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WOHN- UND FAMILIENFORMEN

Kinder auf dem Lande sind im Vergleich zu Stadtkindern seltener Einzelkind, haben – vor allem in Westdeutschland – eher Eltern, die miteinander verheiratet sind, leben seltener in Alleinerziehenden-Konstellationen, besitzen weniger häufig Migrationshintergrund und wohnen mit ihrer Familie eher im eigenen Haus (das dann auch häufig einen Garten hat). Ihre Eltern verfügen zudem eher über einen oder mehrere Pkw, um damit die höheren Herausforderungen an Mobilität bewältigen zu können (vgl. Haumann 2013).

Auch nach der jüngsten der alle zehn Jahre in ähnlicher Weise durchgeführten Studie (hier: unter gut 400 Mitgliedern) der Niedersächsischen Landjugend (Stein 2013) wachsen Landjugendliche deutlich häufiger als Kinder und Jugendliche in städtischen Gebieten mit beiden Elternteilen auf, und Alleinerziehenden-Haushalte sind unter ihnen viel seltener anzutreffen als in Deutschland insgesamt. Mit 30,4 %, die in Dreigenerationenhaushalten zu Hause sind, wird unter den hier Befragten der deutsche Durchschnittswert um das 34-Fache übertroffen. Auch die Geschwisterzahl ist deutlich höher. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass mehr als 35 % der Proband*innen unmittelbar landwirtschaftlich eingebunden sind und in diesen Kontexten Multi-Generationenfamilien traditionell besonders stark verbreitet sind. Mit dem Rückgang der bäuerlichen Lebensweise ist zukünftig auch eine Abnahme solcher Familien- und Wohnformen wahrscheinlich.

SCHULE, AUSBILDUNG UND ARBEIT

Nach dem Thünen-Report 12 (Becker/Moser 2013) sind Jugendliche auf dem Lande in erstaunlichem Maße mit dem jeweiligen regionalen Schulangebot überwiegend oder völlig zufrieden (63 % bzw. 53 %). Auch die Schulwege sind danach weniger lang als vielfach angenommen. Je nach Untersuchungsregionen unterschiedlich geben zwischen 69 % und 89 % an, weniger als 30 Minuten zu benötigen. Eine Regionalstudie in Brandenburg kommt freilich zu anderen Ergebnissen: 16,4 % der Schüler*innen brauchen demnach mehr als eine Stunde, um von daheim zur Schule zu gelangen (vgl. Hoffmann/Sturzbecher 2012: 191), und im Gegensatz zu den Befunden des Thünen-Reports, der diesbezüglich keine Unterschiede feststellt, müssen nach einer Studie im Westerwald dort junge Menschen aus kleinen Dörfern besonders zeitintensive Schulwege zurücklegen (AWO Kreisverband Westerwald 2001: 27). Offenbar gibt es also deutliche regionale und lokale Unterschiede.

Die Beurteilung der wirtschaftlichen Situation fällt nach den schon 2009 (!) erhobenen Daten des Thünen-Reports ebenso unterschiedlich aus, besonders deutlich zwischen ost- und westdeutschen Regionen. Zwar geht eine Mehrheit in allen Untersuchungsregionen davon aus, in der Region, in der man zurzeit lebt, „sicher“ eine Arbeit finden zu können, aber auch hier gibt es deutliche Unterschiede zwischen Ost und West bzw. prosperierenden und eher abgehängten Regionen (vgl. Becker/Moser 2013: 77). Je nach Region zweifeln 25 % bis zu 44 % daran, dass sich die eigenen Zukunftspläne in der Region verwirklichen lassen. Danach gefragt, wo sich Lebensziele vermutlich am ehesten realisieren lassen, wird „Karriere machen“ von 95 % als eher in der Stadt umsetzbar angenommen.

