Kitabı oku: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren», sayfa 2

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Literaturverzeichnis

Merleau-Ponty, Maurice. Phenomenology of Perception. Trans. by Colin Smith. London, New York 1966.

Meyer-Drawe, Käte. Was aber heißt das: etwas wahrzunehmen? In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020a, S. 7–24.

Meyer-Drawe, Käte. Szenisches Verstehen. In: Vasileios Symeonidis/Johanna F. Schwarz (Hg.). Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren. Potential und Grenzen der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung in Annäherung an das Phänomen Verstehen. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 8. Innsbruck, Wien 2020b, S. 17–27.

Peterlini, Hans Karl. Der zweifältige Körper. Die Leib-Körper-Differenz als diskriminierungskritische Perspektive – Vignettenforschung zu Rassissmuns, Sexismus und Behinderung. In: Hans Karl Peterlini/Irene Cennamo/Jasmin Donlic (Hg.). Wahrnehmung als pädagogische Übung. Theoretische und praxisorientierte Auslotungen einer phänomenologisch orientierten Bildungsforschung. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung, Bd. 7. Innsbruck, Wien 2020, S. 25–45.

Waldenfels, Bernhard. Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht. Frankfurt am Main 2019.

1. Grundlagen
Szenisches Verstehen
Käte Meyer-Drawe

„Eine Erfahrung, gegen die man sich nicht gewehrt hat, ist keine Erfahrung. Eine Einsicht, die man nicht wahrhaben will, ist keine Einsicht.

Ein Schmerz, den man vergißt, ist kein Schmerz.“

(Canetti 1999, S. 31)

„Auf Erfahrungen kann man sich nur beziehen, nicht berufen.“

(Benyoëtz 1990, S. 84)

In den folgenden Überlegungen sollen einige Vermutungen zur Besonderheit der Vignettenforschung Innsbrucker, Brixener und Klagenfurter Provenienz zur Diskussion gestellt werden. In einem ersten Schritt wird erläutert, woher der Einfall und die Motivation stammen, über szenisches Verstehen im Zusammenhang mit der Vignettenforschung nachzudenken. Im zweiten Teil soll das Konzept szenischen Verstehens dargelegt werden, um schließlich im dritten Abschnitt den Gedankengang mit einigen Überlegungen zu einer anderen Empirie zu schließen.

1. Einfall und Motivation

Der Einfall, über szenisches Verstehen nachzudenken, ist Hans Karl Peterlini zu verdanken, der sich unter anderem der szenischen Theaterarbeit als einer performativen Möglichkeit phänomenologischer Lernforschung zuwendet. Er schreibt: „Das performative In-Szene-Setzen einer Vignette, einer Mikrohandlung daraus, erlaubt es, Erkenntnisse über die Vignette hinaus im Raum entstehen zu lassen und nachfühlbar zu machen, die Komplexität einer solchen Dynamik auf immer neue Facetten und Feinprozesse zu untersuchen – nicht als Ausdeutung des Geschehenen, sondern als Erweiterung der eigenen Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten.“ (Peterlini 2017, S. 53) Es leuchtet sofort ein, dass in solchen Inszenierungen der Sinnlichkeit des Erfahrens ein besonderes Gewicht zukommt. Nun kann man wirklich die Faust heben, am Saum des Pullovers zupfen, das Haar hinters Ohr streichen, die Augen zusammenkneifen, die Stimme erheben, Scham oder Zorn ausdrücken, mit dem Blick die Tischplatte durchbohren, gähnen, grinsen, schlendern, auf etwas oder jemanden zusteuern, ihn oder sie berühren, sanft oder heftig, räuspern und weiteres mehr. Dabei ist es beispielsweise etwas anderes, wenn ich gestisch kommentierend hüstele, oder meine Erkältung diese Geräusche verursacht. Diese Nuancen sind allein sprachlich nur sehr schwer einzufangen. Die Expressivität des Leibes ist hier überlegen. Zwischenleibliche Konfigurationen, etwa eine „betroffene Stille“, besänftigende oder abwehrende Berührungen oder Blicke, die sich kreuzen, können jedoch aus eigener Erfahrung nachempfunden werden. Akteur*innen konstituieren sich selbst, „indem sie auf die Situationen antworten, in die sie zugleich verstrickt sind“ (ebd.). Das Wörtchen indem ist wichtig, weil es uns hilft, bornierte Alternativen außer Kraft zu setzen, etwa jene von aktiv und passiv oder von Subjekt und Objekt. Keine der Alternativen rangiert in konkreten Kontexten vor den anderen. Sie realisieren sich durcheinander.

