Kitabı oku: «(Des)escribir la Modernidad - Die Moderne (z)erschreiben: Neue Blicke auf Juan Carlos Onetti», sayfa 2
Santa María und ein gewisser 'Fictiozentrismus'
Victor Andrés Ferretti (Augsburg)
[E]t l'homme sera d'abord ce qu'il aura projeté d'être.
Non pas ce qu'il voudra être.
J-P. Sartre, "L'Existentialisme est un humanisme"
I.
In einer der prominentesten Ekphrasen der Literaturgeschichte, der homerischen Beschreibung des kunstvollen Achilles-Schildes (Il. 18, 468-608), flöten zwei unbedarfte Hirten ihre Herden mitten hinein in einen epischen Kontext – mit zu erwartendem Ausgang (vv. 520-529), denn was weiden Viehhüter auch auf einem Schlachtfeld? Später wird dann ein (Boten-)Hirte in der 'euripideischen' Rhesos-Tragödie (vv. 264-341) von Hektor darauf aufmerksam gemacht werden, gerade fehl am kriegerischen Platze zu sein – allein, dieses Mal ist es der überhebliche Heros, der den Zusammenhang eingangs verkennt.1 Gleichwohl, in beiden Fällen, Epos und Tragödie, mischt sich humiles Personal (Hirten) in eine sublime Textur (Epos / Tragödie) (hin)ein;2 und in beiden Fällen wird diese generische 'Transgression' explizit gemacht – mal ekphrastisch, mal szenisch vermittelt.
Wenn nun im 3. Jahrhundert vor Christus der Ahn der Hirten-Dichtung Theokrit in seinen Idyllen Hirten hexametrisch 'losflöten' lässt (eid. I etc.), wird ein traditionell episches Versmaß 'bukolisiert', was dann Vergil in seinen Bucolica nicht minder kunstgerecht weitertreiben wird, wie gerade die recusatio aus der sechsten Ekloge (vv. 1-12) bestätigt. Ohne hier auf diese bis in die Frühe Neuzeit bedeutsame Kontrastierung von epischer Gewalt und hirtlicher Stärke eingehen zu können,3 soll es hinreichen, mit den zwei 'klassischen' hirtlich-heroischen (Achilles-Schild / Hektor) Aufeinandertreffen auf ein poietisches Kontrastpotential hingewiesen zu haben, das man auch im Sinne metafiktionaler Diskrepanz begreifen könnte.
Ebendiese, so wird hier am Beispiel einer Erzählung Juan Carlos Onettis zu zeigen sein, wahrt bis in unsere Zeit ihre reflexive dýnamis, was wiederum viel mit einer bereits aristotelisch (poet. 9, bes. 1451a36-1451b33) konzedierten poietischen Kontingenz (d.h. Auch-anders-Möglichkeit) zu tun haben könnte, wonach Dichter probables (eikós) bzw. optatives (génoito) Potential (dynatá) von Welt, Geschichtsschreiber hingegen Gewisses (mén) eröffneten. Und spätestens wenn literarische Fiktion, wie zum Beispiel Onettis La vida breve (1950) vollführte, 'fictiologisch' agiert – sprich: ihren eigenen lógos narrativ behandelt, macht sie damit nicht nur ihre eigene Gewirktheit ausdrücklich, sondern auch das ihr eigene Möglichkeitsvermögen samt Potentialis. Zumal, wie Wolfgang Iser bereits eruiert hat,4 es gerade Kennzeichen literarischer Fiktionen ist, dass sie in der Regel ihren Modus des Als-ob selbst anzeigen (im Unterschied etwa zu anderen Fiktionen). Doch was passiert, wenn literarische Figuren gleichsam ihr eigenes Als-ob ausklammern und beginnen, andere literarische Figuren aus ihrer Welt(‑Fiktion) zu vertreiben? Dieser Frage soll nunmehr am konkreten Beispiel Onettis nachgegangen werden.5
II.