FREUNDE, FREIZEIT, MEDIEN UND MOBILITÄT

Freunde erschließen (auch) Jugendliche auf dem Lande vorrangig über den gemeinsamen Schulbesuch. Insofern dieser ab dem Nach-Grundschulalter vielfach nicht mehr vor Ort stattfindet, hat sich im Vergleich zu früher das Freundschaftsnetz junger Menschen geografisch in die Region hinein ausgeweitet. Höchstens (noch) jede*r Fünfte gibt in der Thünen-Studie an, im eigenen Wohnort einen „besten Freund“ bzw. eine „beste Freundin“ zu haben. Mehrheitlich haben die Jugendlichen Freund*innen (auch) in einer Großstadt oder über Internetkontakt (regional unterschiedlich zwischen 58 % und 89 %). Nur zwischen 11 % und 20 % sind mit ihrem Internetzugang „wenig“ oder „gar nicht“ „zufrieden“, wobei unklar bleibt, inwieweit diese Prozentzahlen mit den regional bzw. örtlich vorhandenen Internetempfangsmöglichkeiten, Fragen der Versorgung des Haushalts mit entsprechenden Anschlüssen oder elterlichen Regelungen zusammenhängen (zu den Daten vgl. Becker/Moser 2013: 32–35).

Internetaktivitäten stellen wie für Jugendliche in Deutschland im Allgemeinen nach „sich treffen mit Freunden“ und noch vor Musik hören dieser Studie zufolge wichtige Freizeitbeschäftigungen dar, wobei die tägliche Nutzungsdauer des Internets bei Landjugendlichen sogar höher ist als bei Gleichaltrigen in der Stadt; einen Jugendclub besucht nicht einmal jede*r Zehnte. Konkrete Freizeitinteressen fallen aber sehr unterschiedlich aus. So sind zum Beispiel die Dorf- und Gemeindefeste je nach Region mal für 29 %, mal für fast doppelt so viele Befragte, nämlich 53 % „wichtig“ oder „sehr wichtig“, wohingegen sich – wiederum regional unterschiedlich – zwischen 22 % und 37 % für solche Formen der Ortsverbundenheit nicht interessieren. Etwa 3/4 bis 4/5 der Befragten sind in Vereinen aktiv, meist in Sportvereinen – hier vor allem die Jungen. In Kultur- und Musikvereinen bzw. Einrichtungen der Jugendarbeit engagiert sich – wiederum mit erheblichen regionalen Differenzen – ein Zehntel bis ein Drittel der jungen Menschen. Das kirchliche Engagement schwankt noch stärker, nicht zuletzt je nach religiösen Traditionsbezügen der Gegenden (7 % bis 28 %) (vgl. Becker/Moser 2013: 35–43). Insgesamt ist wohl trotz sinkender Mitgliedszahlen und erheblichen Nachwuchsproblemen der meisten Vereine noch immer davon auszugehen, dass derartig institutionalisierte Formen der Freizeitbeschäftigung mehr auf dem Lande als in städtischen Räumen verbreitet sind.

Mangelnde Mobilität ist trotz objektiv vergleichsweise ungünstiger Ausgangssituationen in dünn besiedelten Gebieten nur für eine Minderheit von 1 % bis 8 % ein schwerwiegendes Problem. Da der ÖPNV allerdings meist nicht befriedigend ausgebaut ist, wird, um eine eigenständige Mobilität zu sichern, die Bedeutung von Fahrerlaubnissen für Krafträder und Autos dementsprechend hoch eingeschätzt. Bevor altersgemäß Führerscheine erworben werden können, heißt es angesichts nur dünnmaschig vernetzter und selten verkehrender Bus- und Zugverbindungen, zu Fuß zu gehen, sich aufs Fahrrad zu schwingen oder elterliche Fahrdienste zu erbitten (vgl. Becker/Moser 2013: 43–48; zur Illustration des Mobilitätsalltags auch die zahlreichen Beispiele dafür in den Interviews dieses Bandes).

