundarschülerIn in Dakar oder anderswo ausreichend geläufig sind, um die Ansprache von Nicolas Sarkozy als Beziehungs­geflecht zwischen dem, was gesagt wird, und der Art, wie es gesagt wird, »dekodieren« zu können. Neben ästhetischen Optionen (die man in dieser Ansprache übrigens vergeblich sucht, das überstrapazierte Stilmittel der Emphase einmal ausgenommen) bildet vor allem die ideologische Einstellung den »Fundus«, aus dem der Text gestaltet wurde. Es ist so gut wie unmöglich, alle die unzähligen Aspekte dieser geschwätzigen, hohlen, unverdaulichen, an der Grenze zur Beschimpfung angesiedelten Rede des Mannes, der das höchste Staatsamt in Frankreich bekleidet, zu berücksichtigen. Was hier durch die Analyse der formalen Anlage dieses Sermons und einiger Textbeispiele geleistet werden soll, ist die Offenlegung der Ideologie, welche ihm zugrunde liegt.

Die doppelte Diskursinstanz und der doppelte ideologische Boden

Da es in Dakar um eine Ansprache bzw. Rede ging, könnte man erwarten, nur den spezifischen Diskursmarkierungen (siehe oben), also persönlichen Aussagen zu begegnen, für die Nicolas Sarkozy die volle Verantwortung übernimmt. Dem ist aber nicht so: Unmittelbar stolpert man bei der Lektüre über die zweifache Aussageweise, die diesen Text durchgängig charakterisiert, eine deutlich wahrnehmbare doppelte Diskursinstanz. Da ist manchmal wie von ferne oder außen »die Rede« von es gab dies / das, von einem raunenden sie (gemeint jene Menschen), so als ob der Sprecher, N. Sarkozy, seiner jungen Zuhörerschaft traurige Geschichten erzählte, die jedoch längst vergangen, ja sogar definitiv in der Vergangenheit begraben sind. Dann wieder richtet sich eine ungestüme erste Person an dieselbe Zuhörerschaft, ein »Ich, Nicolas Sarkozy, Staatspräsident von Frankreich«, ein »Ich, Frankreich«, das die »Elite der afrikanischen Jugend« direkt anzusprechen wünscht. Dazu folgende Textbeispiele:

Ich bin gekommen, um zu Ihnen offen und ehrlich zu sprechen […] Ich bin nicht gekommen, Fehler und Verbrechen zu leugnen, denn Fehler und Verbrechen hat es sehr wohl gegeben. Es gab den Sklavenhandel, es gab die Sklaverei: Männer, Frauen, Kinder – gekauft und verkauft wie Waren. Und das war nicht nur ein Verbrechen an den Afrikanern. Das war ein Verbrechen am Menschen, an der ganzen Menschheit. […] Sie wollten den afrikanischen Menschen bekehren, wollten ihr Ebenbild aus ihm machen, sie maßten sich alle Rechte an, glaubten sich allmächtig […]

Auffallend sind zunächst die schamhaften und möglichst wenig expliziten Formulierungen »es hat gegeben/es gab, sie, das war« (die sich auch in anderen Textpassagen wiederfinden) sowie die Verben »wollen« und »glauben« (»sie wollten, sie glaubten«)47, die das tatsächlich Geschehene (»bekehren« und »aus ihm machen«, mit anderen Worten: die kulturellen und materiellen Verwüstungen, die im Namen der von der Kolonialmacht proklamierten »­zivilisatorischen Mission« begangen wurden) in schüchtern-intime Psychoszenchen verwandeln; alles wird zu einer trüben Brühe verkocht, in der Euphemismen und Ungenauigkeiten sich ineinander verklumpen, so dass man am Ende nicht mehr weiß, wer wann wo was getan hat und, vor allem, wem jeweils die historische Verantwortung zukommt … denn historische Verantwortung gibt es sehr wohl, auch wenn das Nicolas Sarkozy nicht passt, der ­eigentlich wissen müsste, dass es in Frankreich wie anderswo nicht möglich ist, die Knebelung von Erinnerung und Gewissen per Dekret zu verordnen! Aber kehren wir zurück zu der erwähnten doppelten Diskursinstanz. In ihr formt sich vor unseren ­Augen die Doppelbödigkeit dieser Rede. Tatsächlich erfüllt sie einen eindeutigen ideologischen Zweck: ­Einerseits vertuscht Sarkozy seine eigentliche, von Leugnung und Verantwortungsverweigerung bestimmte Denkrichtung, indem er die angesprochenen Fakten – jahrhundertelange Sklaverei sowie koloniale und neokoloniale Ausbeutung Afrikas durch Europa, unter anderem durch Frankreich – als neutrale, objektive und unparteiisch referierte, gewissenlos blanchierte (also durch Abbrühen bekömmlicher gemachte) historische Daten präsentiert, die man bitte schön zu kennen hat, weshalb ihre flüchtige Erwähnung genügt. Andererseits hilft dieses in Wahrheit bloß aufgekochte, an der Kolonialmythologie orientierte Geschichtsbild, in dem wohlweislich nur die »großen zivilisatorischen Verdienste« vermerkt werden, ­Sarkozy nun, ein düsteres Bild des Kontinents Afrika zu zeichnen, auf dessen Grundlage er schließlich zu einer »Renaissance« aufruft und vor den Augen seines Publikums die strahlende Zukunft dieser Wiedergeburt erstehen lässt – eine leicht erreichbare Zukunft, vorausgesetzt, man hört auf ihn und befolgt nichts Geringeres als die Empfehlungen des Monsieur Nicolas Sarkozy, seines Zeichens französischer Staatspräsident!

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22 aralık 2023
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362 s. 4 illüstrasyon
ISBN:
9783867549608
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