Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 22
2. Soziale Veränderungen und Entwicklungstheorien
Es ist interessant, wie die Veränderungen in Basis-Beziehungs-Modellen nicht nur in der Entstehung verschiedener Pathologien resultieren, sondern erwartungsgemäß auch ein neues Konzept der Reife entstehen lassen. Sie bilden die Grundlage jeder Entwicklungstheorie und der verschiedenen psychotherapeutischen Modelle, die entwickelt worden sind (Salonia 1997).
Wenn wir uns die Entwicklungstheorien des Kindes im letzten Jahrhundert ansehen, erkennen wir, dass auch sie sich verändert haben, und so wie sie die Phasen des Wachstums des Kindes unterschiedlich beschreiben, kommen sie auch zu verschiedenen Schlussfolgerungen, was Entwicklungsreife ausmacht.
Für Freud war das Ziel des Wachstums das Erreichen der genitalen Phase, d. h. der Fähigkeit, zu lieben und zu arbeiten, die man dadurch erreicht, dass einem die eigenen Instinkte (Triebe) bewusst werden (»Wo das Es ist, muss auch das Ich sein«) und deren Unterdrückung durch Angst vor dem Über-Ich. Reife wird also als Kompromiss zwischen sozialen Faktoren (und dem Über-Ich) und jenen des Individuums betrachtet. HeldInnen und Heilige sind Beispiele für die höchste Ebene der Reife (Freud 1989a, 1989c).
In den Fünfzigern hat die Gestalttherapie die Reife als »kreative Anpassung« angesehen, als Fähigkeit zu »beißen«, um die Kombination von Anpassung (Zugehörigkeit) und Kreativität (Subjektivität) zu erlernen (Perls 1947; Salonia 1989b, 1989c). Rank (1932) präsentiert die KünstlerIn als Modell der Reife.
Mahler entwickelte in der Blütezeit der narzisstischen Gesellschaft ein Entwicklungsmodell für Kinder, das die persönliche Freiheit in der Handlung des Laufen-Lernens betonte (es war nicht länger ein Gehen zur Mutter hin, sondern die Fähigkeit, sich von ihr weg zu bewegen) und definierte Reife als »Objektkonstanz« (Mahler / Pine / Bergman 1978). Die Gestalt eines starken Individuums, das die Welt herausfordert, wird verherrlicht, die HeldIn in einem Western, oder, die Möwe Jonathan in der Kinderbuchversion des Romans, die die Gruppe verlässt, weil sie sich einzigartig fühlt (Bach 1973).
In der post-narzisstischen Zeit kehrt das Bedürfnis, andere miteinzubeziehen, wie ein Bumerang zurück (wie können viele »Narzissten« zusammenleben?) und Daniel Stern (1987, 1999) entwickelt eine Entwicklungstheorie, die er mit der Theorie des Selbst verknüpfte. Er bezieht sich auf das erzählende Selbst, auf die Fähigkeit, zu erzählen und sich selbst zu erzählen, Beziehungen mit anderen in der triadischen Dimension der Offenheit zu leben.
Ohne es zu wollen, wendet er manche Grundsätze der Gestalttherapie an: Reife kann nicht nur zum Individuum gehören, weil jede Art von Reife eine beziehungsorientierte Reife ist. Das Selbst ist tatsächlich immer und überall in Beziehung. In der gestalttherapeutischen Entwicklungstheorie wird die Reife als »Kontaktkompetenz« definiert (Salonia 1989b, 1989c). Eine neue Hermeneutik ist im Entstehen begriffen; der Ödipuskomplex wird zum Beispiel nicht länger als Problem des Kindes, sondern als Ausdruck eines Problems des Elternpaars gesehen (Salonia 2995b). Aus dem neuen anthropologischen Setting, das Männer und Frauen sowohl zuhause und als auch bei der Arbeit außerhalb des Hauses sieht, entsteht eine neue Entwicklungsperspektive, die Wachstum in Verbindung mit der Deklination des primären Dreiecks und der Ko-Elternschaft betrachtet (Salonia 2009, 2012a).
