Kitabı oku: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren», sayfa 4

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3. Probleme des hermeneutischen Verstehens

Der Primat der Sprache und des Gesprochenen in den Texten bedeutet einen Präsentismus des Zeichens (vgl. Derrida 1994). Von der Oberfläche gilt es auf eine „Hinterwelt“ (Nietzsche) des Zeichens mittels Interpretation und Auslegung zu gelangen. Verstehen ist damit vornehmlich Explikation einer verborgenen, latenten Bedeutung. Die Präsenz des Sichtbaren wird abgewertet zugunsten der Latenz des Unsichtbaren und Zu-Interpretierenden.

Im hermeneutischen Verstehen wird der*die Andere zwar erfasst, aber nur als ein Spiegelbild des Eigenen. Das Verständnis des*der Anderen, seine*ihre Intentionen und Emotionen, sein*ihr Erleben und sein*ihr Erfahren bleiben letztlich auf hermeneutischem Weg unzugänglich. Verstehen als Besser- bzw. Anders-Verstehen (Dilthey, Gadamer) bzw. semiotisches oder einfühlendes Verstehen (Schleiermacher, Dilthey) kann radikale Andersheit (Levinas 1983) sowie die Fremdheit des*der Anderen nur insofern erfassen, als dass diese bagatellisiert, egalisiert oder sogar kolonialisiert wird (vgl. Lippitz 2019). Diese Problematik führt beispielsweise in der Ethnologie zu einer Kritik an der hermeneutischen Herangehensweise (vgl. Kalthoff 2006, S. 155, 165).

4. Ausgang, Zugang, Durchgang: Das Phänomen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit

Im Unterschied zum hermeneutischen Verstehen als Auslegen, Interpretieren und Rekonstruieren eines latenten Sinnes im Modus der Repräsentation insistiert die phänomenologische Zugangsweise auf die Gegebenheit der leiblichen und lebensweltlichen Erfahrung, der „natürlichen Einstellung“ – so Husserls problematische Formulierung. In dieser „natürlichen Erfahrung“ zeigt sich etwas – das Phänomen. Wie Heidegger im § 7 von „Sein und Zeit“ zur „phänomenologische[n] Methode“ (Heidegger 2001, S. 27 ff.) verdeutlicht, bezeichnet ein Phänomen etwas, das sich zeigt (vgl. ebd., S. 29). Das Phänomen (phainomenon) als das Erscheinende verweist gerade nicht auf etwas Verborgenes, Latentes, Symbolisches. Es ist vielmehr eben deshalb Phänomen, weil es oberflächlich ist (vgl. ebd., S. 36). Um sich der „Erscheinung“ des Phänomens zu öffnen, bedarf es der Einstellung, dass hinter oder unter der Oberfläche nichts ist: kein Wesen, kein Indikator oder Symptom für etwas Latentes. Phänomenologisches Sehen und Forschen geht also von der Oberflächlichkeit der Phänomene aus. Phänomenologie kann daher als Praxis des Sich-zeigen-Lassens bestimmt werden: „Das was sich zeigt, so wie es sich zeigt, von ihm selbst her sehen lassen“ (ebd., S. 34).

Die phänomenologische Einstellung ist aber nicht mit einem Positivismus zu verwechseln. Die Horizonthaftigkeit des Phänomens und die Struktur der Erfahrung verhindern zunächst, dass das Phänomen sichtbar ist. Der Zugang zum Phänomen ist ‚verstellt‘ oder ‚verschattet‘. Deshalb fordert der „Ausgang der Analyse ebenso wie der Zugang zum Phänomen und der Durchgang durch die herrschenden Verdeckungen eine eigene methodische Sicherung“ (ebd., S. 36, Hervorh. im Orig.). Diese „methodische Sicherung“ wird, wie ich zeigen möchte, mit der Deskription und der mitgängigen Reduktion erreicht. Gerade Interpretationen, Vormeinungen und Deutungen, auch Theorien, szientifisches und kulturelles Wissen sowie wissenschaftliche Modelle bewirken, dass sich das, was sich zeigen kann, nicht zeigt. Heidegger bemerkt dazu kritisch:

Faktisch ist es […] so, dass unsere schlichtesten Wahrnehmungen und Verfassungen schon ausgedrückte, mehr noch, in bestimmter Weise interpretierte sind. Wir sehen nicht so sehr primär und ursprünglich die Gegenstände und Dinge, sondern zunächst sprechen wir darüber, genauer sprechen wir nicht das aus, was wir sehen, sondern umgekehrt, wir sehen, was man über die Sache spricht. (Heidegger 1994, S. 75)

Die Vorstellung und Unterstellung von latentem Sinn, wie sie für die Hermeneutik und die rekonstruktiven Sozialwissenschaften leitend ist, führt nicht dazu, die Sachen besser oder anders oder überhaupt zu sehen (vgl. Brinkmann 2014, S. 212 ff.). Im Unterschied dazu geht die Phänomenologie von der „Sache selbst“ (Husserl) aus. Diese ist, so die naive Einstellung des*der Phänomenolog*in, in der Wahrnehmung gegeben. Sie lässt sich leibhaft erfahren. Heidegger verdeutlicht das am Beispiel eines Stuhls: „Ich sehe nicht ‚Vorstellungen‘ von dem Stuhl, erfasse kein Bild von dem Stuhl, spüre nicht Empfindungen von dem Stuhl, sondern sehe ihn schlicht – ihn selbst. Das ist der nächstgegebene Sinn des Wahrnehmens“ (Heidegger 1994, S. 48). „Anschauung besagt: Schlichtes Erfassen des leibhaft Vorgefundenen selbst, so wie es sich zeigt“ (ebd., S. 57). Daher ist der phänomenologische Zugang nicht der der Interpretation, sondern der der Deskription. Deskription wird als Praxis des Sehen-Lassens der „leibhafte[n] Selbstgegebenheit“ (ebd., S. 54) der Sache bestimmt. Auf dieser Grundlage ist die „oberste methodische Regel“ der phänomenologischen Deskription, „sich gerade nicht um Deutungen zu bemühen, sondern lediglich nur das festzuhalten, was sich selbst zeigt, mag es auch noch so dürftig sein“ (ebd., S. 63). Nicht die Differenz von Innen und Außen, sondern die Differenz von Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit ist leitend. Unsichtbarkeit gilt nicht als Makel, sondern als die Bedingung der Möglichkeit des Sehens und Verstehens überhaupt (vgl. Brinkmann/Rödel 2020).

Der phänomenologische Zugang verlässt sich aber nur in einer scheinbaren Naivität auf die Gegebenheit der Phänomene in der Erfahrung (vgl. zum Folgenden Brinkmann 2015a, 2019a). Er basiert einerseits auf einer Ontologie der Erfahrung des Leibes und der Dinge und insistiert auf dem unaufhebbaren doxalischen Grundzug lebensweltlicher und alltäglicher Erfahrungen, der sich gegen eine Kolonialisierung, Rationalisierung und Objektivierung der Lebenswelt stemmt (vgl. Brinkmann 2020a). Wahrnehmung und Erfahrung beruhen auf den „doxa“ der gesellschaftlich, kulturell und sozial formierten Lebenswelt, das heißt sie sind dogmatisch (vgl. Bourdieu 1993). Sie sind aufgrund kultureller, historischer und sozialer Erfahrungen und theoretischer und szientifischer Interpretationen formiert, normalisiert und strukturiert. Das bewirkt, dass Phänomene nur „verstellt“ oder „verschattet“ (Fink 2004, S. 193) sichtbar und erfahrbar sind. In der Wahrnehmung und im Erfahren tauchen daher zunächst vor allem unsere eigenen Deutungen, Normen, Konventionen und Kategorien auf. Diese sagen dann eher etwas über den oder die Wahrnehmende, weniger etwas über das Phänomen aus. Hier zeigt sich die zweite Bedeutung der natürlichen Einstellung: Sie muss aufgrund ihrer Verstellung durch Vormeinungen und Vorurteile erst gewonnen werden – mittels der Reduktion (vgl. 7.). Diese kann sich aber nicht „rein“ einstellen, da wir uns nicht aus unserem Leib, unserer Geschichte oder Kultur herausreflektieren können. Insofern ist der transzendentale Rückgang auf eine natürliche Erfahrung, wie sie Husserl proklamierte, eine Illusion (vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 82). Sie ist ebenso unmöglich wie eine Epoché oder Reduktion vollständig sein kann.6 Gleichwohl dient sie als heuristische und methodologische Perspektive für einen reflexiven Einsatz, der sich kritisch gegen Vorurteile und Kolonialisierungen richtet, indem diese eingeklammert werden.

