Kitabı oku: «Gegendiagnose», sayfa 7
»Alles ist irgendwie komplexer …«
Beide Behandlungsmethoden haben gemeinsam, dass sie entweder organische, psychische oder soziale Bedingungen als Ursachen für die Entstehung einer depressiven Störung annehmen. Zwischen ihnen besteht allerdings große Uneinigkeit, welche der angenommenen Bedingungen nun die entscheidenden seien. Grundsätzlich wird zwischen dem organisch-medizinischen und dem psychosozialen Erklärungsmodell unterschieden. Die in der psychiatrischen Diagnose erfassten Abweichungen vom Normalverhalten werden im ersten durch organische und im zweiten durch psychosoziale Störungen oder Schädigungen erklärt. In den letzten Jahrzehnten ist das Pendel je nach gesellschaftlicher Großwetterlage in die eine oder die andere Richtung ausgeschlagen. Bemerkenswerterweise besteht die Hauptkritik der einen Richtung an der anderen darin, dass sie nicht in der Lage sei zu erklären, wie sich denn die jeweils angenommenen Ursachen in psychische Erscheinungen umsetzen würden. »Trotz intensiver Forschungen der letzten Jahrzehnte sind die Ursachen und Mechanismen der Depression noch weitgehend unbekannt« (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 11). Um diesen fehlenden inhaltlichen Nachweis zu beheben, bedienen sich beide Richtungen wiederum derselben Beweistechnik. Mithilfe der Korrelationsstatistik, die den Zusammenhang zwischen Variablen untersucht, soll das Erklärungsdefizit behoben werden. Aufgrund der zeitlichen Aufeinanderfolge von zwei Ereignissen oder ihrem gehäuften gleichzeitigen Auftreten wird auf die Existenz eines inhaltlichen Zusammenhangs geschlossen. Jedoch ist durch das gemeinsame Auftreten zweier Erscheinungen noch lange nicht der inhaltliche Nachweis erbracht, dass die eine Erscheinung die Ursache für die andere ist. Dass bei denjenigen, die im kapitalistischen Alltag auffällig geworden sind, in einigen Fällen andere biochemische Prozesse messbar sind als bei den fröhlich Mitmachenden, ist kein Beweis für die organische Ursachenbehauptung. Vielmehr findet hier eine Übersetzung der psychischen Tätigkeit in seine physischen Grundlagen statt. Unterschiedliche Gedanken und Gefühle könnten durchaus an verschiedenen Stellen des Gehirns repräsentiert sein und zu verschiedenen Stoffwechselvorgängen führen. Dasselbe Phänomen wird auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet.
Keine der genannten miteinander konkurrierenden Richtungen kann angeben, dass ihre unterstellten Ursachen notwendig die zu erklärende Erscheinung hervorbringt. Verschiedene Studien geben daher lediglich Wahrscheinlichkeitswerte für das Auftreten einer Erscheinung bei gleichzeitigem Vorliegen der angenommenen Ursache an. Wenn beispielsweise davon die Rede ist, dass Kinder von Eltern mit der Diagnose Depression mit einer Wahrscheinlichkeit von 10-15% auch an einer Depression leiden werden, dann beweisen die restlichen 90-85%, dass trotz des Vorliegens einer derartigen Vorgeschichte diese nicht notwendig zu einer Depression führt. Ähnlich verhält es sich in Bezug auf angenommene Umweltbedingungen:
Stress und belastende Lebensereignisse sind mittlerweile anerkannte Umweltfaktoren, die eine depressive Erkrankung triggern können. Da die Reaktionen auf Stress allerdings extrem unterschiedlich sein können, bleibt bis jetzt unklar, welche Individuen unter ›Belastungen‹ an Depression erkranken. (Hamann/Warrings/Deckert 2011: 17)
Vielmehr handelt es sich hier abermals nur um eine Bedingung. Wie sich ein Mensch zu dieser gedanklich stellt und zu welchen eigenen Überzeugungen er gelangt, ist prinzipiell offen. Um dennoch an der Unterstellung, die psychische Störung müsse durch innere oder äußere Ursachen bewirkt worden sein, festhalten zu können, werden weitere Ursachen gesucht, die ihrerseits Einfluss auf die Entstehung einer Depression haben sollen. Vertreter_innen der organischen Ursachenlehre führen nun beispielsweise psychische und soziale Ursachen ins Feld, die dafür verantwortlich sein sollen, dass der von ihnen unterstellte organische Ursache-Wirkungs-Zusammenhang auftritt oder nicht. Neben den organischen sind nun auch Faktoren wie Umweltreize und gestörte Kognitionen, die wiederum durch die Umwelt hervorgebracht wurden, mit in die Ursachenerklärung einzubeziehen. Alles ist irgendwie komplexer, bedingt und verstärkt sich gegenseitig, und die angenommenen Ursachen tragen mit unterschiedlicher Gewichtung zur Entstehung der Depression bei. Die Suche nach den begleitenden Umständen und der Mangel jeder einzelnen Bedingung, nicht hinreichend die erklärungsbedürftige Erscheinung begründen zu können, führte dazu, dass von dem ehemaligen linearen Ursache-Wirkungsmodell vermehrt abgesehen wurde, und an dessen Stelle das biopsychosoziale Rahmenmodell trat. Das Faktorenkarussell dreht und dreht sich immer weiter um die Determiniertheits-Achse, bis es vollständig mit der Multikausalitäts-Annahme abhebt.