Wie sich mit Mario Vargas Llosa starkmachen ließe,1 hat Onetti – wie nur wenig andere Autoren der hispanoamerikanischen Moderne – die weltkonstitutive Funktion von Fiktionen und die daran gekoppelte Leistung von Imaginärem zur Signatur seines Œuvre gemacht. Denn was Romane wie die bereits erwähnte La vida breve, aber auch El astillero (1961) gekonnt entfalten, das steht in der Traditionslinie von Miguel de Cervantes' uneingeholtem Don Quijote (1605/15) –2 einem Als-ob-Ritter, der hinauszieht, um seine Um-Welt mit seinem Imaginären zu konfrontieren.3 Onettis Juan María Brausen wiederum, der Begründer der imaginären Stadt Santa María, er wird sich ein Alter Ego namens Arce für sein präpotentes Zuhälter-Rollenspiel zulegen und sich zudem als Díaz Grey in seine selbsterschaffene (Kleinstadt-)Fiktion hineinprojizieren, wobei sich am Ende des zweiteiligen Romans alle drei Ichs zu einem triadischen Brausen-Arce-Díaz Grey–Subjekt zusammenfügen, das in Santa María dann seine autopoietische "felicidad" (VB II, cap. XVII, 717) erlangt.4 Onetti inszeniert so in La vida breve eine mustergültige accouplage von Realem, Fiktivem und Imaginärem im Modus des Als-ob – in einer Zeit, als es noch kein (Social Media-)Internet gibt und folglich Second Life und Virtual Reality offline realisiert werden müssen.5
Gehört das reflektierte Modellieren von Welt(gestaltigem) seit jeher zum Standardrepertoire literarischer Fiktionen, wie nicht zuletzt U- und Dystopien bezeugen, potenziert Onettis La vida breve metafiktionale Reflexion insofern, als diese durch Santa María gleichsam selbstreferentiell verortet wird. Dabei waren wir Lesenden nicht nur dabei, als diese imaginäre Kleinstadt zum ersten Mal entworfen wurde (La vida breve), nein, wir werden auch in einer Vielzahl von weiteren Onetti-Erzählungen immer wieder damit konfrontiert. Auf diese Onetti'sche Weise tritt Santa María gewissermaßen die moderne Nachfolge des bukolischen Arkadien an – einer metafiktionalen Gegend, die von Vergil über Iacopo Sannazaros Arcadia (1504) dann zum hybriden Literaturraum par excellence werden konnte, in dem Reales und explizit Fiktionales signifikant verklammert werden.6 Diese konstitutive Kopräsenz von Realem und – wohlgemerkt – Meta-Fiktionalem ist es auch, die Santa María kennzeichnet, wie Juan José Saer akzentuiert:
[L]a Santa María de Onetti coexiste con la dimensión empírica propia al autor y a los personajes; es uno de los puntos del triángulo que la pequeña ciudad de provincia forma con Buenos Aires y Montevideo. Esa coexistencia de las dos instancias es primordial para los objetivos del libro [La vida breve].7
So macht die Komplexität Santa Marías aus, dass es sich um eine dezidiert imaginäre Stadt handelt, die sowohl auf reale ('Río de la Plata' u.a.) wie fiktionale (Arce u.a.) Referenzen rekurriert, um schlussendlich lebendig, ja, 'lebbar' zu werden (triadisches Ich u.a.). Mit anderen Worten: Es handelt sich um eine imaginäre Stadt im Zeichen des Imaginären, wie vor allem Onettis dort angesiedelte Meister-Erzählung Jacob y el otro (1961) bewiese, wo am Ende das – vom Promoter Orsini befeuerte und vom Erscheinungsbild des verbrauchten Ringers Jacob van Oppen beteuerte – Imaginäre obsiegt. Nur in Santa María, so ließe sich vermuten, kann ein 'traumatisierter Alkoholiker' (JO, cap. 5) es mit einem scheinbar überlegenen 'Recken' (cap. 4) im Ring nicht nur aufnehmen, sondern den ungleichen Agon auch für sich entscheiden. Wobei die Art und Weise charakteristisch ist (cap. 6): Mario, der junge Kraftprotz und damit quasi die Real-Evidenz in Person, er wird gleich in der ersten Runde aus dem Ring des – nach dem antiken Gott der Dichtung benannten Veranstaltungsortes – Apolo geschmissen und muss dann von dem Arzt in Santa María (Díaz Grey?) wieder 'zusammengeflickt' werden. Drastischer könnte man die Dominanz des Imaginären ("El campeón […]." JO, cap. 6, 142) in Santa María wohl nicht anschaulich machen: auf der einen Seite die glorreichen Zeiten des gealterten van Oppen, auf der anderen die scheinbare Überlegenheit des bulligen Mario; doch am Ende gewinnt der reife Kämpfer eindrucksvoll kraft téchnē – eines kunstfertigen Griffes, der den jugendstarken Hünen in die Zuschauerränge katapultiert und damit beweist, dass das Imaginäre in Santa María weit mehr darstellt als bloßen Schein.