Zusammenfassend kann man feststellen, dass in Kriegszeiten Kinder dazu erzogen werden, »ein Teil zu sein«, zu gehorchen und die Überlebensregeln zu »schlucken«. In einer narzisstischen Zeit werden sie dazu erzogen, unabhängig zu sein und ihr volles Potenzial auszudrücken. In einer post-narzisstischen Zeit sollen sie sich selbst in Beziehungen ausdrücken.
3. Psychotherapien oder Psychotherapie?
Nach diesen Vorbemerkungen können wir die heikelste Frage von allen stellen: Kann man behaupten, dass ein klinisches Modell für alle Zeiten und in jedem Kontext gültig ist? Mit anderen Worten: Können klinische Modelle, die vor Jahrzehnten in völlig anderen historischen und sozialen Kontexten geschaffen wurden, immer noch die Bedürfnisse einer Welt befriedigen, die sich komplett verändert hat?
Die Antworten auf diese Frage decken ein breites Spektrum ab. Für manche hat die Theorie und Praxis ihres Modells einen Wert, der sich außerhalb von Fragen von Zeit und Raum befindet; daraus folgt, dass frühere oder spätere Ansätze als unvollständig oder oberflächlich abgelehnt werden. Für andere (z. B. DSM IV) sichert ein deskriptiver Ansatz zur Psychopathologie die gewünschte Objektivität, wobei jedoch außer Acht gelassen wird, dass jede Beschreibung eine Interpretation ist (Salonia 2001b). Durch den Versuch, integrative Modelle der Psychotherapie zu entwickeln (vielleicht durch die Kombination von Theoriefetzen und grob skizzierten Hinweisen auf Techniken) wird möglicherweise die Notwendigkeit geleugnet, jedes therapeutische Modell fortlaufend zu modernisieren.
In Wahrheit ist es genau die mangelnde Verbindung zwischen Psychotherapie und sozialem Kontext, die einen psychotherapeutischen Ansatz schwächt. Nehmen wir als Beispiel die Psychoanalyse – die »Mutter« aller Therapien. Freud versuchte, seine genialen und wirkmächtigen Ansichten über das soziale Leben in Geschichten über den Ursprung der Menschheit (Freud 1989b), in griechischen Mythen, in der Literatur zu verankern und auf dieser Grundlage Hinweise für die Zukunft zu geben (Freud 1989c).
Paradoxerweise erwies sich diese Aussage – dass »die« unveränderliche Theorie des Zusammenlebens entdeckt worden sei – als größte Schwäche der Psychoanalyse. Es war ein Nachfolger Freuds, der erkannte (wenn auch verständlicherweise erst nach einiger Zeit), dass wir einen Wandel vom Schuldigen Menschen zum Tragischen Menschen vollzogen haben (Kohut 1976a): Der Horizont, in dem Freuds PatientInnen lebten, war das Schuldgefühl, das aus der Unfähigkeit entstand, sich aus der Gemeinschaft zu lösen. Heute dagegen leiden die PatientInnen (seit den Achtziger-Jahren des 20. Jahrhunderts) an einem tragischen Mangel an Beziehungsidentität: Sie schaffen es nicht, Teil einer Gemeinschaft zu sein, die sie als »notwendig und unmöglich« wahrnehmen (Esposito 1998).
Unter den Ansätzen, die den fortlaufenden Prozess der Berücksichtigung soziokultureller Veränderungen stets als integralen und wichtigen Teil ihrer Arbeit betrachtet haben, finden wir die Gestalttherapie. Gemäß der Epistemologie ihres erlebens- und beziehungsorientierten Modells wendet sie die Hermeneutik an (Sichera 2001), weil der Gebrauch von hermeneutischen Mitteln es ermöglicht, einen Verständnisprozess zu erreichen, der in einer zwingenden und aufschlussreichen Zirkularität den Text, den Autor, den Leser und den kulturellen Kontext umfasst. Einerseits sind da die TherapeutIn, die PatientIn und das Modell, und andererseits das Modell selbst sowie der Kontext, in dem es entstanden ist, und der Kontext, in dem es angewandt wird. Aus dieser Perspektive – auf die wir noch näher eingehen werden – ist die sozio-kulturelle Kontextualisierung des Verständnisses psychologischer Leiden (und der damit verbundenen Praxis) eine unabdingbare, wenn nicht eine allumfassende Voraussetzung jedes therapeutischen Prozesses.