Mit der allgemeinen Behauptung, die natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen seien die Ursache für das menschliche Denken und Handeln, wird die zu erklärende psychische Erscheinung auf etwas anderes zurückgeführt. Anzugeben, dass für die Depression das menschliche Gehirn vorhanden sein muss oder dass sie von Umständen abhängt, unter denen sie sich entfaltet, ist erstens banal und zweitens heißt das noch lange nicht, sich die Depression inhaltlich erklärt zu haben. Stattdessen verfolgen diese Erklärungsansätze die niemals zu beendende Aufgabe, erst alle Bedingungen zu finden, um dann zu erklären, warum ein Mensch dieses oder jenes tut. Damit gehen diese wissenschaftlichen Richtungen aber an ihrem Gegenstand – der subjektiven Geistesleistung – vorbei. Jeder Mensch kann sich zu den jeweiligen Bedingungen verhalten. Er kann diese akzeptieren, sie zur Grundlage seines Denken und Handelns machen, sie verwerfen oder schlicht nicht beachten. Warum er dieses oder jenes denkt oder tut, wird nicht von Bedingungen hervorgebracht, sondern beruht auf der eigenständigen Leistung des jeweiligen Menschen. Insgesamt betrachtet wurde sich von dieser eigenständigen Leistung weit entfernt. Schon während der Diagnoseerhebung kommen nur diejenigen subjektiven Äußerungen in Betracht, die der Zuordnung zu einem Störungsbild dienlich sind. Mit der anschließenden Behauptung, die Störung sei gegenüber den festgehaltenen subjektiven Äußerungen etwas Selbstständiges und bringe diese hervor, ist bereits die erste Ursachen-Instanz in der Welt: Die Depression gilt als Ursache, dass der Mensch nicht mehr die Fähigkeit besitzt, sich den Anforderungen dieser Gesellschaft zu stellen und dabei mit einem Lächeln durch die Welt zu laufen. Als etwas Selbständiges bedarf es aber wiederum der Erklärung, wie die Störung in die Welt – oder besser: in den Menschen – gekommen ist. An deren Entstehung sollen »sowohl soziale als auch psychologische und biologische Faktoren« (Birbaumer/Schmidt 1999: 658) irgendwie beteiligt sein. Der Mensch wird damit zur abhängigen Variable von etwas anderem erklärt.