Dass nun Onetti trotz der Gravitationskraft des Imaginären in seinem Werk keine entsprechende Metropole, sondern gerade eine imaginäre Kleinstadt evoziert, darf auch als Fingerzeig verstanden werden, wonach das Imaginäre, in der Regel zwischen Fiktion und Realität versprengt,8 als tertius inter pares gelten mag, es jedoch nicht 'wirklich' ist.9 Denn wie dann etwa der Astillero-Roman sinnig entfaltet, hilft Imaginäres Menschen manchmal, reale Misere kreativ zu verwinden, indem man Identitätstiftendes (Werft) weiter aufrechterhält, wiewohl es dafür schon kein Geld, kein Gehalt mehr gibt.10
Inwieweit Imaginärem bei Onetti nun nicht nur Anthropologisches, also Mensch(sein)bezügliches, sondern gerade auch Soziales eigen ist, soll im Folgenden anhand einer weiteren in Santa María angesiedelten Erzählung ergründet werden: der "Historia del Caballero de la rosa y de la Virgen encinta que vino de Liliput" (1956).
III.
Wie auch in Jacob y el otro siedelt Onetti in dieser sechsteiligen Geschichte zwei Fremde in Santa María an. In Ersterer werden Orsini und van Oppen vom einheimischen Arzt analeptisch eingeführt (JO, cap. 1, 112 sqq.), wobei es bezeichnend ist, dass die beiden von außen kommenden Figuren erst einmal einen Blütenkranz "al pie del monumento a Brausen" (ibid., 112) niederlegen und sich durch diese Reverenz dem Stadtgründer gegenüber von Anbeginn metafiktional integrieren.1 Beachtenswert ist ferner der identifikatorische Hinweis auf eine italienisch-ortlose Aussprache (ibid., 113) Orsinis sowie der Verweis auf ein den Fremden bezügliches, mittelbares Hörensagen ("dicen que […]", "juran haberlo visto […]", "presumen que […]" ibid., 113 sq.), bei dem plurales Meinen und Wahrnehmen eine – gerade nicht pluralistische – communis opinio begründen. Im Falle des titelgebenden Historia-Pärchens wiederum trägt der first contact mit den Santa-María-Bewohnern fast schon phänomenologische Züge, insoweit als ein voyeuristisch-idealistisches esse est percipi2 am Werk zu sein scheint, wenn es lautet:
Miren, pero no miren demasiado. […] Si miramos indiferentes, es posible que la cosa dure, que no se desvanezcan [la pareja], que en algún momento lleguen a sentarse, a pedir algo al mozo, a beber, a existir de veras. / Acaso sean tal como los vemos, acaso sea cierto que están en Santa María. // La lluvia estuvo amenazando desde la madrugada y va empezar justo ahora. Va a borrar, a disolver esto que estábamos viendo y que casi empezábamos a aceptar. Nadie querrá creernos. /// ―Pero puede ser […] que los demás habitantes de Santa María los vean y sospechen, o por lo menos tengan miedo y odio, antes de que la lluvia termine por borrarlos. Puede ser que alguno pase y los sienta extraños, demasiado hermosos y felices y dé la voz de alarma. (HCa, cap. I, 134 sq., eig. Hervorh.)