Solche Schauspiele sinnlicher Reinszenierungen setzen voraus, dass Vignetten selbst szenischen Charakter haben. Das wird von Forscher*innen mitunter intuitiv bemerkt. So spricht Johanna F. Schwarz von „Vignettenszenen“ und liest Vignetten im Hinblick auf heikle Stationen, die wie etwa Begrüßungsszenen (vgl. Schwarz 2018, S. 133 ff.) kritische Momente der Begegnung bedeuten, in der Zuschreibungen eine besonders große Rolle spielen und oft langfristige Folgen haben. Auch Horst Rumpf spricht bei seinen Vignettenlektüren von „Szenarien“ (Rumpf 2012, S. 93). Diesem szenischen Charakter der Vignetten muss durch ein besonderes Verstehen, von dem im zweiten Teil die Rede sein soll, Rechnung getragen werden.

Motiviert sind die Darlegungen durch die Beobachtung, dass Vignettenforscher*innen nicht selten im Vergleich zu anderen qualitativ empirisch Forschenden eine eher defensive Haltung einnehmen. Sie beugen sich damit einem Maßstab, der nicht selbstverständlich ist, nämlich dem Vorrang der Objektivität von Erkenntnissen, die sich in Aussagen überführen und damit als wahr oder falsch beurteilen lassen, vor Erfahrungen, die erzählt werden. Vielleicht mitunter unbemerkt schleichen sich dabei Hierarchien ein, deren Gültigkeit zweifelhaft ist. So herrscht etwa die Überzeugung, dass operationalisierbare und quantifizierbare Datenerhebungen eher wissenschaftliche Anerkennung verdienen als die Kunst des Erzählens, wie sie in Vignetten ihren Ort findet.1 Es stimmt: Daten sollen grundsätzlich unabhängig von denjenigen sein, die sie gesammelt haben. Aber: „Der Mensch, auch der Empiriker, muß ‚seine‘ Welt schon haben, wenn ihm ‚die‘ Welt gesprächig werden soll.“ (Blumenberg 1998, S. 39, Anm.) Vignetten würdigen diese Welthabe, diese Fusion mit der Welt und werden angesichts der Verankerung in unserer Lebenswelt geschrieben und gelesen. Deshalb bewahren sie die Spuren der nichttheoretischen situativen Bedingungen sowie die habituellen Investitionen der Schreiber*innen, auch wenn sie sich strikt auf die Deskription konzentrieren. Sie blicken nicht „hinter“ die Situationen, sondern auf sie. Sie vertiefen sich in die Oberfläche. (Vgl. Buchholz 2019, S. 420) Um es mit Gaston Bachelard zu formulieren: Sie schauen auf die Blume und erklären diese nicht aus dem Dünger. (Vgl. Bachelard 1994, S. 20) Im Wahrnehmen selbst sind Verstehensbereitschaften am Werk, die sich nicht isolieren lassen und von Ordnungen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens in Beschlag genommen werden. Diese Konstellationen veranlassen, was überhaupt bemerkt wird und was unbeachtet bleibt. Vignettenschreiber*innen sind aus dieser Perspektive bewegt von einem szenischen Verstehen, das in ganz bestimmte Beziehungen eingebettet ist und dem eine letzte Gestalt versagt bleibt.