Fremd- und Selbststeuerung
Im vorherigen Abschnitt wurden die elementaren Fehlannahmen zweier psychiatrisch-psychologischer Deutungen bezüglich ihres Gegenstands der psychischen Tätigkeit des Menschen benannt. Ihnen ist gemein, dass sie das als Abweichung vom Norm-Verhalten klassifizierte Denken und Handeln eines Menschen als Wirkung mehrerer innerer oder äußerer Ursachen beschreiben. Diese würden das Individuum daran hindern, sich in dieser Welt zu bewähren, produktiven Tätigkeiten nachzugehen und den Anforderungen der Gesellschaft, in der es lebt, bei persönlicher Zufriedenheit nachkommen zu können. Das als gestört klassifizierte Individuum ist nicht mehr in der Lage sich diesen Anforderungen zu stellen, es wurde sich selbst ein Hindernis bei dem Versuch des Zurechtkommens in der Welt. Dieses Hindernis gilt es zu überwinden, damit das allgemein ausgegebene Ziel »Teilhabe an der Gesellschaft« erreicht werden kann. Mit der Beeinflussung der behaupteten Wirkungszusammenhänge soll es gelingen, das Individuum zu seiner gesunden Betätigung in dieser Gesellschaft zu befähigen. Gedacht wird der Mensch somit als ein manipulierbares Wesen, dessen Verhalten gesteuert werden kann, damit es sich selbst wieder in der bürgerlichen Gesellschaft zurechtfindet und seinem angeblich natürlichen Auftrag nachkommt. Die Suche nach diesen Steuerungsmechanismen offenbart den eigentlichen Zweck dieser Forschungsrichtungen: Es sind die Mittel ausfindig zu machen, mit denen das menschliche Denken und Handeln so verändert werden kann, dass es zu den Anforderungen dieser Gesellschaft passt. Welchen Zwecken diese Anforderungen folgen, braucht da gar nicht weiter zu interessieren. Diesen mit einem fröhlichen Lachen nachzukommen ist bereits als das Erstrebenswerte festgelegt. Dementsprechend setzen diejenigen Fachrichtungen, welche diesem Zwecke folgen, ständig neue Handlungsanleitungen in die Welt, welche Praktiker_innen dazu befähigen sollen, nützlichen Einfluss auf das auffällig gewordene Individuum nehmen zu können, im Namen des jeweiligen Individuums selbst. Da das Ziel, also die Herrichtung des Individuums dahingehend, dass dieses kann und will, was es muss und soll, schon festgelegt wurde, geht es nur noch um die Frage des Wie. Um die Beantwortung dieser sich selbst auferlegten Frage konkurrieren die verschiedenen Fachrichtungen miteinander.
Neben der Steuerung des Menschen durch die Veränderung äußerer Reize und den Eingriff in den biologischen Stoffwechsel kommt eine weitere Steuerungstechnik hinzu, die den Willen selbst als Produktivkraft zur Herrichtung des gesellschaftlich erwünschten Verhaltens begreift. Die Selbststeuerung zur »gesunden« gedanklichen Stellung zu sich und dieser Welt gilt als ein weiteres brauchbares Mittel. Das Individuum soll verstehen, dass bestimmte Inhalte seiner Gedanken es angeblich daran hindern, im Einklang mit sich und der Welt zu leben. In der kognitiven Verhaltenstherapie12 werden derartige das Individuum behindernde Gedanken als gestörte kognitive Schemata begriffen, die es unter Anleitung von erfahrenen Psychotherapeut_innen zu verändern gilt. Dem Individuum werden Werkzeuge an die Hand, besser: in den Kopf, gegeben, damit es bei sich selbst die angenommen Ursachen ausfindig machen kann, die es darin hindern würden, ein glückliches Leben zu führen. Es soll sich zu seinen eigenen negativen und dysfunktionalen Gedanken als zu manipulierende Bedingungen stellen, damit es selbst wieder das erwünschte Verhalten hervorbringt.13 Nicht verwunderlich ist es dann, dass überzogene Erwartungen seitens des Individuums an die Welt als entscheidendes Hindernis auf dem Weg zum Glücklichsein ausgemacht werden. Um dieses Hindernis aus dem Weg zu räumen, sollen die jeweiligen Ansprüche an die Anforderungen dieser Welt angepasst werden, sich die Wünsche und Ziele an der vorgegebenen Realität orientieren und sich dieser somit unterordnen. Die eigenen Bedürfnisse und Interessen an der vorgefundenen gesellschaftlichen Realität zu relativieren, ist eine Form der Selbstzurichtung des Individuums, die es zur Herbeiführung eines gelungenen Verhältnisses zur Welt ständig neu an sich ausführen soll, um die eigene Zufriedenheit herzustellen: Nimm auf dich selbst so Einfluss, dass du dir im Sinne des fröhlichen Mitmachens nicht mehr selbst im Wege stehst!
Behandlungsziel: Arbeit!