Dargeboten wird hier die auf ein – polyptotisches3 – Sehen gestützte 'Stammtisch'-Wahrnehmung dreier Sanmarianer4, nämlich Guiñazús, Lanzas sowie der homodiegetischen Erzählinstanz, die auf ein Aufmerksamkeit erregendes Paar gerichtet ist, das sich an einen Café-Tisch begibt: er ein (Rosen-)Kavalier mit "[…] anómalo traje […]" (ibid., 135), sie eine kleinwüchsige Anmut, "[…] demasiado próxima a la perfección […]" (ibid., 134). Die beiden Fremden fallen hier nicht nur bezüglich Schönheit und Glückseligkeit auf, sie ziehen die deutenden Blicke der Kleinstädter förmlich auf sich, und zwar im Zeichen 'universeller', wetternder Klischeehaftigkeit:
La luz de la U de Universal refulgía en la humedad, el viejo Lanza dejó de toser y dijo una broma sobre el caballero de la rosa. Nos pusimos a reír, separados de la pareja por el estruendo de la lluvia, creyendo que la frase servía para definir al muchacho y que ya empezábamos a conocerlo. (Ibid., 136)
Dabei ist dem jungen Mann – ähnlich wie dem weltläufigen Orsini aus der Jacob-Erzählung – eine gewisse "ubicuidad" (ibid.) eigen – mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Ehepaar, anders als der um Publicity (JO, cap. 1, 112-114) bedachte "[…] príncipe Orsini […]" (ibid., cap. 3, 117) mit seinem 'Knöchel-Halter' (ibid, cap. 5, 139) Jacob5 ein gewisses Lokal-Interesse vermissen lässt. Das wird zu Beginn des vierten Teils deutlich, als sich der junge Mann hinsichtlich juristischen Beistands an Guiñazú richten muss, der äußert: "Entonces, por primera vez y como estaba predicho, tuvieron que acercarse a nosotros" (HCa, cap. 4, 142, eig. Hervorh.). Hierbei macht der Advokat keinen Hehl aus seiner unbegründeten "antipatía" (ibid.) dem Fremden gegenüber. Er gibt sogar eine Art von "envidia" (ibid.) zu und nutzt sogleich die Gunst der Stunde, "[…] de estafarle" (ibid., 144), indem er ihm 50 Pesos für seinen mehr wort- als hilfreichen Rechtsbeistand abknöpft.
Hatte das Paar bis dahin vornehmlich auf gesellschaftlichen Tanzveranstaltungen von sich Reden gemacht, beginnen mit ihrem plötzlichen Hinauswurf6 aus dem Hause Specht, "frente a la plaza vieja, circular, o plaza Brausen, o plaza del Fundador" (ibid., cap. 3, 139), die Schwierigkeiten. Denn sie, die eigentlich in die Stadt gekommen waren, um einen Latorre-Nachfahren aufzusuchen (ibid., 138 sqq.), müssen jetzt sehen, wo sie bleiben (dies auch der Grund für die Konsultation Guiñazús).
Sie finden Obdach bei Doña Mina in Las Casuarinas, einer Art Wohnanlage mit umgebauter Kapelle, "[…] bastante alejada de la ciudad, hacia el Norte" (ibid., cap. 5, 145). Besagte Dame hat dabei selbst eine lebhafte Biographie vorzuweisen, sei sie doch drei Male als Jugendliche durchgebrannt: einmal mit einem Hilfsarbeiter, das zweite Mal mit einem Zauberer und das letzte Mal mit einem bärtigen Tiermedizin-Verkäufer, von dem sie jedoch aus freien Stücken wieder zurückgekehrt sei (cf. ibid., 144). Bei ihr und ihrem "[…] asqueroso perro […]" (ibid., 145) weilt nunmehr das Pärchen, dem man in Santa María – bestärkt durch die Specht-Affäre (ibid., 144 sq.) – sogleich unterstellt, es doch nur auf das Vermögen der alten Dame abgesehen zu haben. So droht die Historia sich als eine alte Geschichte (ibid., 147) herauszustellen – voll des Erbneids, der durch eine Testamentsänderung der Doña weiter angeheizt wird.