2. Szenisches Verstehen

Szenisches Verstehen ist ein Begriff, den Alfred Lorenzer aus psychoanalytischer Sicht geprägt hat, der aber insbesondere durch die Analysen von Wolfram Hogrebe eine erhebliche philosophische Vertiefung erfahren hat, und zwar nicht nur für die Philosophie selbst, sondern auch für solche praktischen Wissenschaften wie die Medizin, die Jurisprudenz, aber eben auch die Erziehungswissenschaft, die er als „szenisch verankerte Bemühungen“ (Hogrebe 2009, S. 99) charakterisiert. In diesen Disziplinen spielt die Urteilskraft, die nicht zu automatisieren und nicht zu delegieren ist, eine entscheidende Rolle. Sie bleibt an die konkrete Situation gebunden. Ihre spezifische Leistung besteht darin, das Besondere unter der Hinsicht eines Allgemeinen zu fassen. Kant unterscheidet zwischen dem bestimmenden und dem reflektierenden Aspekt der Urteilskraft. Im ersten Fall ist die Anwendung von Regeln des Verstandes auf die Situation gemeint, im zweiten wird die komplizierte Lage angesprochen, dass das Allgemeine noch nicht gegeben und allererst aufzuspüren ist. Es wird im Suchen gefunden. Diese Urteilskraft oder dieses Taktgefühl sind nicht unter Regeln zu bringen. Sie zeichnen sich durch ihre Empfänglichkeit für die Fülle der Lebenswirklichkeit aus. Es ist ihnen eigentümlich, dass sie einen Zwischenraum zwischen Sinnlichkeit und Begrifflichkeit ausfüllen. Hogrebe erinnert immer wieder daran, dass dieses Zwischenreich eine enorme Herausforderung an eine adäquate sprachliche Artikulation bedeutet und dass es ohne Sprachbilder, die sich zwischen Begriffen und sinnlichen Erfahrungen ansiedeln, nicht zu einem angemessenen Ausdruck kommt. Er gibt sogleich in Anlehnung an Stefan George ein eindrucksvolles Beispiel für diesen Umstand: „Zwischen Fußsohle und Boden sorgt das Szenische für eine Differenz, die der Teppich des Lebens ist.“ (Ebd., S. 100)