Lassen Sie uns ein Beispiel aus der Geschichte der Gestalttherapie heranziehen, um zu verdeutlichen, weshalb die Hermeneutik herangezogen wurde. Fritz Perls, einer der Begründer der Gestalttherapie, fasste seine Theorie im so genannten »Gestaltgebet« zusammen (1974, 13):
Ich tu, was ich tu, und du tust, was du tust.
Ich bin nicht auf dieser Welt, um nach deinen Erwartungen zu leben.
Und du bist nicht auf der Welt, um nach meinen zu leben.
Du bist du und ich bin ich.
Und wenn wir uns zufällig finden, – wunderbar.
Wenn nicht, kann man auch nichts machen.
In dem Kontext, in dem Perls es geschrieben hat (die amerikanische Gesellschaft der 1960er-Jahre), als die Menschen es nicht schafften, sich aus dysfunktionalen Beziehungen zu befreien, hatten diese Aussagen einen therapeutischen Wert. In einem anderen Kontext angewandt (z. B. in den narzisstischen Siebzigern), werden sie zu Unsinn. »Binde dich nicht« und »Folge deinem eigenen Weg« ist genau das, was Menschen, die ihre Beziehungen narzisstisch leben, besonders gut können: Was ihnen Schwierigkeiten bereitet ist das genaue Gegenteil dieser Leitsätze. Sie müssen an ihrer Phobie gegenüber emotionalen Bindungen arbeiten, um zu lernen, wie man anderen vertraut, und um ein Gefühl der Zugehörigkeit zu erleben.
Nehmen wir ein weiteres klinisches Beispiel. Mit großartiger klinischer Intuition bat Fritz Perls PatientInnen, die fortlaufend Fragen stellten (aus Angst, anders zu sein, weil sie eigene Ansichten formulierten), ihre Fragen in Aussagen umzuwandeln. In einer narzisstischen Kultur hingegen wäre es passend, PatientInnen (die sich auf sich selbst beziehen und Schwierigkeiten haben, Fragen zu stellen) aufzufordern, Aussagen in Fragen zu verwandeln.
Eine weitere wichtige Überlegung ist, dass die Kontextualisierung psychologischer Leiden – z. B. indem man sie mit dem Basis-Beziehungs-Modell in Verbindung bringt – ihre Bedeutung neu definiert: Ein Mensch, der ein abhängiges Beziehungsmodell hat, wird seinem Leiden eine unterschiedliche Relevanz zusprechen, je nachdem, ob er es in einem Kontext erlebt, in dem Zugehörigkeit hoch bewertet wird (wie sein Schuldgefühl loswerden?) oder in einem Kontext, in dem Selbsterfüllung im Vordergrund steht (warum bin ich anders als alle anderen?).
Das Basis-Beziehungs-Modell ist daher das oberste und entscheidende Paradigma für das Verstehen allen psychologischen Leidens. Somit ist es für die Bestimmung der Richtung unerlässlich, in die ein therapeutischer Prozess gehen soll.
Auf der Grundlage der vorangegangenen Erläuterungen können wir nun die schrittweise Entstehung verschiedener psychotherapeutischer Modelle (Salonia / Spagnuolo Lobb / Sichera 1997) innerhalb der sozialen Veränderungen interpretieren, die in den vergangenen sechzig Jahren stattgefunden haben.
In einer Gesellschaft, die stark ist, weil sie vereint einer Gefahr trotzt, erkennt man die Kohärenz des psychoanalytischen Modells mit seiner autokratischen Epistemologie: Die AnalytikerIn ist diejenige, die weiß, welchen Sinn die »sinnlosen« Äußerungen (freie Assoziationen, Lapsus, Träume) der PatientIn ergeben. Das Über-Ich ist die Kontrollinstanz, mit der man sich arrangieren muss. Das Ich ist das Ergebnis des Konflikts zwischen Über-Ich und Es. Die Aufgabe der PatientIn besteht darin, die Interpretationen (Erläuterungen) der AnalytikerIn zu »introjizieren«.
