Kitabı oku: «Erfahrungen verstehen – (Nicht-)Verstehen erfahren», sayfa 6

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2. Die Wirkmacht der Tiefenstrukturen von Unterricht

Erfahrungen im schulischen Kontext sind aufgrund der staatlichen Vorgaben für die Lehrenden und Lernenden über die Lehrpläne fremdgesteuert und daher „häufig lediglich geschickt inszenierte Illustrationen, deren Surrogatfunktion die Schüler*innen schnell erkennen. Der Begriff der Erfahrung ist vor diesem Hintergrund gewissermaßen für das ‚wirkliche Leben‘, den Alltag, das Leben jenseits der Schule reserviert und verliert seinen Pathos bei der Beschäftigung mit Theorien und Büchern“ (Combe/Gebhard 2007, S. 7). Dies wird insbesondere deutlich, wenn man hinter die Oberflächenstruktur methodisch-didaktischer Interventionen in der Umsetzung von Lehrplanvorgaben blickt und die Unterrichtsverläufe in den Tiefenstrukturen analysiert (vgl. Tye 2000): Dabei stößt man – unabhängig von Schulform, Jahrgang und Fach – auf ein wiederkehrendes Grundmuster, dem alle unterrichtlichen Aktivitäten folgen. Es wird nach Mehan (vgl. 1979) als I-R-E-Muster bezeichnet und steht für die unterrichtliche Abfolge Initiation – Response – Evaluation, die Folgendes bedeutet: Die Lehrenden initiieren Aktivitäten, die Lernenden respondieren auf die gesetzten Impulse und Erstere bewerten deren Antworten entsprechend der lehrplangemäßen Zielvorgaben mit „richtig“ oder „falsch“ bzw. beurteilen diese nach einem vorgegebenen (Noten-)Schlüssel. Bei negativer Beurteilung erfolgt meist noch eine zweite (oder dritte) Chance, die über das schulische Fortkommen entscheidet. Dieses Dreischritt-Muster wird in Abb. 2 aufgezeigt.


Abb.2: Dreischritt-Muster I(nitiation) – R(esponse) – E(valuation) nach Mehan (1979)

Die Allgegenwart dieses Drei-Schritt-Musters hat in der Tiefenstruktur offenkundig „die Funktion der Durchsetzung, Deutung und Indizierung lernrelevanten Wissens“ (Combe/Gebhard 2007, S. 90) Um die Lehrkräfte auf diese tiefenstrukturelle Ausgangssituation aus- und fortzubilden, werden in der Didaktik die Voraussetzungen geschaffen, die Schüler*innen über professionelle Unterrichtsführung (classroom management) möglichst vielseitig kognitiv zu aktivieren und sie in ihrem Lernen entsprechend zu unterstützen. In der Anwendung zeigen sich die jeweiligen didaktisch-methodischen Schritte in vielfältigen Aktivitäten, die sich aus dem Modus des Lehrens ergeben, wie etwa Aufgaben stellen und kontrollieren, Sequenzen takten und durchführen, Aktivitäten methodisch inszenieren und variieren, Inhalte strukturieren und portionieren oder Verhalten bestrafen und belohnen. Inhaltlich zeigt sich meist,

„dass der Lehrer bzw. Prüfer eine Frage [stellt], obwohl er die Antwort schon weiß. Das ist im sozialen Alltag unüblich und, wenn es herauskommt, peinlich. In der Schule ist dies ein Standardverfahren der Kontrolle und der Trivialisierung. Dieselbe Frage müsste, wenn wiederholt, die gleiche Antwort erhalten. Dabei gerät der Gefragte nicht selten in die schwierige Lage, nicht nur die richtige Antwort finden zu müssen, sondern auch noch herausbekommen zu müssen, was der Fragende für die richtige Antwort hält.“ (Luhmann 2002, S. 78)