Vignettenschreiber*innen sind sich in diesem Punkt einig. Stellvertretend lasse ich Evi Agostini zu Wort kommen: „Damit sind Vignetten das eindringliche Dokument eines Ringens mit der Sprache, einer manchmal widerborstigen und knotigen Sprache, immer auf der Suche nach einem reicheren und treffenderen Ausdruck, um Lernen in seiner Verwicklung mit der Welt und in seinen vielfältigen Erscheinungsformen zu beschreiben.“ (Agostini 2017, S. 27) Hier gleichsam reflexhaft den Verdacht des Subjektivismus vorzubringen, ist voreilig und bleibt in überlieferte Alternativen verstrickt, die im szenischen Verstehen gerade überwunden werden sollen. Mit der Beachtung des szenischen Charakters jeden Verstehens wird wie mit der Rückeroberung des Medialen, das weder nur aktiv noch nur passiv ist, der Versuch unternommen, die Tyrannei dualer Gewohnheiten zu durchbrechen. Es geht nicht um subjektiv oder objektiv, um aktiv oder passiv, um wahr oder falsch. Die Griechen der Klassik kannten in ihrer Grammatik das Medium. Wahrnehmen etwa, das Verb aisthanomai, ist ein Medium, d. h. es liegt zwischen dem bloß Aktiven und dem lediglich Passiven. Damit das Wahrnehmen ein Nehmen vollziehen kann, muss sich ihm etwas geben. Es bezeichnet damit einen Vorgang, bei dem das Subjekt etwas vollbringt, „was sich an ihm vollzieht“ (Benveniste 1974, S. 194). Erwachen ist ein solcher Vollzug, in den jemand involviert ist, ohne die Initiative zu ergreifen. Erwachen ist eine szenische Zuwendung zur Welt, die jeder ausdrücklichen Thematisierung vorausliegt. „Wir finden uns in eine unbestimmte Weltstellung hineingeboren, die dennoch andeutende Kraft hat.“ (Hogrebe 2009, S. 29) Andeutungen sind auf dem Wege zu Bedeutungen. Diese Weise der Weltzuwendung ist deshalb nicht frei von jedem Verstehen, sondern ein Ahnen, Mutmaßen und Fühlen, frei von Begriffen und doch nicht ohne Sinn. „Was immer Menschen sind, sie sind in ihren Kontexten so verankert, daß sie sich weitgehend aus eben diesen verstehen. Da diese Verankerung in geteilten Lebenswirklichkeiten zumindest partiell auch außen sichtbar ist, werden Menschen von ihresgleichen auch aus diesen Kontexten verstanden.“ (Ebd., S. 18) Damit ist ein wesentlicher Grundzug von Vignetten genannt. Nicht-Wissen bedeutet für sie keine Unkenntnis, „sondern die schwierige Leistung des Überwindens der Kenntnis“ (Bachelard 1994, S. 22). Was man zu kennen meint, will man nicht kennen lernen. Jacqueline Baum und Ruth Kurz, die in ihren Untersuchungen den kleinen Lou vom 13. bis zum 18. Monat beim Kritzeln auf einem Tafelfeld, das auf dem Boden liegt, begleiten und in Videoaufnahmen festhalten, markieren die zentrale Schwierigkeit der Transkription von konkreten Wahrnehmungssituationen: „Das verlangt eine Haltung, die nicht von vornherein verstehen will, sondern sich dem überlässt, was sichtbar wird.“ (Baum/Kunz 2007, S. 20) Diese Erfahrung können Vignettenschreiber*innen vermutlich teilen. Um sich vom anderen überraschen lassen zu können, muss man die eigenen Wahrnehmungsneigungen und -erwartungen unter Verdacht stellen, vor allem den Versuch unternehmen, darauf zu verzichten, von sich auf andere zu schließen. Wir neigen nämlich im Alltäglichen dazu, unsere Sicht der Dinge normativ zu verallgemeinern. Dadurch geraten wir in die Gefahr, blind zu werden für die Abweichungen. Diese zeigen sich in den Handlungskontexten, wenn man situationssensibel die kleinen Zeichen wahrnimmt: die Choreografie der Blicke, die unreflektierten Berührungen, das Spiel der Hände, den Umgang mit den Dingen, Kontaktaufnahmen und -verweigerungen, Tonlagen, Stimmungen. Vignettenforscher*innen setzen sich damit Bedingungen aus, die niemals vollständig auf den Begriff zu bringen sind. Sie stellen sich „einer mit Händen zu greifenden Wucht des Gegebenen“ (Gehring 2011, S. 31). Im Hinblick auf sinnliche Wahrnehmungen bedeutet das: Etwas wird in dem Sinne empfunden, zu dem das Bemerkte herausfordert. Etwas kann uns abstoßen, ansprechen, fesseln, die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wir sind eingenommen, ohne unbedingt voreingenommen zu sein. Mit dieser Entmachtung eines bloß objektivierenden Zugriffs ist nicht ausgeschlossen, dass aufgrund von unerwarteten Widerfahrnissen das Ziel des Weges nicht erreicht wird. Damit ist eine Möglichkeit offengehalten, auch die pathische Struktur mitzuberücksichtigen, die vornehmlich darin besteht, etwas zu vollbringen, was man nicht selbst in Gang gesetzt hat. Im Pathos wird man von einem Widerfahrnis getroffen, das jedem spontanen Akt zuvorkommt. Hier meldet sich eine gewisse Auslieferung des Menschen an seine Welt, die auch ein Erleiden meint (vgl. Busch 2017, S. 52), das er nicht ohne Rest in Beherrschung umwandeln kann. Diese Auslieferung bedeutet nur im Grenzfall vollständige Ohnmacht oder Besessenheit. Denn während wir das, dem wir ausgesetzt sind, nicht erfinden können, bleibt unserer Antwort auf diesen Anspruch ein gewisser Spielraum. (Vgl. Waldenfels 2008, S. 81) Auch die vielgerühmte Rationalität des Menschen nährt sich aus Energien, die von ihr selbst nicht durchschaut werden. Szenisches Verstehen ist nicht ohne Widerfahrnisse möglich. Empfindungen haben dabei eine „situationsaufschließende“ (Hogrebe 2009, S. 30) Funktion. Vignetten können für diese Dimensionen des menschlichen Lernens sensibilisieren, die sich nicht operationalisieren lassen. In ihnen wird dem Umstand Rechnung getragen, dass mit jedem Lernen mitgelernt wird, wie gelehrt wurde. Wer beispielsweise insbesondere im behavioristischen Stil unterrichtet wird, lernt vor allem zu gehorchen.