Wenn der sozio-kulturelle Kontext auf eine Vorherrschaft der Subjektivität zusteuert, entsteht der therapeutische Wert der Fähigkeit von PatientInnen, sich zu widersetzen (z. B. Otto Ranks Gegenwille) (Rank 1949). In Übereinstimmung damit ist Perls erste Erkenntnis (die, wie oben erwähnt, die Trennung von der Psychoanalyse bewirkte und die Grundlage der Gestalttherapie bildete) die Bedeutung des Zahnens: Das Kind lernt nicht durch das Schlucken, sondern durch das Zerkauen.3 In der Therapie ist die Subjektivität der PatientIn von größter Wichtigkeit: Sie ist der wahre Grund hinter der ungerichteten Therapie von Rogers (1970) und dem Wert der Erfahrung in der Gestalttherapie (beide wurden oft vorschnell als oberflächliche Therapieformen abgetan!)4
Tatsächlich übernehmen diese Therapeuten, jeder auf seine Weise, Jaspers’ großartige, aber isolierte Erkenntnis, die er über die Erfahrung und die Einfühlung der PatientIn gewonnen hat (Jaspers 1968), und betrachten sie aus einem neuen klinischen Blickwinkel in Bezug auf die Deutung. »Feeling expression«, Emotionsausdruck, wird das neue therapeutische Prinzip, weil es die neu entdeckte Möglichkeit des Selbstausdrucks in der Subjektivität zeigt.5
Ein Beispiel soll dies näher erläutern: Es ist klar, dass es in Zeiten der Gefahr wenig Sinn macht, dem Ausdruck persönlicher Erfahrungen viel Raum zu geben: Wenn man losgehen und ums Überleben kämpfen muss, ist es nicht funktional, seiner Angst zuzuhören, ihr Bedeutung beizumessen oder sie auszudrücken, es sei denn, diese Angst wird als »psychiatrisch« definiert.
Seit den Sechziger-Jahren wird den Risiken, die durch die Subjektivität entsteht, die das Zugehörigkeitsgefühl verliert, mehr Aufmerksamkeit zuteil. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis, zu Beziehungen zurückzukehren, die nicht als Form der Abhängigkeit gelebt werden, und Familientherapien florieren. Bei allen Arten psychotherapeutischer Aktivität oder der philosophischen oder sozialen Reflexion6 liegt der Fokus auf Beziehungen. Es ist die Zeit der »Therapien des Selbst«, die die unauslöschlichen sozialen und beziehungsbezogenen Dimensionen des Individuums hervorheben (Gabbard 2002). In der Gestalttherapie wird das theoretische und klinische Corpus im Hinblick auf das Selbst definiert, und die Kontakttheorie entsteht als hermeneutischer Schlüssel der gesamten theoretischen und klinischen Konstellation. Es ist vor allem ein grundlegendes Konzept, das sich entwickelt. Im Vergleich zu den Theorien der Fünfziger ist es revolutionär: Die Selbstregulierung des Organismus muss in ein umfassenderes Prinzip eingepasst werden, das in der Selbstregulation der Beziehung besteht (Salonia / Spagnuolo Lobb / Sichera 1997). Es ist die Beziehung selbst, die sich reguliert. Aus diesem Grund verändern sich das Verstehen und das Erleben des therapeutischen Settings radikal.
Es ist interessant zu beobachten, wie sich die Psychoanalyse parallel zu diesen Bewegungen intern und durch die Schaffung von post-psychoanalytischen Modellen entwickelt hat. Das berühmteste dieser Modelle beschäftigt sich mit den »Objektbeziehungen« und hat sich in den letzten paar Jahren durch Mitchells Arbeit (Mitchell / Greenberg 1986; Mitchell 2002) und auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie auch durch Sterns Arbeit (1987) an das »Beziehungsmodell« angeglichen, in dem der gegenwärtige Wert der Beziehung, wie sie im therapeutischen Setting entsteht, von größter Wichtigkeit geworden ist.