5. Sagbares und Unsagbares: Signifikative Differenz

Der doxalische, lebensweltliche und leibbezogene Zugang der Phänomenologie und ihre kritische Perspektive auf theoretische, szientifische und kulturelle Interpretationen beruht auf einer Theorie der Erfahrung und des Leibes. Auf dieser Grundlage wird die präverbale und präreflexive Erfahrung von ihrer nachgeordneten, sprachlichen Fixierung und Interpretation streng unterschieden. In der phänomenologischen Philosophie und Pädagogik wird, ausgehend von Husserl, der Leib als Weltorgan der Erfahrung qualifiziert und Leib-Sein von Körper-Haben unterschieden. Erfahren vollzieht sich im und durch den Leib (vgl. Brinkmann et al. 2019). Der Leib ist nicht Gegenstand (also Ding oder Objekt) und auch nicht Zentrum des Ich. Er ist vielmehr Medium unserer Welt- und Selbsterfahrung: „Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als Gegenstand, sondern als die Welt erfahren, auf die wir von unserem Körper aus unsere Aufmerksamkeit richten“ (Polanyi 1985, S. 23). Diese Erfahrung ist zunächst implizit, d. h. „ohne Worte“ und Begriffe, ohne ausdrückliche Reflexion, d. h. präreflexiv. Husserl betont die Differenz zwischen leiblichem Wahrnehmen (und Erfahren) einerseits und einer sprachlichen, symbolischen, bildlichen oder zeichenförmigen Repräsentation dieser Wahrnehmung und Erfahrung andererseits: „Zwischen Wahrnehmung einerseits und bildlich-symbolischer oder signitiv-symbolischer Vorstellung andererseits ist ein unüberbrückbarer Wesensunterschied“ (HUA III, S. 79). Es besteht also ein grundsätzlicher Unterschied zwischen dem, was erfahren wird, und dem, mit dem es repräsentiert wird: das Zeichen, das Bild, die Metapher, das Wort, der Begriff. Die leibhafte, „stumme“ Erfahrung (HUA I, S. 77) lässt sich nur nachträglich sprachlich fixieren. Es zeigt sich eine „signifikative Differenz“ (Waldenfels 1992). Der sprachliche Ausdruck artikuliert etwas, was sich ihm im Bezug zugleich entzieht. Merleau-Ponty spricht in diesem Zusammenhang von einer Paradoxie des Ausdrucks (Merleau-Ponty 1986), weil Sprache und Interpretation auf Vorsprachliches und Vorreflexives bezogen bleiben, ohne an dessen Stelle treten zu können (Meyer-Drawe 1984). Die zeichenhafte und sprachliche Bestimmung des vorprädikativen Erfahrungssinns ist eine Praxis der Signifizierung. Im phänomenologischen Modell des Verstehens taucht damit Fremdheit als Kategorie auf, zum einen als Problem der Übersetzung einer stummen Erfahrung in dem Bereich der Sprache, zum anderen als Problem des Fremd-Verstehens von Anderen (vgl. Lippitz 2019).