Es gibt immer wieder Ansätze, diese default condition (vgl. Cazden 1988) von Unterricht zu durchbrechen und diesen anders zu organisieren. Dazu wurde in den letzten Jahren über didaktische Neubestimmungen und -konzeptionen versucht, die Selbständigkeit der Schüler*innen zu stärken, um der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen. Die vom Leitspruch Die Schüler in den Mittelpunkt stellen begleitete Neuorientierung hat im didaktischen Diskurs zu einem Wandel der Aufmerksamkeit vom Lehren zum Lernen geführt, der die gegenwärtigen Debatten über die Gestaltung von Unterricht bestimmt. Dieser Diskurswechsel in der Didaktik ist dadurch gekennzeichnet, dass er zwar eine Verlagerung der Aktivitäten von der Lehrperson zu den Lernenden fordert, sich allerdings nicht der Frage stellt, wie durch lehrseitige Instruktion Bildung überhaupt hervorgebracht werden kann. Wird dieser Zusammenhang nicht geklärt, besteht die Gefahr dessen, was Holzkamp (1995, S. 39) als „Lehr-Lernkurzschluss“ bezeichnet. Dieser besteht darin, dass die Lehrperson nach dem Muster einer Erzeugungsdidaktik (vgl. Arnold 2010) Inhalte für einen differenzierenden Unterricht auswählt, auf die Situation der Klasse reduziert und dafür die jeweils geeigneten Methoden einsetzt, um die vorgegebenen Ziele zu bewältigen bzw. Kompetenzen zur Erreichung geforderter Standards zu vermitteln. Wird dieser Methoden-Lernkurzschluss nicht kritisch hinterfragt, kommen Erfahrungen, wie sie Lenny in der folgenden Vignette (aus Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, S. 60) macht, nicht in den Blick.

„Heute gibt es in der Mathe-Stunde ein Laufdiktat mit vier verschiedenen Problemen, welche die beiden Lehrpersonen im Zimmer aufgehängt haben. Nach der Erklärung geht es los. Die Schüler*innen laufen hin und her zu den Aufgaben, versuchen sich die Informationen zu merken und das Problem in ihrem Heft bei ihrem Arbeitsplatz zu lösen. Manche bleiben im Stehen, damit sie schneller sind, und rasen hin und her, andere arbeiten langsamer. Lenny hat zufällig mit einer schwierigen Aufgabe angefangen und ist bereits mehrmals hin und her gelaufen. Er ist angespannt und sagt verzweifelt, dass er es nicht kann. Sein Frust steigt, er scheint paralysiert zu sein, kurz vor dem Explodieren. Eine Lehrerin versucht ihn zu beruhigen und zu ermutigen. ‚Aber das kann ich nicht!‘, sagt er. Sie gibt ihm einen Tipp und sagt ihm, er solle es wieder versuchen. Unwillig geht er wieder zur Aufgabe an der Tafel, die Lehrerin verlässt seinen Tisch. Das geht nicht, das geht nicht, das geht nicht. Er kommt zu seinem Schreibtisch zurück und radiert hektisch. Du kannst das nicht, du kannst das nicht, du kannst das nicht. Er schimpft mit sich selber, weil er sich nichts merken kann, und marschiert verärgert wieder zur Aufgabe hin. Du kannst das nicht, du kannst das nicht, du kannst das nicht. Du bist zu blöd, du bist zu blöd. Ein Scheiß. Es ist ein Scheiß.“

Über die didaktische Inszenierung eines Laufdiktats werden von den Lehrkräften im Teamteaching durch die Entscheidungsmöglichkeiten in der Reihenfolge der Abarbeitung vorgegebener Aufgabenstellungen sowie über die zu überwindenden Distanzen zusätzliche Handlungsimpulse gesetzt. Allerdings führt diese Form der Öffnung von Unterricht Lenny – trotz Intensivierung seiner Anstrengungen – zum Scheitern (Du kannst das nicht …). Eine bloße organisatorische Öffnung des Unterrichts birgt die Gefahr eines Methoden-Lernkurzschlusses in sich, über den Lernsituationen zum beliebigen Anlass zu verkümmern drohen und „zum gleichgültigen Material werden, an dem eine bestimmte Kompetenz trainiert wird“ (Rumpf 1994, S. 70). Die Probleme zeigen sich in der Gefahr eines nicht problematisierten Durchlaufens von vorbereiteten Lernparcours über Arbeitsblätter, Wochenpläne, Kompetenzraster u. a.m., deren Lehrstrategie im Abhaken erreichter (vorgezeichneter) Lernziele liegt, ohne zu fragen, ob sie überhaupt sinnvoll sind.