WERTE, POLITISCHE HALTUNGEN UND SOZIALES ENGAGEMENT

Über die regionalspezifische Verteilung von Werthaltungen, also von Kriterien, nach denen Verhaltensweisen anderer Personen beurteilt werden und eigene Lebensorientierungen erfolgen, ist mangels entsprechender Forschungsanlagen wenig bekannt. Zwar stimmen insgesamt auch Landjugendliche demokratischen Einstellungen deutlich mehrheitlich zu, allerdings kann – auch bei einer Minderheit der verbandlich in der Landjugend Organisierten – die Befürwortung von „autokratischen und undemokratischen Meinungen“ als „bedenklich“ gelten (Stein 2013: 139). Bemerkenswert, wenn nicht besorgniserregend, ist darüber hinaus die im Vergleich zu städtischen Gebieten breitere Akzeptanz, die gegen Ausländer*innen gerichtete und extrem rechte politische Einstellungen erhalten. Nach der repräsentativen Studie von Baier u. a. (2009) sind dabei männliche Jugendliche, ostdeutsche Landstriche und niedrigere Bildungsniveaus besonders belastet. Vermutlich dürfte die geringere Wahrscheinlichkeit, zu Migrant*innen Kontakt schließen zu können, für die Stadt-Land-Unterschiede der Belastung mit Rechtsextremismus und Rechtspopulismus wesentliche Erklärungskraft besitzen. Hinzu kommen Abwanderungstendenzen der Jüngeren verbunden mit einer Überalterung (Salomo 2019) unter den Zurückgebliebenen sowie die auf dem Lande überproportional verbreitete „lokalistische“ Orientierung, die das Entstehen einer „Nahmoral“ und einen „höheren Konformitätsdruck“ begünstigt (Simon u. a. 2017: 50). Sie kann an „Fragmenten traditioneller Werthaltungen“, „die in ländlich strukturierten Sozialräumen stärker präsent sind“, wie „Konventionalismus, Autoritarismus, Homophobie bis hin zum Rassismus“ „anknüpfen“ und dabei Skepsis, wenn nicht gar Ablehnung und Hass gegenüber dem und den „Fremden“ mit sich bringen (ebd.: 48).

Das soziale Engagement scheint unter Landjugendlichen vergleichsweise hoch zu sein. Bei den in der Niedersächsischen Landjugend Organisierten liegt es deutlich über dem Engagementniveau, das für Jugendliche allgemein in Deutschland registriert wird – auch in Bereichen, die nicht unmittelbar mit der Landjugendmitgliedschaft zu tun haben (vgl. Stein 2013: bes. 124). Obwohl dafür sicher auch der Umstand verantwortlich ist, dass Engagierte sich erfahrungsgemäß häufig nicht nur auf ein Betätigungsfeld beschränken, sondern gleich in mehreren Bereichen Aktivitäten entfalten, tragen offenbar die weiterhin noch stärker erhaltenen Vereins- und Feiertraditionen, die größere soziale Nähe der Einwohner*innen untereinander und die vorrangig in westdeutschen Landstrichen verbreitete intergenerationelle Überlieferung religiöser Aktivitäten und Mitgliedschaften zu diesem hohen Level bei. Allerdings führt ganz offensichtlich der Ausbau der Ganztagsschule zu deutlichen Rückgängen von Engagementmöglichkeiten und -bereitschaften – vor allem außerhalb schulischer Zusammenhänge (vgl. auch Simon u. a. 2017).

WEGZIEHEN ODER BLEIBEN?