Die affektive 'Katharsis' der Sanmarianer ereignet sich dann im sechsten und letzten Teil der Erzählung, wo zunächst die freudlose Kleinbürgerlichkeit der "[…] pobladores antiguos" (ibid., cap. 6, 147) von Santa María zur Sprache gebracht wird:
A pesar de los años, de las modas y de la demografía, los habitantes de la ciudad continuaban siendo los mismos. Tímidos y engreídos, obligados a juzgar para ayudarse, juzgando siempre por envidia o miedo. (Lo importante a decir de esta gente es que está desprovista de espontaneidad y de alegría; que sólo puede producir amigos tibios, borrachos inamistosos, mujeres que persiguen la seguridad y son idénticas e intercambiables como mellizas, hombres estafados y solitarios. Hablo de los sanmarianos; tal vez los viajeros hayan comprobado que la fraternidad humana es, en las coincidencias miserables, una verdad asombrosa y decepcionante). (Ibid., 147 sq.)
Um (Vorver-)Urteilen und Mutmaßen zu können, sind die Einheimischen also auf fremden Input angewiesen, "por la simple necesidad de que pasen cosas" (ibid., 150). Im Falle der zwei "desterrados de Santa María […]" (ibid., 147), die in der Heterotopie7 Las Casuarinas unterkommen, löst sich die gestaute Missgunst dann in Hohngelächter auf, hat doch die alte Dame, die mit dem Paar eine Art zweiten Frühling erlebt hatte (ibid., cap. 5, 145-147), den beiden am Ende 'nur' ihren diarrhöischen Hund und 500 Pesos vermacht (ibid., cap. 6, 154-156). So stellt sich der Argwohn der Kleinstädter als letztlich unbegründet heraus. Zumal, wie der Rosen-Kavalier zum Schluss beweist, die Lebemenschen mehr als Einsamkeit und Gier verband: So wird das geerbte Geld gänzlich in Grab-Rosen für die verstorbene Doña re-investiert.8
Als Fremde in Santa María nie wirklich angekommen (geschweige denn aufgenommen), muss das Kind vom Rosen-Kavalier und der "[…] enana preñada […]" (ibid., cap. 5, 147) dann in einem Außen-Raum schlechthin – dem Hafen von Santa María zur Welt kommen (ibid., cap. 6, 156).
IV.
Was Onettis Historia aus poietischer Sicht so relevant macht, ist ebendieses metafiktionale Vorführen von Stigmatisierung, durch die Fremde verfremdet werden. So wird das von Anbeginn als 'anders' wahrgenommene, von außen nach Santa María kommende Paar von den bereits zitierten Specht-Vorwürfen gleichsam an den Rand Santa Marías gedrängt, um damit umso stärker in ein 'Fadenkreuz' von Vermutungen respektive Mutmaßungen zu geraten.1 Dass diese sich als grundlos herausstellen, tut dabei wenig zur Sache, da der restitutive Makel der beiden mehr darin bestanden zu haben scheint, sich schlicht zu wenig für die Sanmarianer interessiert zu haben. (Galant und liebenswert zu sein, reicht nun mal nicht aus, um in einer Welt aufgenommen zu werden, die von Neid und Angst erfüllt ist.)
Dabei wären der Rosen-Kavalier und die Liliput-Maid aufgrund ihrer Namensherkunft eigentlich prädestiniert dafür, um in einem metafiktional-imaginären Ambiente Fuß zu fassen. Verweist er doch auf eine bekannte Richard-Strauss-Oper, sie auf eine Provenienz aus einem berühmten Swift-Roman, inklusive einer marianischen Konnotation (Virgen encinta).2 Und wie in der Jacob-Erzählung erleidet Scheinbarkeit (hier in Form von Mutmaßungen) auch in der Historia eine 'Niederlage'. Der Unterschied wäre jedoch, dass das junge glückselige Paar – im Gegensatz zum kriselnden Jacob – eben kein Brausen-Imaginäres teilt, sodass beide andersfiktionale, um nicht zu sagen: 'exomediale' (Opern/Swift-Roman-)Figuren in den Heterotopien Santa Marías bleiben. Ihre Verbannung aus dem Hause Specht gegenüber des Brausen-Platzes ist dabei symptomatisch: Denn hier haben sich zwei Santa-María-Fiktionsfremde in einen selektiven Kontext begeben, der sich gegen ihre Aufnahme fictiologisch sperrt.