Lennys Erfahrung in der Vignette hat über den Methoden-Lernkurzschluss nicht dazu geführt, dass sich Sinn und Bedeutung in der Inbezugsetzung zum Lerngegenstand vollziehen, was lehrseits geplant war. Vielmehr ist die geplante Sinn- und Verstehensaufgabe umgeschlagen in eine leibliche Erfahrung, die Lenny über das dreifache Du kannst das nicht im Scheitern der gestellten Aufgabe widerfährt. Im Bemühen den verzweifelnden Schüler zu beruhigen und ihn zum Weitermachen zu motivieren, wird die Lehrperson für Rumpf (1982) „zum Träger bzw. Einstudierer einer bestimmten, randscharf umrissenen Fähigkeit [...], eine Maßnahme, die die Vorgänge abdichtet gegen unkalkulierbare Einbrüche. Nur ganz Bestimmtes darf beide – die Lehrenden und die Schüler*innen – etwas angehen. Sie müssen sich zurückhalten, um die Ziele zu erreichen.“ (S. 117) In den Tiefenstrukturen des Unterrichts bewirkt diese Zurückhaltung die curriculare Engführung, die auf die richtige Leistungserbringung in der Umsetzung von Planungsvorgaben bewirkt.

3. „Welches Lernen wollen wir eigentlich?“

Mit dieser Frage resümiert Terhart (2009, S. 42) den Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der Beziehung von Lehren und Lernen. Damit unterstreicht er einerseits, dass es sich um ein wissenschaftlich schwer zu fassendes Phänomen handelt, wie es Mitgutsch (2008) auf seiner Spurensuche des Lernens ausführlich dargelegt hat. Andererseits macht er mit der Frage deutlich, dass sich Lehrpersonen im Unterricht auf unsicherem Terrain befinden, was sich in Lennys Scheitern am Abarbeiten des Laufdiktats offenbart. Der Widerfahrnischarakter, der ihn affektiv überkommt, ist Ausdruck von Pathos, das sich in der „Empfänglichkeit und Sensibilität für Anderes, für Abweichungen, Kraftunterschiede und Differenzen“ manifestiert (Busch/Därmann 2007, S. 12). Für Combe/Gerhard (2007, S. 89) entsteht, wenn routinemäßige Ablaufmuster in Frage gestellt werden, „gegenüber diesen routinemüßigen Mustern überschüssiger Sinn“. Es stellt sich für sie allerdings die Frage, inwiefern Lehrpersonen

„für solche sich manifestierende Erfahrungsbewegungen offen sind, ob solche Brüche und Irritationen nicht überspielt und schnell wieder geglättet werden. Es ist in diesem Zusammenhang völlig unklar, wie viel Befremdung, Konfrontation, Konflikt und Diskontinuität Unterricht bzw. Unterrichtsformen und Unterrichtsphasen in ihrer konventionellen Gestalt […] verkraften können. Die Befürchtung der Lehrer könnte sein, dass das Geschehen aus dem Ruder läuft. Sie versuchen deshalb, den interaktiven Gleichfluss wiederherzustellen, die zur Rede stehenden Inhalte zu vereindeutigen“ (ebenda, S. 90).

Dies gilt auch für die Lehrerin, die Lenny wieder in den didaktisch inszenierten Modus des Laufdiktats zurückbringen möchte und die aufgetretene Erfahrungskrise nicht als Anlass für pädagogisches Verstehen nutzen kann.

Um für die Wirkmacht von Erfahrungskrisen zu sensibilisieren und der Abkoppelung von Lehren und der von Rumpf beschriebenen Dekontextualisierung des Lernens im Unterricht entgegenzuwirken, versucht der hier vertretene phänomenologisch orientierte Ansatz über das Begriffspaar lehrseits und lernseits (vgl. Schratz 2019) im Hinblick auf den eingangs von Rose skizzierten Sinn von Schule den pädagogischen Bezug im Blick zu behalten. Lernseits setzt immer ein lehrseits voraus, da Lernen „in pädagogischer Perspektive und in strengem Sinne eine Erfahrung“ (Meyer-Drawe 2008, S. 15) ist, in welche Lehrende wie Lernende in gleicher Weise verstrickt sind. Das Begriffspaar soll diese Verstricktheit ausdrücken, da es sich „der Alternative von Kausalität und Intentionalität in all ihren traditonellen Formen entzieht“ (Waldenfels 2006, S. 43).