In der Festlegung dessen, was als psychisch gesund bewertet wird, gilt das Nachkommen einer produktiven Tätigkeit als Ausdruck gelungener gesellschaftlicher Integration. Psychische Gesundheit misst sich vor allem an der Fähigkeit, die eigene Arbeitskraft zur Verfügung stellen zu können, und somit gilt die Wiederaufnahme einer produktiven Tätigkeit als anzustrebendes Resultat geglückter Fremd- und Selbststeuerung. Mit der Formulierung »produktive Tätigkeit« wird von den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen abstrahiert, in denen eine produktive Tätigkeit stattfinden muss. Die Rückkehr an einen Arbeitsplatz wird nicht als Notwendigkeit verstanden, damit das Individuum an die Geldmittel herankommt, von denen seine Existenz abhängig gemacht worden ist, sondern als Ausdruck geglückter Wiederherstellung psychischer Gesundheit überhaupt. Damit wird die allgemeine Setzung, sich erst fremden Zwecken unterwerfen zu müssen, um die eigene Existenz wenigstens halbwegs zu sichern, als Mittel ausgegeben, welches das Individuum zu seiner psychischen Gesundung benötigt. Die »Teilhabe an der Gesellschaft« ist für die meisten Menschen nur über Arbeit zu haben und als gesund gelten nur diejenigen, die erfolgreich die eigene Arbeitskraft für die Vermehrung des Eigentums anderer zur Verfügung stellen. Tatsächlich sind diejenigen, die nicht über ausreichend Geldmittel verfügen, von vielen Dingen, die sie benötigen, ausgeschlossen. Dies verweist jedoch auf die Verfasstheit dieser Gesellschaft, in der nur diejenigen Individuen etwas zählen, die fremden Erfordernissen genügen. Die Wiedereingliederung in das Regime der Arbeit im Namen der Wiederherstellung von psychischer Gesundheit verweist auf den allgemeinen Zweck dieser Gesellschaft, welcher der gesunden Menschennatur entsprechen soll. Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen wird so nicht als das ausgegeben, was sie ist, sondern wird zum individuellen Mittel zur Wiederherstellung von psychischer Gesundheit. Hierzu wird die Aufnahme einer produktiven Tätigkeit mit allerlei für das Individuum wichtigen Eigenschaften identifiziert. Durch sie soll es Selbstbestätigung erfahren, kann es stolz auf das Geleistete sein und sich wertvoll fühlen. Arbeit ist nicht mehr Mühsal zum Gelderwerb, sondern wird zum elementaren Baustein eines gesunden und glücklichen Lebens stilisiert. So soll die Vernutzung der eigenen Arbeitskraft für fremde Zwecke gesehen und gelebt werden: als Mittel zur (Wieder-)Herstellung der eigenen Gesundheit und des Wohlbefindens. Dementsprechend ist die berufliche Wiedereingliederung derer, die psychiatrisch auffällig geworden sind, ein wichtiges Ziel jeglicher psychiatrischpsychologischer Behandlung. Neben verschiedenen Bildungseinrichtungen, Trainings- und Förderungsstätten sowie Werkstätten finanziert der Staat Unterstützungsleistungen, die eine dauerhafte Eingliederung in Beruf und Arbeit zum Ziel haben. Am Anfang derartiger Maßnahmen steht die Einschätzung von Expert_innenseite, welche Belastungen den Diagnostizierten denn zuzumuten wären. Dass eine produktive Tätigkeit eine Zumutung ist und zum physischen und psychischen Verschleiß führt, ist da schon mitgedacht. Auf die Dosis der Verwertung kommt es an, gerade bis an die Grenze, ab der gar nichts mehr geht. Da schon der Tätigkeit an sich eine therapeutische Wirkung zugesprochen wird, ist deren konkreter Inhalt zweitrangig. Auch da gilt es, die eigenen Ansprüche möglichst niedrig zu halten und an sich zu arbeiten, das Angebot als Chance zu begreifen, wieder Teil dieser Gesellschaft werden zu dürfen.