4. Die Gestalttherapie als Psychotherapeutisches Modell für den post-modernen kulturellen Kontext
Die vorangegangenen Erläuterungen dürften deutlich machen, dass die Psychopathologie und die therapeutischen Behandlungen durch Freud einen Teil der Hermeneutik darstellen, die dem BRM/Wir zu eigen ist (starke Gesellschaft – schwaches Individuum). Die Gestalttherapie dagegen, die zu Beginn des BRM/Ich entstanden ist, hat sich eine neue Hermeneutik und eine neue klinische Praxis für die Behandlung psychologischer Leiden erarbeitet. Ihr Ausgangspunkt ist eine schwache Gesellschaft, die in den Hintergrund rückt, während Subjektivität zur Gestalt wird (Salonia / Spagnuolo Lobb / Sichera 1997; Salonia / Spagnuolo Lobb / Cavaleri 1997). Die Krise, die über Beziehungsbindungen hereinbricht, stellt als Ursprung und Erfüllung der Subjektivität die große therapeutische Herausforderung des BRM/Ich für die Gestalttherapie dar. Anders ausgedrückt entsteht psychologisches Leiden »von« und »in« einer gestörten Beziehung und zeigt sich in der Unfähigkeit, gesunde Beziehungen einzugehen. Es wird »mit« und »in« einer (therapeutischen) Beziehung geheilt. In der gestalttherapeutischen Hermeneutik ist das grundlegende Konzept der Psychopathologie die Unfähigkeit, dem/der Anderen zu begegnen, also – auf phänomenologischer Ebene – die Tatsache, dass ein Wunsch (Intentionalität) nach Kontakt unterbrochen und nicht verwirklicht wird.
Kontaktvollendung oder wahrer Kontakt entsteht nicht, wenn eine/einer den/die Andere(n) dominiert oder sich dem/der Anderen unterwirft, sondern durch das Erreichen der »Kontaktgrenze« mit einem intakten Selbst (Salonia 1989b, 1989c), das in der Lage ist, die Fülle des/der Anderen zu sehen (Gadamer 1983; Perls / Hefferline / Goodman 1979).
Wenn ein Kontakt zustande kommt, bewirkt er ein existenzielles Gefühl der Ganzheit und Freude. Die Fähigkeit, nährende Kontakte einzugehen, ist angeboren, doch sie entwickelt sich und wird durch elterliche Figuren in den Momenten aufrechterhalten, in denen man – auf der Ebene der körperlichen Beziehungen – die Schemata des Beingwith erlernt (Stern 1987; Salonia 1989b, 1989c).
Im Lichte dieser Aussagen ist die Gestalttherapie die Beschreibung der verschiedenen Wege, auf denen man den/die Andere(n) nicht erreicht. Tolstoy (2006) hatte Recht, als er schrieb, dass es nur einen Weg gibt, um glücklich zu sein, und viele Wege, unglücklich zu sein! Die unterschiedlichen Typen der klassischen Psychopathologie oder die verschiedenen Formen des Leidens (Hysterie, Phobien, Panikattacken etc.) sind auf Grundlage des Moments erkennbar, in dem das Subjekt auf seinem Weg zu einem nährenden Kontakt in der Umwelt seine Reise unterbricht. Die Schwere der Krankheit wiederum wird in der Differenz zwischen der Integrität und der Fülle des Kontakts deutlich. Die schwerkranke PatientIn hat – wie Heidegger sagen würde – sich selbst nicht erreicht und sie hat in sich kein Gefühl der Integrität aufgebaut; sie ist unfähig, da zu sein. Bei weniger schwer erkrankten PatientInnen stammt das psychologische Leiden aus der Unfähigkeit, eine Kontakterfahrung »voll« zu erleben, und deshalb werden sie von einem Gefühl der Unvollständigkeit gequält. Was die Beziehungen angeht – die in der Gestalttherapie anfangs zentral und entscheidend sind –, so sind die Symptome und die Heilung der Psychopathologie in der Körper-Beziehung-Erfahrung erkennbar (Salonia 2008a, 2010b, 2011a). Die Gestalttherapie fokussiert die Beziehung zwischen dem Subjekt und Anderen in gelebten Beziehungen (was ich in Beziehung zum/zur Anderen fühle), die umgekehrt unweigerlich eine körperliche Matrix hat. Das »wie fühle ich bezogen auf den/die Andere(n)« wird zuallererst im Körper gefühlt und geschrieben: Die phänomenologische Matrix der Gestalttherapie findet in genau dieser Bestätigung ihren Platz. Das Nicht-Zustandekommen oder die erfolgreiche Kontaktintentionalität sind im Körper »sichtbar«, oder besser: im Körper in der Beziehung. Es ist genau die »Zwischenkörperlichkeit« (Salonia 2008a, 2011a) zunächst zwischen dem Körper des Kindes und der Elternfigur und schließlich zwischen PatientIn und TherapeutIn, wo der Fluss oder die Unterbrechung einer Kontaktepisode wahrgenommen wird. Vom Körper kommen die ersten langsamen, aber bedeutenden Bewegungen des Öffnens von Worten und Körper. Der Körper signalisiert, dass im Leben wieder etwas entsteht, in diesem Fall eine neue Beziehung, und dass diese Beziehung wiederum neues Leben gebiert.