Schametat, Schenk und Engel (2017) haben quantitativ mittels Fragebogen 444 Neuntklässler*innen verschiedener Schulformen in den Kreisen Höxter und Holzminden im Hinblick auf ihre regionalen Bindungen befragt. Die schon aufgrund ihrer regionalen Beschränkung nicht für Deutschland insgesamt repräsentative Studie kommt zu dem Schluss, dass 71,6 % gern in ihrem jetzigen Wohnort leben, nur für 13,9 % gilt das nicht, und 14,4 % wissen sich weder für die eine noch die andere Antwortmöglichkeit zu entscheiden (vgl. ebd.: 70). 9 % aller Befragten wollen „auf jeden Fall“ und 28,4 % „eher“ „hier bleiben“; 26,5 % wollen „eher“, 13,1 % „unbedingt“ „wegziehen“; dem Rest ist es „egal“ (ebd.: 81). Bemerkenswert dabei ist, dass auch ein gutes Fünftel derjenigen, die gern in ihrem Wohnort leben, eine Abwanderungstendenz hat. Was also entscheidet darüber, ob man einen Wegzug aus der Region plant oder nicht? Nach dieser Untersuchung hängt die Bindungsneigung am stärksten von der Einschätzung und positiven Bewertung der Region selber ab, für die wiederum – in dieser Reihenfolge – Landschaft, Natur, Freizeitmöglichkeiten und die Erreichbarkeit für attraktiv gehaltener Räume und Orte von vorrangiger Bedeutsamkeit sind. Einen zweiten Bindungsfaktor bildet die Familie, einen dritten die Wertschätzung von Freizeit, wobei hier Sportaktivitäten bzw. -kontakte und auch freundschaftliche Bindungen, wenn sie im gleichen Maße wie familiäre Bindungen geschätzt werden, sowie starke Paarbeziehungen besondere Rollen zu spielen scheinen. Wer hingegen „Einzelgänger“ ist, sich deutlich stärker an der Peergroup als an der Familie orientiert, shoppen gehen wichtig findet und/oder vor allem eine berufliche Karriere ansteuert, hat eher Abwanderungstendenzen (vgl. ebd.: v. a. 104–113). Während Wochnik (2014) feststellt, dass die Entscheidung über Gehen oder Bleiben der Berufswahlentscheidung vorausgeht und eher ein alternativer Berufswunsch verfolgt wird, als die Region zu verlassen, gibt die Mehrheit der Proband*innen in der Studie von Schametat u. a. zu erkennen, die Region verlassen zu wollen (oder zu müssen?), um den primären Berufswunsch in die Tat umsetzen zu können. Abwanderungsintentionen steigen auch mit der Ortsgröße. Interessanterweise ist in größeren Ortschaften die Zufriedenheit mit der Freizeitsituation und den Einkaufsgelegenheiten trotz tatsächlich größeren Angebots geringer (vgl. ebd.: 116 f.) – ein erneuter Hinweis darauf, dass sich subjektive Bewertungen nicht mit objektiven Lagen decken müssen.

Deutlich stärkere Bleibetendenzen stellt die niedersächsische Landjugendstudie 2010 fest (vgl. Stein 2013), in der allerdings bis auf 3 Befragte alle Proband*innen Mitglieder der Niedersächsischen Landjugend und auch im Durchschnitt mit fast 21 Jahren deutlich älter sind, weshalb auch die von ihr produzierten Ergebnisse nicht verallgemeinerbar sind. Hiernach würden 99,5 % am liebsten weiterhin innerhalb der nächsten fünf Jahre in der Region bleiben (vgl. ebd.: 142). Dabei ist zusätzlich anzumerken, dass kaum Migrant*innen einbezogen wurden (5 % der Stichprobe), viele bereits altersbedingt die Ausbildung und damit auch – anders als die o. e. Neuntklässler – ihre Berufsorientierung hinter sich haben und – wie schon oben erwähnt – mehr als ein Drittel der Proband*innen in der Landwirtschaft tätig ist, gewachsene Freundeskreise stark für die Wohnortwahl zu Buche schlagen und 77,3 % sich „stark familienorientiert“ zeigen. Fast ein Fünftel gibt auch die Landschaft als Grund für die Wohnortpräferenz an, immerhin 13,1 % benennen auch „Tradition/Kultur“ als mit ausschlaggebend (ebd.: 113, 142 f. und 162).

Resümierend ist festzuhalten: Umso positiver die regionale Verankerung ausfällt, umso stärker die sozialen Kontakte sich darstellen, umso höherer Stellenwert der Freizeit zugemessen wird und umso kleiner der Ort ist, an dem man*frau wohnt, desto größer ist die Bindungsneigung.