Die Sanmarianer beweisen hierdurch Anflüge dessen, was man in Anlehnung an den ethno-soziologischen Begriff des 'Ethnozentrismus'3 als 'Fictiozentrismus' bezeichnen könnte, der hier entsprechend eine besondere Form der Metafiktion meint, bei der die eigene Fiktion (das eigene Als-ob) als Mittelpunkt und zugleich als gegenüber anderen Fiktionen überlegen angesehen wird. Hierfür ist es nun nicht zwingend notwendig, dass dies explizit proklamiert wird; es genügte schon die (un)bewusste Annahme, bereits in der besten beziehungsweise einzig möglichen Fiktion daheim zu sein. Der Unterschied ist freilich ein feiner: Denn wer zufrieden ist mit seiner fiktionalen Welt, muss deswegen nicht gleich davon ausgehen, dass es keine bessere, geschweige denn andersmögliche geben kann und so weiter. Und doch kann generisches Selbstbewusstsein, wie schon der hehre Hektor zeigte, in fictiozentrische Überheblichkeit kippen. Dabei erinnert ein ethnozentrisches Beispiel William G. Sumners an Onettis Provinzstädter: "Amongst the most remarkable people in the world for ethnocentrism are the Seri of Lower California. They observe an attitude of suspicion and hostility to all outsiders […]".4 Argwohn und Antipathie leiten auch die Einheimischen aus Santa María bei ihrer Beobachtung des fremden Paares, insbesondere dann, als dieses in den Außenraum der Doña Mina 'vertrieben' wurde.
Und stellt sich doch die Frage: Kennen die Bewohner Santa Marías vielleicht nichts anderes als ihre Fiktion? Hierauf könnte wohl ein Díaz Grey am besten antworten, in dem ja ein Brausen 'heimisch' ist. In der Historia erfahren wir nur, dass der extradiegetisch-homodiegetische Erzähler ein Arzt sei (HCa, cap. 5, 144; cap. 6, 150-151), was die Annahme fördert, dass es sich hierbei um Díaz Grey handeln könnte. Wie sieht nun diese Erzählinstanz das aparte Paar? Die Antwort lautet: nicht viel anders als die anderen. Der Arzt ist einer von vielen und als solcher (bis auf die bereits zitierte selbstkritische Passage über die alteingesessenen Sanmarianer) fiktionskonformistisch. So sind es eher Worte des Anwalts Guiñazú, die in diesem Zusammenhang Bedeutsamkeit erlangen, wenn dieser davon spricht, dass er dem Rosen-Kavalier liebend gerne seine 50 Pesos zurückgegeben hätte, "[a] cambio de escucharlos, de saber quiénes son, de saber quiénes y cómo somos nosotros para ellos" (ibid., 153). Hier findet sich gleichsam eine 'Arznei' gegen fictiozentrisches Misstrauen: Nicht über-, sondern miteinander reden, um zu erfahren, mit wem man es eigentlich zu tun hat, woher man kommt und wo man ist. Und es ist dann auch der professionelle Fürsprecher, der für die beiden im Außenraum angesiedelten Fremden, nach dem Tod der Doña Mina, ein Santa María konformes 'Imaginarium' wähnt, das darin bestünde, aus dem Haus der verstorbenen Dame ein "museo" zu machen, "para perpetuar la memoria de doña Mina." (ibid., 152) Darum bestehe auch keine Eile mit der Testamentseröffnung, gerade weil die beiden "[…] son de esa rara gente que queda bien en cualquier parte" (ibid.). Die zwei Ortsfremden sollten demzufolge die Heterotopie Las Casuarinas musealisieren, mithilfe der zu Requisiten gewordenen Hinterlassenschaft der Doña (ibid., 152), damit Santa María so nicht mehr auf "[...] un solo héroe, Brausen el Fundador" (ibid.) beschränkt bleibe. Was sich hier ankündigt, ist in gewisser Hinsicht eine 'eudämonistische' Bereicherung Santa Marías, das mit dem Museum zu Ehren der Doña Mina nicht nur einen anderen, glückhaften Erinnerungsort erhielte, sondern damit zugleich auch seine eigene Heterotopie ausstellte.