6. Phänomenologische Deskription: mit der Sprache gegen ihre Grammatik

Die phänomenologische Deskription ist damit auch in die Differenz zwischen Sagbarkeit und Unsagbarkeit eingespannt. Sie konzentriert sich auf das, was beschreibbar ist. Das Beschreibbare ist zunächst das Sichtbare. Die banale Feststellung, dass etwas ausschnitthaft und perspektivisch zu sehen ist, erweist sich damit als äußerst voraussetzungsreich. Unsichtbar sind nämlich sowohl die Motive und Absichten von Akteur*innen als auch ihre Bewusstseinsvorgänge oder Gefühle. Überhaupt sind die meisten Themen, die Pädagog*innen interessieren, wie Lernen, Aufmerksamkeit oder Bildungsvorgänge per se unsichtbar. Sie lassen sich nur indirekt erschließen. Was aber sichtbar und damit beschreibbar ist, sind leibliche Äußerungen in Mimik, Gestik, Tonus und Haltung sowie Expressionen im Lachen, Weinen, Lächeln usw.7

Die Chance des deskriptiven Verfahrens besteht darin, dass das Beschreibende für die „Macht der Sprache“ (Wilhelm von Humboldt) besonders sensibilisiert wird – etwa beim Finden von geeigneten Verben, um Handlungsvorgänge zu beschreiben, ohne gleich eine Wertung auszusprechen. Überhaupt können Bewegungen genauer beschrieben werden, ohne Intentionen, Motive oder Absichten zu unterstellen. Die Beschreibung richtet sich dann vor allem darauf, wie gehandelt wurde, wobei die Mimik, Gesten und der Tonus und die leiblichen und emotionalen Antworten auf Andere im Mittelpunkt stehen. Verben und nicht-wertende Adjektive sind für eine anschauliche, deskriptive Darstellung nützlich. Dabei sollten im Gegenzug Um-zu-Motive oder Kausalsätze sowie Vergleiche, Metaphern und andere sprachlichen Bilder sehr sparsam verwendet werden, um möglichst nah an der „Sache selbst“ zu bleiben.

Die Beschreibungen von komplexen Geschehen – etwa in pädagogischen Situationen wie im Klassenraum – kommen trotzdem schnell an ihre sprachlichen Grenzen. Vieles bleibt implizit, nicht sagbar. Vieles bleibt Deutung und Interpretation. Die Simultanität und Polyvalenz von Situationen lassen sich nur schwer in die Linearität und Grammatik der Sprache einfügen. Man gerät an die „Ränder der Sprache“ (Derrida 1984, van Manen 2012), spricht gleichsam mit der Sprache gegen ihre Grammatik, um sich dem Gezeigten wenigstens tentativ nähern zu können.

Die Probleme der Beschreibung bestehen demnach darin, dass sich die gelebten Erfahrungen nie vollständig und ohne Verluste verbalisieren lassen. Eine Deskription übersetzt etwas Nicht-Sprachliches und Nicht-Begriffliches in das Medium der Sprache und unterwirft es damit den Regeln der Grammatik, der Linearität des Semantischen und den Konventionen des Diskurses. Fremdheit als ereignishaftes Moment in der Erfahrung aber steht „quer“ zu den Konventionen, Codes und Regeln der Sprache und des Diskurses. Es ergibt sich daraus eine „gewisse Unmöglichkeit, vom Ereignis (der Fremdheit, MB) sprechen zu können“ (Derrida 2003). Diese Unmöglichkeit lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, indem die Signifikation optimiert oder neutralisiert wird. Sie lässt sich aber in einen kritischen und reflexiven Modus überführen. Dazu ist es nötig, den Forschungsprozess und den Prozess der Verschriftlichung selbst zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Mitgängig und zeitgleich mit einer Beobachtung, Beschreibung und Verschriftlichung von Erfahrungen muss eine Reflexion der impliziten Deutungen, Normen, Kategorien und Normierungen stattfinden. Die „phänomenologische Epoché“ kann, wie ich zeigen werde, diese Reflexion leisten. Ziel dieses Verfahrens ist nicht, eine vermeintliche Neutralität oder eine Natürlichkeit der Erfahrung herzustellen, sondern es soll sich etwas zeigen, was sich von der Sache her zeigt, was überraschend, irritierend, ereignishaft, also fremd sein kann.