„Szenen sind das Primäre für unsere Weltwahrnehmung, nicht die Objekte der Welt oder ihr Mobiliar, […].“ (Ebd., S. 50) Als Szenen appellieren Vignetten auch an unsere soziale Empfindsamkeit. Schreiber*innen von Vignetten streben keine Tatsachenfeststellungen an. Sie wollen überhaupt nichts feststellen. Sie wollen erzählen und auch das in einem besonderen Sinn; denn sie referieren oder berichten nicht, sondern sie bringen ihre situativ gebundenen Erfahrungen zum Ausdruck und wollen diejenigen, die später die Vignetten lesen, miterfahren lassen. Erzählungen „verausgaben sich nicht“ (Benjamin 1980, S. 437). Sie können immer wieder und weiter erzählt werden, ohne sich genau zu wiederholen. Davon lebt die Nachbearbeitung der Rohvignetten und zehren die Lektüren. Vignetten erinnern an bestimmte Erlebnisse. Sie wecken und enttäuschen Erwartungen. Sie erklären nicht. Sie muten an. Im szenischen Verstehen geht es um einen bestimmten Umgang mit unseren Erfahrungen, in denen sich Gegebenheiten noch nicht zu Gegenständen versteift und Gewahrungsweisen sich noch nicht zu Erkenntnissen verhärtet haben.

Maurice Merleau-Ponty behandelt die hier fungierende Unbestimmtheit als ein positives Phänomen. Daraus folgt, dass propositionale Aussagen, die nach wahr und falsch beurteilt werden können, hier an ihre Grenze stoßen und schwache Formen des Wissens in den Vordergrund treten. Es gibt, um es mit Wolfgang Wieland zu sagen, ein „emotionales Apriori“ des Verstehens (vgl. Hogrebe 2009, S. 90), das in der Vignettenforschung nicht zugunsten objektiver Erkenntnisse ausgeklammert wird. Aus dieser Perspektive stellen die Vignetten kein defizitäres Forschungsprogramm dar, sondern sie vertreten vielmehr einen sehr anspruchsvollen Versuch, mit größter Prägnanz sinnliche Wahrnehmungen und eine expressive Leiblichkeit sprachlich wiederzugeben in dem kritischen Wissen, dass Sprache hier andere Ergebnisse als wahrheitsfähige Aussagen zu suchen hat und damit an Poesie rührt, was geradezu unvermeidlich den Verdacht an Unwissenschaftlichkeit hervorruft. Das musste auch Merleau-Ponty erfahren. Émile Bréhier wirft ihm etwa vor: „Ich sehe, dass Ihre Vorstellungen sich eher durch den Roman oder die Malerei als durch die Philosophie ausdrücken lassen. Ihre Philosophie führt zum Roman.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 59 f.) Dieser Vorwurf verunsichert Merleau-Ponty indessen nicht, im Gegenteil: Nach ihm ist Philosophie wie die Kunst: „nicht Reflex einer vorgängigen Wahrheit, sondern […] Realisierung von Wahrheit“ (Merleau-Ponty 1966, S. 17). Zu fragen wäre deshalb, ob eine Konzeption, die sich gegen die „intellektuelle Besitznahme“ wehrt, gegen die Verwandlung der gelebten Welt in eine gedachte, nicht eine andere Sprache braucht mit einer eigenen Art von Genauigkeit, nämlich einer „ästhetischen Prägnanz“, die Gottfried Gabriel von der logischen Präzision unterscheidet. (Vgl. Gabriel 2019, S. 11 ff.) Sprachbilder stellen in dieser Hinsicht Erkenntnisformen dar, die sich von wahrheitsfähigen Aussagen unterscheiden. Propositionales Wissen lässt sich von nicht-propositionalem in drei Punkten differenzieren: 1. handelt es sich um ein Wissen, das in Aussagen festzuhalten und zu prüfen ist. 2. ist es loszulösen von den Trägerinnen und Trägern des Wissens, und 3. ist es schließlich bipolar organisiert, d. h. die Aussagen sind entweder wahr oder falsch. Das nicht-propositionale Wissen meint dagegen Erfahrungen par excellence. Wie für die Erfahrung gibt es für das nicht-propositionale Wissen keine Stellvertretung. Erfahrungen sind nicht wahr oder falsch. (Vgl. Wieland 1982, S. 224 ff.) Schließlich ist nicht-propositionales Wissen nicht unabhängig von den Inhaber*innen. All diese Merkmale des nicht-propositionalen Wissens begründen nicht, dass es als Wissen in Zweifel zu ziehen ist. Es ist eine verstehende Weltzuwendung besonderer Art. Vignetten fungieren dabei im Sinne von Kunstwerken (vgl. Mian 2019, S. 172), welche diese spezifische von der Welt angefachte Haltung artikulieren.