Immerhin scheint sich mit dem Tod der alten Dame die Einstellung der Sanmarianer dem Paar gegenüber grundlegend geändert zu haben:
Desde entonces, después del duelo, los más discretos de nosotros, los chacareros y los comerciantes voluntariosos, y hasta las familias que descienden de la primera inmigración, empezaron a querer a la pareja sin trabas, con todas las ganas que tenían de quererla. Empezaron a ofrecerle sus casas y créditos ilimitados. Especulando con el testamento, claro, haciendo todo esto con amor. Y ellos, los bailarines, el caballero de la rosa y la virgen encinta que vino de Liliput, demuestran estar a la altura de las nuevas circunstancias, a la altura exacta de esta pleamar de cariño, indulgencia y adulaciones que alza la ciudad para atraerlos. (Ibid., 153)
Ein neues affektives Kapitel zeichnet sich für das soziale Miteinander in Santa María ab, bei dem man das, was man insgeheim an den Fremden bewunderte (Glückseligkeit etc.), nun sin trabas zeigen könne – allerdings begünstigt von Rendite-Erwartungen, die sich sogleich auflösen, als der tatsächliche Erbteil des Ehepaares bekannt wird. Bezeichnenderweise ist es erst die Aussicht auf Teilhabe am Erbe der zeitlebens am Rande Santa Marías lebenden Doña, die die Integrationsbemühungen der Inwohner hinsichtlich der beiden Fremden für eine (Erwartungs-)Zeit motiviert.
Die späte Geburt des Kindes ("[…] de once meses […];" ibid., 156) im sanmarianischen Hafen symbolisiert in dieser Hinsicht ein verpasstes spes-Potential der beiden Fremden für Santa María, das nun auch dessen "desierta" (ibid., 156) Heterotopie Las Casuarinas versinnbildlichte – jener Außenort, der eine lebensfrohe Öffnung Santa Marías hätte bedeuten können, das nun weiter auf ein 'existentialistisch' grundiertes Brausen-Statut festgeschrieben bleibt.5 Die von den Einheimischen verdrängte 'Entelechie' fremden Glücks in Santa María im Kontext von Auswärtigen, "que mejora[n] o da[n] sentido a los lugares" (ibid., 152), ist somit Ausweis einer durch Sarkasmus, Neid und Argwohn gefestigten, fictiozentrischen Begrenzung, bei der das ausgelagert wird, was man potentiell sein könnte: glücklich etwa.
In Brausens Santa María, so ließe sich resümieren, ist das télos eben nicht kontingent. Sosehr in Jacob y el otro das Imaginäre Scheinbares aus dem apollinisch(‑poietisch)en Ring zu schleudern vermag, sosehr zentrifugiert in der Historia fictiologische Selbstbeschränkung etwaige 'eudämonistische' Potentialität aus der Stadt, um ihren autopoietischen Status zu konsolidieren.6 Dass Fictiozentrismus hier der selektiven7 Selbsterhaltung dient, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich weiter um eine Fiktion handelt, die auch anders möglich wäre. Der Fall Santa Marías mitsamt Las Casuarinas machte jedenfalls intelligibel, dass man eigene Fiktionalität gar nicht 'übersehen' muss, um fictiozentrisch zu agieren, es reicht, sie als die eine gültige Fiktion zu setzen, um darum herum dann eine entsprechende Um-Welt anzuordnen. Und auch wenn es in der Historia letztlich nicht zur Musealisierung heterotoper Andersheit kommt, bezeugt diese alerte Onetti-Erzählung, dass sich eine Als-ob-Kontingenz sehr wohl verdrängen, indes nicht ganz vergessen machen lässt.