3. Gesund und fit wofür?
Die Anforderungen des Lebens
Der Psychiatrie und Psychologie stellen sich die Anforderungen an Menschen innerhalb konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse als allgemeine, nicht näher spezifizierte »Anforderungen des Lebens« schlechthin dar. Die jeweiligen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse, innerhalb derer Menschen leben, erscheinen als äußere Welt. Diese wird als Ort vielfältiger Erfolgs- und Bestätigungsmöglichkeiten, ein erfolgreiches, geglücktes Leben in ihr als individuelle Bewährungsprobe behauptet, und beides soll von den Menschen auch so gedacht werden. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Verfasstheit dieser Welt wird als naturwüchsiges Ergebnis der Betätigung des menschlichen Wesens an sich und als unveränderlicher, nicht zu hinterfragender Sachzwang vorausgesetzt. Sich in dieser vorgefundenen Welt auf eine bestimmte, erlaubte und erwünschte Weise zu betätigen, zu verwirklichen, zu bewähren und sich dabei ihren Bedingungen zu unterwerfen wird als urwüchsige, natürliche, gesunde und normale Wesensäußerung eines und einer jeden unterstellt. Die Frage, um welche Verhältnisse es sich dabei eigentlich handelt, und vor allem die Frage, ob diese Verhältnisse überhaupt etwas für die Interessen und Bedürfnisse der unter ihnen lebenden Menschen taugen, wird dabei nicht gestellt.
Bei genauerem Blick auf diese Gesellschaft lässt sich feststellen, dass diese auf einer Wirtschaftsweise mit dazugehöriger Staatsgewalt beruht, die der Bedürfnisbefriedigung sehr vieler Menschen entgegensteht. Zu dieser Gesellschaft gehört materielles und viel psychisches Leid notwendig dazu. Dieses hat nicht seinen Grund im Versagen Einzelner oder darin, dass das »System« an einigen Stellen versagt hat und diese Probleme durch Nachbesserungen zu beseitigen wären, sondern in den grundsätzlichen Gegensätzen, welche in dieser Gesellschaft herrschen. Da das Wohlergehen und die Existenz der hier lebenden Menschen davon abhängig gemacht worden ist, in welchem Maße der Einzelne über das universelle Zugriffsmittel Geld verfügen kann, konkurrieren die Einzelnen mit unterschiedlichen Mitteln um diese Verfügungsmacht. Gerade durch die Verfolgung ihrer individuellen Interessen machen sich die Individuen wechselseitig die Teilnahme am Reichtum dieser Gesellschaft streitig. Dass dabei gerade diejenigen beschissen dastehen, die nichts anderes haben als ihre Arbeitskraft, die sie als Mittel zur Verwertung des Eigentums anderer verbrauchen lassen müssen, liegt auf der Hand. Sie müssen sich diesem Zweck unterordnen, nach dessen Erfordernissen ihr Leben einrichten, um wenigstens einen Bruchteil des von ihnen produzierten Reichtums zu erhalten. Und auch wenn die Leute alles dafür tun, sich diesem Zweck zu unterwerfen, ist nie garantiert, dass sie gerade oder auch morgen noch gebraucht werden.
In dieser bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft kommen die Bedürfnisse der Menschen also nicht als Zwecke, d.h. als Grundlage, auf der dann Zusammenleben und Wirtschaften einer Bedürfnisbefriedigung entsprechend organisiert würden, sondern ganz im Gegenteil nur als Mittel zum Zweck der Kapitalvermehrung vor. Bedürfnisse haben also lediglich als Mittel dieser Zwecke Aussicht auf Erfüllung, z.B. als zahlungsfähiges Bedürfnis nach Konsumtion. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Bedürfnisse, für deren Erfüllung Leute nicht bezahlen können, in der kapitalistischen Kalkulationsweise auch schlicht nicht vorkommen – wodurch sich unter anderem erklärt, warum Menschen auf dieser Welt unnötigerweise verhungern und unter Brücken schlafen müssen. Der Zweck zur Kapitalvermehrung unterwirft sich neben den (zahlungsfähigen) Bedürfnissen der hier lebenden Menschen (unter Ausschluss der nicht zahlungsfähigen) auch deren Arbeitskraft als Mittel. Menschen werden zum Zweck der Kapitalvermehrung benutzt und dabei vernutzt und verschlissen. Als das entscheidende Mittel zur Kapitalvermehrung gilt jede menschliche Arbeitskraft vom Standpunkt des Kapitals aus als eine einzukaufende Ware, welcher es bedarf, um zu verkaufende Waren herzustellen. In der unternehmerischen Kalkulation taucht diese besondere Ware Arbeitskraft als Kostenfaktor auf, den es möglichst gering zu halten gilt und der möglichst intensiv genutzt werden sollte. Auf möglichst viel Arbeitsleistung zugreifen zu wollen, um eine möglichst große Anzahl von Waren herzustellen und dabei die Kosten möglichst gering zu halten, entspricht der Logik der Kapitalvermehrung: Das vorgeschossene Geld soll ja schließlich mehr werden.