FAZIT UND PERSPEKTIVEN

Das Dorf ist offenbar nicht mehr das, was es einmal war – jedenfalls nach den weithin verbreiteten nostalgisch-schönfärberischen Zeichnungen ländlicher Idylle: ein Ort der Heimat, der durch Homogenität, Nestwärme und Sesshaftigkeit gekennzeichnet ist. Im Ausmaß regional und auch geschlechtsspezifisch sehr unterschiedlich denkt heutzutage immerhin die Hälfte bis 3/4 der Landjugendlichen über einen (womöglich auch nur temporären) Wegzug nach (ebd.: 106/107), um Selbstverwirklichungs-, Ausbildungs- und Berufschancen zu verbessern und Chancen auf den Erwerb von Wohlstand zu nutzen. In einigen strukturschwachen Landstrichen bestehen deutlich spürbare Unzufriedenheiten mit den infrastrukturellen Gegebenheiten, und gerade die besser (aus)gebildeten, vor allem weiblichen jungen Menschen haben hier verstärkt Abwanderungstendenzen. Heimatgefühle und lokale sowie familiäre Verwurzelungen können Letzteren auf Dauer bei den meisten nichts entgegensetzen. Auch wenn konventionalistische Werthaltungen mit zum Teil problematischen Auswirkungen auf die politische Kultur des ländlichen Raums noch vergleichsweise stark verhaftet bleiben, weichen sich dennoch traditionelle Bindungen und kulturelle Praktiken mehr oder weniger rapide auf, erleiden über Jahrhunderte und Jahrzehnte gewachsene örtliche Vereinigungen Attraktivitätsverluste innerhalb der nachwachsenden Generationen und häufen sich bei ihnen dementsprechend fast durchweg die Klagen über Rekrutierungsschwierigkeiten neuer Mitglieder. Bleibt wenigstens die Kirche im Dorf? Auch ihre Rolle wird – nicht nur im weitflächig konfessionslosen Osten der Republik – erheblich in den Hintergrund geschoben. Gesellschaftliche Treiber wie Ökonomisierung, Mediatisierung, Anonymisierung, Individualisierung, Pluralisierung, Entschleunigung, Globalisierung und Mobilitätszuwächse haben längst auch ländliche Strukturen ergriffen.

Und dennoch oder gerade deshalb: Von regionalen Ausnahmen einmal abgesehen zeigen sich rund 90 % der Landjugendlichen mit ihren Lebenssituationen insgesamt und den Gestaltungsmöglichkeiten in ihren Lebensumfeldern zufrieden, die meisten von ihnen sogar „überwiegend“ bzw. „völlig“ (vgl. Becker/Moser 2013: 58). Sie weisen damit für sich eine hohe Lebensqualität aus und sehen zumeist zuversichtlich in die Zukunft. Das lange vorherrschende Bild von Landjugend als benachteiligter Jugend erweist sich vor diesem Hintergrund eher als Zerrbild. Am Dorfleben wird besonders geschätzt, seine Ruhe zu haben, in einer sicheren Umwelt leben zu können und dabei viele Freiheiten zu besitzen (vgl. Becker/Moser 2013: 87).

Was diese Vorzüge neben allen empfundenen Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten, aber auch den Strategien des Arrangements mit ihnen konkret für die jungen Menschen bedeuten und welche weiteren Vorteile Landleben aus ihrer Sicht mit sich bringt, lassen die in diesem Buch folgenden Gesprächsauszüge zutage treten. Ihre Vielfalt macht dreierlei deutlich: Erstens gibt sie zu erkennen: Die Landjugend gibt es nicht. Zweitens offenbart die Pluralität der Sichtweisen: Eine geografisch und kulturell statische Heimat lässt sich nicht (mehr) denken. Heimatverluste, die in dieser Weise verspürt werden, gleichen tatsächlich Phantomschmerzen (vgl. Schüle 2017), die auf einer Verklärung der Vergangenheit beruhen und die Möglichkeiten neuer Erfahrungsformen von Vertrautheit, Gemeinschaft und Geborgenheit ungenutzt lassen. Drittens nährt sie gerade mit Blick auf diese neuen Optionen von Beheimatung die Vermutung: Es kann kein Zufall sein, wenn der urbane Zeitgeist alte Dorfqualitäten in die Stadt holt: selbst gärtnern als Urban Gardening, das Backhaus als Backvollautomat, Nachbarschaftstratsch und Hocketse als Quartiersfest, alte Handwerkstugenden als aktueller Do-It-Yourself-Trend, unbekümmerte Freiflächennutzung als innerstädtisches Brachenrecycling, Hausmusik im kleinen Kreis als Wohnzimmer-Konzert einer Indie-Band, internetverbreitete Jugendkultur aus der Provinz als chart- und metropolentauglichen Hype, Fahrzeug ausborgen als Sharing-Kultur, Tante Emma als Bioladen, die Eckkneipe als hippen veganen Imbiss, Holzfällerhemden und Strickmützen kombiniert mit schweren Lederboots und Hosenträgern als Lumbersexual-Style für den urbanen wilden Mann, Marmelade selbst einkochen als ultimativen Nachhaltigkeits-Ausweis …

LITERATUR

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