Die Bezeichnung der Begriffskombination entspringt einer räumlichen Metapher, die auf die Bestimmungsmerkmale diesseits und jenseits anspielt, um das aufzuzeigen, was im Unterricht als subjektives Ereignis für jeden Einzelnen – für Lehrpersonen ebenso wie für Schüler*innen – geschieht. Lernseits führt das Augenmerk über das Unterrichtsgeschehen hinaus, um die Jenseitigkeit der Erfahrungen anderer aufzuzeigen und verlangt außerdem nach übergeordneter pädagogischer Verantwortung für gelebte (Welt-)Erfahrungen. Die Auswirkungen des lehr-lernseitigen Geschehens auf die persönliche Entwicklung lassen sich allerdings nicht kurzfristig über Prüfungsverfahren im Unterricht feststellen, sondern zeigen sich erst im längerfristigen Erfahrungsbezug. Das soll an zwei Beispielen aufgezeigt werden.

Die folgende Schilderung der persönlichen Erinnerungen an die Schulzeit einer Gymnasiallehrerin, die als Flüchtlingskind nach Österreich gekommen war, bringt die Wirkmacht von Lehren im lernseitigen Modus eindrücklich zum Ausdruck.

„Wenn man ‚erfolgreiche‘ Migrantinnen wie mich hernimmt, stellt man schnell fest, dass wir es oft ‚trotz‘ konservativer Eltern geschafft haben. Meist dank einer engagierten Lehrperson, die an uns geglaubt hat. Bei mir war es meine Volksschullehrerin, ihretwegen liebte ich die Schule und sollte sie auch die weiteren zwölf Jahre lieben, auch wenn ich da nicht immer nur so großartige Lehrpersonen hatte. Ich hatte keine leichte Kindheit und Jugend, die Schule war für mich ein Zufluchtsort, und die Frau Lehrerin mit ihrer sanften Art machte mein Leben weicher. Sie fragte mich nie nach meinem Elternhaus aus, nach meiner Herkunft oder meinem Glauben, sie fragte stattdessen, welche Bücher sie uns vorlesen sollte, schrieb motivierende Zeilen unter meine Hausübung und lobte viel – dank ihr war die Schule mein ‚safe space‘. Sie hätte auch fragen können, wieso mein Vater nie in die Schule kommt, was ich so im islamischen Religionsunterricht lerne und ob ich mich nicht lieber auf Deutsch konzentrieren sollte, statt in den bosnischen Muttersprachenunterricht zu gehen, aber sie stülpte mir diese Rolle nicht über, das hätte mich komplett überfordert. So wie Jahre später, als mich Lehrer fragten, ob mir mein Vater verbiete, auf Projekttage mitzukommen. Ich bejahte, ich würde ihnen sicher nicht die Wahrheit sagen, dass meine Eltern nichts von den Projekttagen wussten, weil ich ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, sie um Geld zu bitten. Ein Großteil der muslimischen Kinder in Wien gehört zu den Bildungsverlierern, aber nicht, weil sie islamische Eltern haben, sondern weil das Schulsystem sie im Stich lässt.“ (Erkurt 2020, S. 9)

In der Tiefenstruktur der rückblickenden Unterrichtserfahrungen zeigt sich nicht der in Abb. 1 dargestellte I-R-E-Dreischritt. Die Lehrerin erwartete nicht richtige Antworten auf die Lehrerfrage, um sie nach dem Grad der erwarteten Präzision zu bewerten. Sie verfiel auch nicht der Obszönität des Fragens (vgl. Bodenheimer 2011) nach Elternhaus, Herkunft und Glauben, sondern hat unvoreingenommen an die Schüler*innen geglaubt. Ihr Verhalten entspricht dem, was Klafki (2002) „pädagogisches Verstehen“ nennt, nämlich die ihr

„anvertrauten Kinder und Jugendlichen jeweils neu in ihrer subjektiven Situation, mit ihren Voraussetzungen und Erfahrungen, Interessen, Schwierigkeiten und Nöten, im Zusammenhang ihrer Sozialisationskontexte und in den von den jungen Menschen gesetzten Bedeutungsakzenten zu verstehen versuchen, also hinsichtlich dessen, was die Jugendlichen als für sich selbst wichtig betrachten.“ (Klaffki 2002, S. 178)

Das Kennenlernen der (Lese-)Interessen ihrer Schüler*innen half der Lehrerin beim pädagogischen Verstehen, wodurch sich neue Möglichkeitsräume für die Erschließung von Sach- und Weltbezügen eröffneten. Die Lehrerin trug dazu bei, dass Melissa, die Schülerin, sich in der Schule sicher fühlte, was für Riley/Coate/Martinez (2018) eine Voraussetzung für förderliche Sozialisation und Subjektwerdung darstellt:

„‚Zugehörigkeit‘ ist dieses Gefühl des Irgendwo-Seins, wo man zuversichtlich sein kann, dazuzugehören und sich in der eigenen Identität sicher zu fühlen. […] Jede Schule hat Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen, die ihre Tore betreten. Sie beeinflusst, wie die jungen Menschen die Welt verstehen. Schulen verändern sich ständig wie Kaleidoskope von Menschen, Ideen und Haltungen, die das Potenzial haben sich um gemeinsame Überzeugungen zusammenschließen und Absprachen zu treffen. In der heutigen Welt, in der neue Ideen genauso leicht auf Treibsand wie auf festem Boden gebaut werden, sind Schulen nicht nur wichtige Informationszentren, sondern auch eine der wenigen gemeinsamen gesellschaftlichen Institutionen, die einen Sinn der Zugehörigkeit oder des Ausschlusses schaffen können.“ (S. 3; Übers. M.S.)

Es sind die persönlichen Erfahrungen der Schüler*innen, die deren Bildungserfolg bestimmen, denn

„[e]chtes Lernen berührt den Kern unserer menschlichen Existenz. Lernen heißt, daß wir uns selbst neu erschaffen. Lernen heißt, daß wir neue Fähigkeiten erwerben, die uns vorher fremd waren. Lernen heißt, daß wir die Welt und unsere Beziehung zu ihr mit anderen Augen wahrnehmen. Lernen heißt, daß wir unsere kreative Kraft entfalten, unsere Fähigkeit, am lebendigen Schöpfungsprozeß teilzunehmen.“ (Senge 1996, S. 24)

Daher ist für eine lernseitige Orientierung die Lenkung der Aufmerksamkeit auf die entstehende Zukunft bedeutsam (Scharmer 2007). Die Öffnung des Lernens auf die entstehende Zukunft erfordert eine Offenheit, die nicht nur kognitiv wirksam wird, sondern eine ganzheitliche, damit auch leibliche Erfahrung ist. So kann nach Bachelard (1990, S. 33) auch ein kleines Ereignis im Leben eines Kindes ein besonderes Ereignis in der Welt dieses Kindes und dadurch ein „Weltereignis“ sein. Im Sinne eines responsiven Geschehens entspricht es „einem höchst fragilen Ereignis, nämlich dem Moment, in dem Sinn entsteht“ (Meyer-Drawe 2010, S. 7) und kann als menschliche Gesamtleistung bildenden Charakter haben. Daher ist Lernen auch ein sehr intimer und damit auch verletzlicher Vorgang, denn das, was man bisher kannte und konnte, trägt nicht mehr richtig, aber das Neue ist noch nicht stabil und gibt noch nicht wirklich Halt.

Pädagogisches Verstehen ist aus lernseitiger Haltung nicht auf das Verstehen eines spezifischen fachlichen Inhalts bezogen, sondern übergreift Unterricht, Schulleben und deren institutionelle Rahmenbedingungen. Aufgrund der vielseitigen Anforderungen in dieser komplexen Ausgangssituation gibt es für das pädagogische Handeln keine einfache Antwort im Sinne von richtig oder falsch, Bildungsprozesse aus der Perspektive einer unbekannten Zukunft zu modellieren. Ein Beispiel für diese lernseitige Haltung im Unterrichtsgeschehen schildert Henisch (2020) in seinem Nachruf anlässlich des Todes seines Religionslehrers:

„Seit damals, als er zum ersten Mal zur Tür unserer Schulklasse hereingekommen ist, eine Realschulklasse in Wien Favoriten. Der neue Religionslehrer, ein schmaler, junger Mann, der schon auf den ersten Blick anders wirkte als seine Vorgänger. Seine Vorgänger hatten uns nichts zu sagen gehabt. Wir hatten die Zeit, in der sie uns nichts sagten, genutzt, um unter der Bank Hausübungen für Fächer zu schreiben, die für wichtiger galten als Religion. Als Holl kam, wurde das anders. Er hatte uns etwas zu sagen. Obwohl, oder gerade weil er mehr Fragen hatte als Antworten. Über Gott und die Welt, über die ersten und die letzten Dinge. Es gelang ihm, die Lust am Denken zu wecken, auch und vor allem widersprüchlichen Denken. Und die Freude am Diskutieren. Als wir einmal damit angefangen hatten, wollten wir gar nicht mehr damit aufhören.“ (2020, S. 33)