Kommentar
Philip Lichtenberg
Salonia gibt der persönlichen Funktionsweise einen Platz innerhalb der weiter gefassten sozialen Existenz eines Menschen, und dazu gehört auch sein eigener Platz in der Geschichte. Unser Leben innerhalb der größeren Gesellschaft zu formen bedeutet, die Spannungen zwischen Individualität und Kollektivismus auszugleichen. Er verortet psychologische Theorien in der Geschichte der Ideen und zeigt, wie die frühe Theorie der Gestalttherapie, die nach dem starken kollektivistischen Druck des Zweiten Weltkrieges entstanden ist, die Individualität und persönliche Selbstregulierung hervorhebt. Angesichts der Tatsache, dass die Überbetonung des Individuums dem Bedürfnis nach Gemeinschaft weicht, stellt er klug fest, dass wir uns nun um die Selbstregulierung von Beziehungen kümmern müssen. Aus dieser Perspektive schlägt er vor, über die »Basis-Persönlichkeit« in einer Gesellschaft hinauszugehen, hin zu einem »Basis-Beziehungs-Modell«, das die Gesellschaft hervorbringt. Außerdem lokalisiert Salonia die psychische Gesundheit und die Psychopathologie innerhalb des Beziehungsmodells. Sein Konzept der »Kontaktkompetenz« differenziert diese Aspekte des persönlichen Funktionierens sehr gut.
Salonia argumentiert, dass die Gestalttherapie zum Zeitpunkt ihres Entstehens eine neue Psychotherapie war, doch ich sehe das etwas anders. Einerseits stimme ich seiner Aussage zu, andererseits bin ich nicht ganz einverstanden mit dem, was er sagt. Mit ihrem Fokus auf der Achtsamkeit und der Beziehung zwischen KlientIn und TherapeutIn unterschied sich die Gestalttherapie von der klassischen Psychoanalyse, und in diesem Punkt könnte man sie tatsächlich »neu« nennen. Doch ich denke, dass die Gestalttherapie eigentlich eine Form der Therapie ist, die ich als »radikale Psychoanalyse« bezeichne (Lichtenberg 2010). Führende PsychoanalytikerInnen wie Reich und Fenichel verknüpften Psychoanalyse und Marxismus und förderten eine beziehungsorientierte und egalitäre Psychotherapie, die sich auch auf den größeren sozialen Kontext bezog. Diese DenkerInnen waren Teil einer bedeutenden Gruppe. Die Tatsache, dass sie sich vor allem einer Therapie von Angesicht zu Angesicht und Themen wie Übertragung und Gegenübertragung widmeten, bewirkte dramatische Veränderungen in der Psychoanalyse.
Die Gestalttherapie war die Umsetzung dessen, was in der psychoanalytischen Theorie nachrangig behandelt wurde. So entspricht z. B. das Konzept des In-Kontakt-Tretens und Rückzugs dem »Befriedigungserlebnis« bei Freud. Das gestalttherapeutische Konzept der Achtsamkeit als das Organismus/Umwelt-Feld kommt Freuds früher Theorie des Bewusstseins nahe. Bei komplexen Theorien treten immer wieder unterschiedliche Aspekte des Ganzen im Lauf der Zeit in den Vordergrund. Auf diese Weise hat sich die Gestalttherapie als eine Form der Psychoanalyse entwickelt.
Die Theorie der Gestalttherapie ist komplex. Die eingehende Lektüre des Grundlagentextes (Perls / Hefferline / Goodman 2006) zeigt, dass sie vieles ist: individualistisch und beziehungsorientiert, in gewissem Maße autoritär und egalitär, versöhnlich und revolutionär. Dieses Kapitel von Salonia trägt dazu bei, diese Ambiguität zu klären.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.