Um sich die Schädigung und den Verbrauch durch Lohnarbeit zu vergegenwärtigen, muss man den Blick nicht einmal unbedingt auf Arbeit unter besonders katastrophalen, hochgradig gesundheitsschädigenden Bedingungen, wie z.B. in einer Diamantenmine oder in einem Sweatshop lenken, sondern kann sich bereits den physischen und psychischen Zustand, die in den westlichen Nationen »ganz normale« Erschöpfung, die Rücken- und Kopfschmerzen eines Menschen nach einem langem Arbeitstag im Büro, der Fabrik, der KiTa oder an der Supermarktkasse zum Ausgangspunkt nehmen. Wie es die Funktion von rechtlichen Verordnungen über Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeit ist, dieser prinzipiell bejahten Vernutzung gewisse Grenzen zu setzen (wobei selbst diese Grenzen hart umkämpft waren und sind), und es Aufgabe der Medizin ist, physisch allzu stark heruntergewirtschaftete Arbeitskraft wiederherzustellen, ist es u.a. Aufgabe der Psychologie und Psychiatrie, dies im psychischen Bereich zu leisten, damit trotz ständiger Vernutzung ausreichend verwertbares Menschenmaterial zum Zweck der Kapitalvermehrung durch Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft übrigbleibt.
Die »Anforderungen des Lebens«, die sich unter bestehenden Verhältnissen an die hier lebenden Menschen stellen, ergeben sich aus den Zwecken der Kapitalvermehrung. Die meisten Menschen sind darauf verwiesen, sich im Rahmen von Lohnarbeit als Mittel der Geldvermehrung bereitzustellen, ihre eigenen Fähigkeiten im Sinne der Erfordernisse von Kapital und Staat beständig zu erweitern, im allgegenwärtigen Konkurrenzverhältnis zu bestehen und Leistung zu erbringen. Auch die Reproduktion von Arbeitskraft, d.h. sowohl die Hervorbringung, Versorgung und Erziehung neuer tauglicher Staatsbürger_innen und Arbeitskräfte als auch Arbeit zur physischen und psychischen Aufrechterhaltung und Regeneration erwachsener Arbeitskräfte, ist eine in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft anfallende Aufgabe, die es zur kapitalistischen Vernutzung von Menschen braucht und die notwendigerweise zu dieser dazugehört. Ein Großteil der Reproduktionstätigkeit in dieser Gesellschaft findet im privaten Bereich, d.h. in der Familie und/oder in emotionalen Nahbeziehungen statt. In der Regel stellt sich diese spezifische »Anforderung des Lebens« in besonderem Maße an Frauen* – heutzutage nicht selten zusätzlich zur Anforderung, die eigene Arbeitskraft selbst ebenfalls als Lohnabhängige zu Markte zu tragen. Hieraus ergibt sich häufig eine Doppelbelastung von Frauen*, wobei die gestellten Anforderungen der verschiedenen Bereiche obendrein in Konflikt miteinander geraten und sich gelegentlich sogar widersprechen können (»fürsorglich sein« hier, »Ellbogen raus« dort). Dies kann, neben einer verstärkten Verschleißung und Verbrauchung, Quell zusätzlicher psychischer Konflikte und Leiden sein.