7. Phänomenologische Reduktion

Die phänomenologische Deskription vollzieht daher mitgängig eine Reduktion oder Epoché. Die „natürliche Einstellung“ und die alltägliche Doxa werden einerseits kritisch eingeklammert. Andererseits versucht sich die skeptische Arbeit der Reduktion der „natürlichen Einstellung“ zur „Sache selbst“ zu nähern (zum Folgenden vgl. Brinkmann 2020a).

Nach Husserl bedeutet Epoché als eidetische Reduktion Enthaltung einer Stellungnahme, eines Urteils bzw. eines Vorurteils über eine „Sache“ (HUA III, S. 64). Dazu muss das Urteil über die „Sache“ zunächst eingeklammert werden. Einklammern ist also nicht Nicht-Urteilen, sondern Aufschub des Urteils. Der Schritt zurück ist nicht nur Distanznahme zu den Doxa, den eigenen Vorurteilen, zu den mitgängigen Urteilen und Akten des Bewusstseins, sondern auch die reflexive Thematisierung einer Blickwende hin zum Wie dieses Prozesses. Die Aufmerksamkeit des Bewusstseins richtet sich auf die Aktvollzüge des Bewusstseins. Epoché ist keinesfalls mit einer psychologischen Operation zu verwechseln. Forschungspraktisch werden damit die eigene Intentionalität und die mitgängig thematisierten subjektiven und wissenschaftlichen Vorannahmen reflexiv erfasst. Im Zuge der Einklammerung als Distanznahme zu den eigenen subjektiven und theoretischen Vorannahmen lässt sich eine andere Sicht ‚auf die Sache selbst‘ gewinnen, weil diese als Zuschreibungen, als Bewertungen, oder Abwertungen, als Interpretationen und Deutungen sichtbar werden (zur Kritik der transzendentalen Voraussetzungen der Husserl’schen Epoché vgl. Brinkmann 2020a).

Heidegger wendet sich von den subjekt- und transzendentalphilosophischen Grundlagen Husserls ab. Ihm zufolge ereignet sich in der Epoché als Anhalten einer Erfahrungsbewegung und Rückführung auf Erfahrung eine Bewegung vom Subjekt weg hin zum Phänomen, zur Sache. Sie ist damit auch ein Sich-Öffnen für das Nicht-Selbstverständliche, Fremde und Andere, das zunächst aufgrund der biographischen und theoretischen Vorurteile nicht gesehen wurde (vgl. Heidegger 1969, S. 88).

Waldenfels geht noch weiter: Er bestimmt die Epoché als responsive Epoché in einer doppelten Weise: Zum einen als Reduktion vom Gesehenen auf das Sehen (Merleau-Ponty), und zum anderen als Reduktion vom Gesagten auf das Sagen (Levinas). Sie bewirkt eine Unterbrechung des doxalisch Bekannten, Gewohnten und Normalen. Fremdheit wird nicht nur erfahrbar, sondern es werden auch Ordnungen gestört und durchkreuzt. Damit wird es möglich, die eigenen Erfahrungen im Horizont von Fremdheit reflexiv auf anderes Wissen und Meinen auszurichten. Mit der Epoché können Stereotypen und Schemata nicht nur eingeklammert, sondern die wechselseitigen Zuschreibungen im Sagen und Zeigen als solche thematisiert und reduziert werden. Mit Waldenfels wird deutlich, dass die Epoche als Verfahren auf intersubjektiven Austausch angewiesen ist, ja dass sie eine soziale und kommunikative Operation ist: ein methodisch kontrolliertes Antworten auf Andere und Anderes (vgl. 9.).