Vignettenforscher*innen fühlen sich in dieser Hinsicht Husserls Parole „Zu den Sachen selbst“ verpflichtet. Mit ihr ist eine eigentümliche Rückkehr zu unserer ursprünglichen Verwicklung mit der Welt bezeichnet, an die das Denken nicht heranreicht, obgleich es erst durch sie ermöglicht wird. Die vorreflexive Verwandtschaft der Menschen mit ihrer Welt ist durch die Möglichkeit zur Distanzierung gebrochen, die eine Beziehung zu den eigenen Verhältnissen und zu den Dingen mit sich bringt. So gesehen, brauchen die Dinge unsere Interventionen, um für uns sein zu können. Umgekehrt sind wir an sie verwiesen, um von ihnen in Anspruch genommen zu werden. Während uns die anderen in einen Dialog verwickeln können, sprechen uns die Dinge zwar an, meinen uns aber nicht. In beiden Zuwendungen fungieren Beziehungen, die als solche Beachtung verlangen.

Hinter dem Vorwurf, nicht-propositionale Aussagen wären weder Philosophie noch gar Wissenschaft, versteckt sich eine bestimmte Auffassung über den Zusammenhang von Sprache und Wahrheit, deren Alleinvertretungsrecht durch eine Konzeption des szenischen Verstehens in Zweifel zu ziehen ist. Um es in einer der Metaphern der Innsbrucker Vignettenforscher*innen zu formulieren: Vignetten fungieren als „Klangkörper“, die von Resonanzen und Anklängen bevölkert sind, die ein vielstimmiges Echo auf Erfahrungen meinen, deren Fülle in den Grenzen von allzu größer Nähe droht, ihre Fassung zu verlieren, und in allzu großer Abstraktion ihren Reichtum einbüßt. (Vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, S. 31 ff.)

Erfahren, Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln sind Vollzüge, die niemals mit sich selbst anfangen. In ihrer Sicht tritt das „Fangen“ in Anfangen in den Vordergrund. Sie sind eingebettet und bestimmt durch Umstände, für die wir selbst nicht einstehen können. Auch für menschliches Lernen gilt diese notorische Verspätung. Wenn wir uns unserem Lernen ausdrücklich zuwenden, hat es bereits begonnen. Lernforschungen profitieren davon, dass das Lernen von anderen durchaus wahrzunehmen ist, weil wir es auf gewisse Weise beglaubigen können. Das etwa von Vignettenforscher*innen Wahrgenommene „gibt etwas preis von der Erfahrung, die der andere im Moment seines Entstehens [etwa eines Bildes] macht, nie aber jene Erfahrung selbst“ (Baum/Kunz 2007, S. 93). Das Bemühen darum, diese Preisgabe aufzufangen und aufzufassen, kann man als „szenisches Verstehen“ bezeichnen. Entscheidend ist dabei, dass jene, die verstehen wollen, mit denen, die verstanden werden sollen, in szenischer, also sozialer, vorreflexiver, leiblich situierter Verbundenheit stehen. Damit gerät eine vortheoretische, „partizipative szenische Einbettung“ (Hogrebe 2009, S. 56) in den Blick, die zwar distanzierte Analysen in Perfektion unmöglich macht, aber gerade deshalb die Einsicht in konkrete, unhintergehbare wie vage Voraussetzungen des Lernens gewährt. „Das Szenische liegt an der Peripherie unserer Wahrnehmung, aber in der Mitte unserer Existenz. Szenen, nicht Objekte sind das Primäre unseres Weltverhältnisses.“ (Buchholz 2019, S. 423)