Als Lohn für ein engagiertes und verausgabendes Mitmachen, also das Erfüllen dieser oft schädigenden und belastenden Anforderungen, lockt das Versprechen des persönlichen Glücks durch ein »gelungenes Leben«. Dass es sich hierbei um ein Ideal handelt, welches in der Realität für die allermeisten Menschen so nicht existiert, dessen sind sich die meisten Leute sehr wohl bewusst – nichtsdestoweniger hält die überwiegende Mehrheit trotz der Härten des Lebens und nicht ausbleibender Enttäuschungen und Schädigungen an diesem Ideal fest und damit an der Vorstellung, es läge an einem selbst, Fröhlichkeit und Glück oder wenigstens »persönliche Zufriedenheit« herzustellen und die Welt, wie sie eingerichtet ist, böte doch zumindest potentiell auch die geeigneten Mittel und Wege dazu an, wenn man sich nur ordentlich anstrengte und diese Mittel richtig zu nutzen verstünde. Stellt sich das erwartete und in Aussicht gestellte persönliche Glück trotz größter Anstrengung und anständiger Anforderungserfüllung nicht ein, verfallen die meisten Leute im Umkehrschluss auf den Gedanken, dieses Scheitern müsse wohl an ihnen selbst liegen. Im Hochhalten des Ideals, jede sei ihres eigenen Glückes Schmiedin, gegen die eigene Erfahrung und Lebensrealität, steckt eine Affirmation der herrschenden Verhältnisse, wenn diese hartnäckig kontrafaktisch als »eigentlich« gute Mittel für die Erlangung des eigenen Lebensglücks angesehen werden. Westliche, als freiheitliche Demokratie organisierte Herrschaft ist auf diese prinzipielle Bejahung und positive gedankliche Stellung ihrer Untertan_innen angewiesen und auch die Arbeitgeberin freut‘s: Wer den Job als Mittel zur Erlangung von Glück und Selbstverwirklichung begreift anstatt als notwendiges Übel zum Gelderwerb, von dem ist auch ein deutlich höheres Maß an Leistung, Motivation und Engagement zu erwarten. Die regelmäßige Enttäuschung des Glücksversprechens führt die meisten Leute im Laufe ihres Lebens hin zu einem »realistischen Pragmatismus«: Das erwartete Lebensglück beläuft sich dann auf eine bescheidene und sich bescheidende Zufriedenheit, ein Sich-zufrieden-Stellen mit mehr schlechten als rechten Lebensbedingungen, bei dem im Zweifelsfalle Psychologie und Psychiatrie nur allzu gern helfend zur Seite stehen. Ist doch ein Mindestmaß an psychischem Wohlbefinden und ein Festhalten an einer positiven Grundhaltung zur hiesigen Einrichtung der Gesellschaft eine nicht unbedeutende ideologische Grundlage dafür, dass Menschen sich überhaupt weiter und immer wieder zum Mitmachen aufraffen. Was Psychologie und Psychiatrie und den meisten Menschen als »subjektives Wohlbefinden« gilt, meint somit also etwas völlig anderes als ein Wohlbefinden, welches sich aufgrund einer sichergestellten Bedürfnisbefriedigung und Versorgung in einer zu diesem Zweck eingerichteten Gesellschaft einstellen würde.
Das psychologisch-psychiatrische System macht es sich keineswegs zur Aufgabe, die in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft an Menschen gestellten Anforderungen und die dahinterstehenden Verhältnisse mitsamt ihrer schädigenden Effekte grundsätzlich zu kritisieren, sondern stellt sich stattdessen die Frage, wie Menschen am besten dazu zu bringen sind, diese Anforderungen möglichst gut (oder auch überhaupt erst einmal) zu erfüllen. Über diese Frage darf dann innerhalb von Psychologie und Psychiatrie auch gern im Rahmen von Paradigmenstreits und immanenter Kritik meinungspluralistisch und konstruktiv gestritten werden. Während Psychologie und Psychiatrie sich einerseits für nicht zuständig für politische, soziale und gesellschaftliche Fragen erklären und die aktuelle Einrichtung der Welt sowohl als naturwüchsiges Ergebnis des menschlichen Wesens als auch als äußeren Sachzwang konzipieren, greifen sie auf der anderen Seite gleichzeitig ständig in Bedingungen ein, etwa durch ihren Einfluss auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen, bei Schulreformen etc. – allerdings immer parteilich für die bestehenden Verhältnisse. Wo der psychologisch-psychiatrische Diskurs die Welt als Ort individueller Erfolgs-, Betätigungs- und Bestätigungsmöglichkeiten behauptet, wird also von der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft, dem real existierenden Klassenverhältnis und der dazugehörigen Staatsgewalt abgesehen. Auf Grundlage dieser Abstraktion erscheinen alle kapitalistischen Lebensverhältnisse als individuell zu bewältigende Problemlagen.14 Dass beispielsweise im der kapitalistischen Wirtschaftsweise inhärenten Konkurrenzprinzip, dem sich zu unterwerfen momentan fast alle Menschen zum Zwecke ihres Existenzerhalts genötigt sind, das Scheitern Einiger als logische und notwendige Konsequenz des Gewinnens Anderer strukturell angelegt ist, wird in diesem Weltbild ausgeblendet. Wenn ein Mensch etwa in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit keinen Job findet, scheitert er in diesem Weltbild nicht an den Zwecken und Prinzipien der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, sondern aufgrund seiner eigenen Unfähigkeit. Ein eigentlich strukturell bedingter Effekt wird so zu einem individuellen Versagen umgedeutet. Auch der Umgang mit dem Problem wird auf die individuelle Ebene verlagert: Das betroffene Individuum ist angehalten und genötigt, Eigenverantwortung zu übernehmen, aufzustehen, härter (an sich) zu arbeiten und sich weiter abzumühen. Tut es dies nicht und verfällt beispielsweise über den Verlust des Arbeitsplatzes in lähmende Verzweiflung, wird es spätestens dann zu einem Fall für das psychologisch-psychiatrische System.