Diese rückblickende Würdigung des Lehrers lässt jene wirkmächtigen Erfahrungen erkennen, die Lehrende im responsiven Geschehen mit den Lernenden machen, wenn sie über das gegenseitige Verstehen in Beziehung zu dem treten, was Sache ist. In einer lernseitigen Perspektive kann es einer Lehrperson eher gelingen, die Inhalte in der Begegnung mit den Lernenden responsiv zu gestalten, wenn die Aufmerksamkeit auf das Entstehende und nicht auf den angestrebten Zielpunkt gerichtet ist. Dies scheint der Kontrast zum Unterricht von Holls Vorgänger zu sein, die den Schüler*innen nichts sagten. Demgegenüber gelang es offensichtlich Lehrer Holl, bei seinen Schüler*innen in der Weltbegegnung nachhaltige Lernerfahrungen in der Auseinandersetzung mit ihren (Lern-)Inhalten in Gang zu setzen. Die für Henisch biografisch bedeutsame Erfahrung aus dem Religionsunterricht ist Zeugnis dafür, dass Menschen „durch Sinn- und Verstehensbedürfnis ausgelöste Erfahrungskrisen […] durchaus auch intellektuelles Vergnügen bereiten kann“, was Combe/Gebhard (2007, S. 8) in Frage stellen.

Konzentriert sich die Lehrperson hingegen auf das Gelingen des Lehrens, wird sie wenig über die Lernerfahrungen ihrer Schüler*innen verstehen und ihr unterrichtliches Handeln bleibt dem zugrundeliegenden Zweck curricularer Vorgaben verhaftet, was an Lennys Erfahrungen im Laufdiktat aufgezeigen. Der Junge wird von seiner Lehrerin nur als Schüler wahrgenommen, der die gestellte Aufgabe (noch) nicht erfüllt hat, sodass sie den dritten Schritt gemäß I-R-E-Muster, die Bewertung der Schülerleistung, nicht vollziehen kann. Daher fordert Klafki:

„Lehrer müssen sich bemühen, Kinder und Jugendliche als ganzheitliche (- d. h. aber keineswegs immer: als harmonische -) junge Menschen zu verstehen, die auch in der Schule nicht nur Schüler sind. Wer junge Menschen in der Schule nur als Schüler betrachtet, versteht sie auch als Schüler nicht!“ (2002, S. 178)

In beiden Erinnerungssequenzen wird die Bildung der nachhaltigen Erfahrungen darauf zurückgeführt, dass sich sowohl Erkurt als auch Henisch im schulischen Unterricht nicht über den trivialisierenden I-R-E-Dreischritt als Schüler*in, sondern sich als sie selbst und in der Beziehung zum und zu Anderen erfahren haben. Damit hat sich offensichtlich der Verständnishorizont, mit dem sie der Welt begegnen, verwandelt (Combe/Gebhard 2007, S. 12). Wird Unterricht als ein responsives Geschehen verstanden, erfolgt ganzheitliches Lernen im Sinne einer lernseitigen Orientierung für Lehrende und Lernende im Wechselspiel von Raum geben und Raum nehmen, um die Wirkmacht des Möglichen zur Entfaltung kommen zu lassen. Diese nachhaltige Wirkung zeigt sich in den von Erkurt und Henisch geschilderten Erfahrungen an die sie prägenden Lehrpersonen.

In der Umsetzung anspruchsvoller Zielbilder können pädagogische Entscheidungen „nie in völliger Sicherheit über die Wirkungen und Nebenwirkungen gefällt werden. Unterrichts- und Erziehungssituationen sind komplex und immer neu durch individuelle Besonderheiten, soziale Hintergründe und wechselseitige Erwartungen geprägt.“ (Zutavern 2003, S. 37) Demgemäß sind „autonome Handlungsspielräume, damit die Lehrerinnen und Lehrer flexibel auf ihre Ziele hinarbeiten können“ (ebd.) nötig. Wenn es darum geht, diese autonomen Handlungsspielräume zu erkennen, damit die Lehrenden flexibel auf ihre Ziele hinarbeiten können, gilt es, diese Momente zu erspüren, zu respektieren, ihnen Raum und Zeit zu geben und der Einzigartigkeit des persönlichen Augenblicks Rechnung zu tragen und den Unterricht responsiv auf diese persönlichen Lernerfahrungen auszurichten.

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