Die Empirie der Vignettenforschung widmet sich im vorliegenden Material nicht isolierten Daten, die im Nachhinein in einen Zusammenhang gestellt werden. Sie teilt vielmehr typische Aspekte alltäglicher Erfahrung, d. h. sie registriert nicht lediglich das Gegebene, sondern schult eine bestimmte Wahrnehmungssensibilität. Dabei wird unterstellt, dass die Autor*innen Unterrichtsszenen wahrnehmen und nicht nur beobachten. Während Beobachtungen eine distanzierte Weltzuwendung meinen, bleiben Wahrnehmungen engagiert in ihrem Weltkontakt, verstrickt in ein Erfahrungsgewebe, das jeden Anspruch auf einen reinen Blick verdächtig macht. Sie sind sozial geprägt. Immanuel Kant spricht davon, dass wir Erfahrungen von anderen „adoptieren“ (vgl. Scholz 2000, S. 41 ff.) müssen, weil wir ansonsten nur Erkenntnisse über den eigenen Lebensort und die eigene Lebenszeit hätten. Strenggenommen hätten wir noch nicht einmal diese, weil wir schon die Sprache übernehmen müssen, in der wir unsere Erfahrungen artikulieren. Die Glaubensgewissheit, dass wir eine Welt haben, das Gefühl des Wirklichen, die Vertrautheit mit unserer Lebenswelt verdankt sich nicht einer Sammlung wahrer Aussagen. (Vgl. Wieland 1982, S. 230 f.) Sie lässt sich weder an einem absoluten Wissen noch an einer unmittelbaren Gegebenheit messen. Im absoluten Wissen verlören wir unsere Welt, in der Begegnung mit dem Unmittelbaren uns selbst. Den wahrnehmenden Forscherinnen und Forschern wird abverlangt, dass sie in „unausgerichtete[r] Bereitschaft“, gleichsam in „konzentrierte[r] Passivität“ (Anders 2017, S. 117) bei den Lernenden sind.

Im Allgemeinen haben wir keine Probleme, über unsere Wahrnehmungen zu sprechen. Wir können sie wie unsere Erfahrungen tauschen. Wir können Erfahrungen zwar nicht stellvertretend erwerben, wir können sie aber im doppelten Wortsinn teilen. Das bedeutet, dass unsere sinnliche Weltzuwendung Gemeinsamkeit erzeugt, aber das Wahrgenommene auch aufteilt; denn nicht alles ist für jeden jederzeit zu sehen, zu hören oder auch zu riechen. Hans-Georg Gadamer hebt hervor, dass „Dabeisein […] mehr als bloße Mitanwesenheit mit etwas anderem [meint], das zugleich da ist“ (Gadamer 1972, S. 118). „Zuschauen ist […] eine echte Weise der Teilhabe.“ (Ebd.)2 Das Gemeinsame in der Teilhabe garantiert, dass wir einander erzählen können, was wir gesehen, gehört, gerochen, geschmeckt oder ertastet haben, ohne dass wir uns fragen, ob wir wirklich dasselbe wahrnehmen. Wir sprechen über Bilder, über eindrucksvolle Landschaften, schwärmen von unserem Lieblingskonzert, freuen uns, wenn andere unser Parfum als angenehm empfinden, und laufen nicht gerne barfuß über spitze Steine, kommen zur Hilfe, weil wir den Schmerz von anderen sehen. Kalter Wind lässt uns frösteln. Die Sonne blendet uns. Die Sirenen, das Feedbackpfeifen und das Kreideschaben auf der Tafel gehen uns buchstäblich auf die Nerven. „Ich werde [zwar] niemals wissen, wie Sie Rot sehen, und Sie werden nie wissen, wie ich es sehe; aber diese Trennung der Bewusstseinsströme wird erst nach dem Scheitern der Kommunikation erkannt, und unsere erste Reaktion besteht darin, an ein Seiendes zu glauben, das zwischen uns ungeteilt ist.“ (Merleau-Ponty 2003, S. 36) Schwierig wird es also, wenn die Verständigung nicht gelingt, wenn die Sprache versagt, weil es ihr nicht glückt, unsere leibliche Resonanz auf die Welt zum Ausdruck zu bringen. Dann richtet sich die Frage darauf, was wir wirklich wahrnehmen. Mitunter wird allzu leichtfertig ein „Wir“ zum Subjekt des Satzes. Ein nicht unbedingt reflektierter machttechnischer Eingriff vereinnahmt und beraubt das andere Ich um sein Widerstandspotenzial.

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9783706561136
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