Zusammenfassend: Die Beschreibung der „Sache selbst“ (Husserl), hin zum Überraschenden und Ereignishaften (Heidegger) oder zum Ungewohnten und Unnormalen (Waldenfels) bedarf zunächst einer Rückführung (Epoché). Mit der Einklammerung von Urteilen (Husserl), dem Anhalten einer Erfahrungsbewegung (Heidegger) oder der Reduktion auf das Gesagte und Gesehene (Waldenfels) kann eine kritische Distanzierung stattfinden und eine reflexive Blickwende eingeleitet werden.

Für das Verfahren der phänomenologischen Deskription wird damit deutlich, dass erstens der Prozess des Schreibens einerseits als Linearisierung eine Verlangsamung und damit gegebenenfalls eine Distanzierung und Reflexion ermöglicht. Andererseits führen die oben genannten Überlegungen zur sprachlichen Technik der Beschreibung und der Verwendung von Verben, Adjektiven, Metaphern zu einer Reflexion nicht nur des Schreib-, sondern auch des Wahrnehmungsprozesses. Hiermit wird eine Verzögerung oder ein Verweilen möglich, eine Distanzierung, und damit gegebenenfalls eine Reduktion von Vorurteilen, Zuschreibungen oder Stereotypen. Das Verfahren der phänomenologischen Deskription kann zweitens in einem intersubjektiven Austausch nicht nur intensiviert, sondern auch weiter und mehr an der „Sache“ orientiert werden. Eine intersubjektive Validierung (Lippitz 2018, S. 332) des Beschriebenen in einer am Material orientierten Diskussion, etwa einer Datensitzung oder in einem Analyse- oder Interpretationszirkel, ermöglicht einen Austausch unterschiedlicher Perspektiven und damit wiederum eine Distanzierung und eine intersubjektive Reduktion, die hier als gegenseitige Befremdung des eigenen Blickes durch und mit Anderen sowie durch die Teilhabe an Perspektiven und Sichtweisen Anderer und Fremder stattfinden kann (vgl. zum Problem der Fremdheit und Befremdung Brinkmann 2020a). In diesem Zusammenhang kommt drittens ein weiterer, wichtiger Schritt des phänomenologischen beschreibenden Zugangs in den Blick, nämlich die Variation.

8. Variation von Perspektiven – Einlegen von Sinn

Im Zuge der Deskription und Reduktion wird eine weitere Operation möglich, die Eugen Fink und Werner Loch als „Einlegung“ bezeichnen (Fink 1978, S. 13; Loch 2018, S. 297). Im Unterschied zur hermeneutischen Auslegung von Vorhandenem und Geschehenem ist das phänomenologische Einlegen eine projektive und produktive Tätigkeit. Sie wird auch als Attribution, Zuschreibung oder Signifikation bezeichnet (vgl. Waldenfels 1993, S. 7). Sie ist ein zielgerichteter Akt, mit dem deutende Perspektiven auf die Deskription angelegt werden. In gewisser Weise findet also eine Auslegung des Beschriebenen statt, allerdings in projektiver, auf eine imaginierte Zukunft gerichteter Weise. Es handelt sich also nicht um eine Rekonstruktion, sondern um eine Projektion möglicher Perspektiven zum Zwecke des Auslotens von Spielräumen. Dieses Verfahren kommt damit deutlich in die Nähe der Abduktion (Reichertz 1993). In einem wissenschaftlichen Kontext können Deutungen und Theorien als Perspektiven für eine Auslegung fruchtbar gemacht werden.8 In einem interkulturellen Kontext ermöglicht die Einlegung von Perspektiven den produktiven Umgang mit kulturellen Differenzen.9

Das phänomenologische Verfahren ermöglicht damit eine Pluralisierung von Sinn und eine Produktion von Sinn (Fink 1978) bei gleichzeitiger intersubjektiver Validierung.

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