Wenn die Annahme aufrechterhalten werden soll, sich in der vorgefundenen Welt inklusive Leistungs- und Konkurrenzprinzip zu bewähren und auf erwünschte Weise zu betätigen, sei, erstens, ureigenster und gesündester Ausdruck des menschlichen Wesens überhaupt und, zweitens, ein Unterfangen, dessen Gelingen einzig und allein von der eigenen persönlichen Anstrengung und Einstellung abhängt, ist es naheliegend, wenn ein im Konkurrenzprinzip angelegtes Scheitern bei Menschen zu Selbstkritik, Selbstabwertung und Schuldgefühlen führt. Es ist dann ein schmaler Grat zwischen dem Gefühl der Eigenverantwortung als gern gesehenem, »gesundem« Antrieb, eben härter (an sich) zu arbeiten, und einem in Lähmung umgeschlagenen, »krankhaften« Schuldgefühl, welches dann als Symptom einer behandlungsbedürftigen Depression diagnostiziert wird.15 Ebenso wie das Gefühl, Schuld am eigenen Scheitern zu haben, hat das Gefühl der Wertlosigkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft einen realen Bezug. Da Leistung im Kapitalismus das einzige Kriterium ist, anhand dessen der Wert eines Menschen bestimmt wird, ist es nicht unbedingt überraschend, dass sich eine wertlos fühlt, wenn beispielsweise ihre Arbeitskraft gerade nicht gebraucht wird. Dieser reale Bezug, der im Symptom »Gefühl von Wertlosigkeit« in der Diagnose Depression stecken kann, wird in der psychologisch-psychiatrischen Betrachtungsweise desartikuliert; der beschädigte Glaube an den eigenen Wert wird, sofern das Ausmaß der Beschädigung die Funktionstüchtigkeit und Anstrengungen der betroffenen Person einschränken, in der Psychotherapie z.B. mit Hilfe der völlig gegenstandslosen Behauptung »bedingungsloser Wertschätzung« aufgepäppelt, welche ihren Klient_innen entgegenzuheucheln Psychotherapeut_innen während der Behandlung angehalten sind. Ähnliche reale Bezüge finden sich auch in anderen Diagnosen, wie der »Generalisierten Angststörung« nach ICD und DSM, die sich auf diffuse Sorgen und Befürchtungen in verschiedenen Lebensbereichen, z.B. »unbegründete Geldsorgen, übertriebene Sorgen um die Leistungsfähigkeit in der Schule oder im Beruf« (Morschitzky 2004: 67) bezieht. Wenn die Realisierung des eigenen Werts ebenso unsicher und prekär ist wie die Antwort auf die Frage, ob man die Mittel zur Sicherung seiner Existenz auch morgen noch erwerben können wird und ein Nicht-Bewältigen der an einen gestellten kapitalistischen Anforderungen den faktischen Ausschluss von den Mitteln der Existenzerhaltung bedeutet, nimmt es nicht wunder, wenn Menschen sich unter herrschenden Verhältnissen mit quälenden Existenz- und Zukunftsängsten tragen. Ob diese Sorgen und Befürchtungen »unbegründet und übertrieben« gewesen sind, stellt sich in der Realität jeweils und immer wieder aufs Neue erst im Nachhinein heraus.