Kitabı oku: «Gestalttherapie in der klinischen Praxis», sayfa 6
Kommentar
Gordon Wheeler
Zugehörigkeit und Abgrenzung, Identität und Evolution, Bewahrung und Wandel: Dies sind die essenziellen elementaren Dynamiken, die wir als Definitionen von Beziehung (differenzierte Verbindung), Komplexität (ein Feld im Sinne von Beziehungs-Dynamiken) und auch des Lebens selbst betrachten (jedes begrenzte Sub-Feld, das sich durch die Fähigkeit auszeichnet, in seinem eigenen Interesse zu handeln). Seit unser gestalttherapeutisches Modell vor einem Jahrhundert in den Psychologielaboren der frühen Gestaltpsychologen seinen Anfang nahm, steht es unverrückbar dafür, dass es die Komplexität dieser Beziehungsprozesse respektiert, wie lebende Subjekte sie bei dem Versuch real erleben, ihre eigenen kreativen Anpassungen angesichts der sich verändernden Bedingungen wirksam zu machen. Daher richtete die gestalttherapeutische Forschung ihr Augenmerk bald auf das Verständnis der Prozesse und Strukturen, durch die menschliche Subjekte die von ihnen wahrgenommenen Welten organisieren und interpretieren, indem sie Ereignisse mittels Interpretation, Bewertung und Handlung in schlüssige Erfahrung verwandeln.
Die anwendungsbezogene Forschung, das integrative Werkzeug und die Perspektive, der der Gestaltpsychologe Kurt Lewin den Weg bereitet hat, kennzeichnet die gestalttherapeutische Methode und Haltung: Wir sehen alles als ein Experiment, erleben dessen Ausgang und folgern daraus, welche Muster es gibt, die funktional/flexibel oder unkreativ/ verfahren sind. Dann fördern wir neue Tests, mit denen die Brauchbarkeit dieser Folgerungen geprüft wird, dekonstruieren alle Muster, die nicht länger anwendbar sind und so weiter. Alles, was wir in der Gestalttherapie tun, kann als Variation dieses anwendungsbezogenen Forschungsansatzes betrachtet werden; und alles ist potenziell neues Material für ein laufendes Experiment, nämlich das Leben selbst.
Indem sie sich auf die wegweisende Arbeit von Lewin und anderen stützen, die diesen revolutionären Ansatz zum Verständnis menschlicher Prozesse aus den Psychologielaboren hinaus in reale Lebenssituationen trugen, versuchten Goodman, Perls und ihre ersten Mitarbeiter in den 1950er-Jahren, dieses Vermächtnis in eine Methode zu verwandeln, die sich auf das Individuum und auf Gruppen, ja, auch auf das alltägliche Leben anwenden ließ. Wie Spagnuolo Lobb hier richtig darlegt, taten sie dies notwendigerweise im Kontext ihrer Zeit und ihrer persönlichen Geschichten. In dieser Nachkriegsära, als sich die Gesellschaft noch immer an der »Hochwassermarke« des Massenfaschismus des 20. Jahrhunderts befand, leuchtet es ein, dass ein Individualismus nach Sartre und ein »autonomes Wertkriterium« als vertrauenswürdigste Basis für die Wiederherstellung der Gesundheit, der Kreativität und der freien Bewegung des menschlichen Geistes galten (obwohl dieser Ansatz einigen der Feld/Beziehungs-Implikationen des Gestaltvermächtnisses widersprach). Heute, im Zeitalter des weicheren Faschismus der Konsumgesellschaft, von Massenmedien und tiefgreifender Isolation, ist unsere Situation und sind unsere Bedürfnisse anders gewichtet. Unsere Methode muss sich kreativ entwickeln, um ihren Wurzeln und ihrer Identität sowie ihrem theoretischen und praktischen Potenzial gerecht zu werden.
Diese Art der kontextuellen Perspektive bildet die Basis der hermeneutischen Forschung, die Spagnuolo Lobb seit Langem auf unserem Gebiet erfolgreich durchgeführt hat: der Anspruch, dass wir jede Aussage unserer Kernprinzipien und jeden identitätsstiftenden Text »von innen heraus« verstehen, im Hinblick auf die perspektivischen Werte und Entscheidungspunkte, die Aussage oder Text im Kontext ihrer eigenen Situation voranbringen – so wie wir, die wir von unserer eigenen aktuellen Situation geprägt sind, diese Werte und Entscheidungen interpretieren. Damit gelangen wir in den offenen »hermeneutischen Kreis« endlos rekursiver kreativer Interpretationen. Weil ein Dialog von Interpretationen, welche auch reflexive Interpretationen unserer eigenen Perspektive im Hier und Jetzt enthalten, die wirkliche Essenz und Natur unseres menschlichen Kontaktprozesses ist. Wir schaffen Bedeutungen, ko-kreativ, und gehen weiter; und wir wissen, dass diese Bedeutungen niemals fertig, nie endgültig sind.
Aber was ist diese Identität? Was sind diese »Kernprinzipien«, an denen wir uns orientieren sollen, wenn wir in diesem hermeneutischen Prozess handeln und leben, im Dialog mit (unserer Interpretation) der grundlegenden Identität unseres Vermächtnisses, in einer dialektischen Auseinandersetzung mit (unserer Interpretation des) dem Kontext der ursprünglichen Darstellungen dieser grundlegenden Prinzipien und (wiederum unserer Interpretation) unserer Situation heute? Dieser Prozess kann sich dann wie ein belebendes Abenteuer in einer immer neuen Welt anfühlen – oder eher wie eine verstörende Reihe von Zerrspiegeln, wie Schattenboxen, ohne dass man sicheren Boden unter den Füßen hat. Der Unterschied zwischen diesen beiden Reaktionen auf die Herausforderung der hermeneutischen Perspektive liegt, aus gestalttherapeutischer Sicht, in der Qualität und der Quantität der Unterstützung, die angesichts dieser Herausforderung und aus dem Feld heraus angeboten und genutzt wird. Von fundamentalster Bedeutung für diese Unterstützung ist selbstverständlich die Qualität von Anwesenheit und Kontakt, die von Kliniker/Moderator/ therapeutischem Praktiker im Prozess der Intervention angeboten werden.
Spagnuolo Lobbs Ansatz in diesem Text bietet uns die Unterstützung einer äußerst nützlichen und kreativ aktualisierten Übersicht der Kern-Topoi oder thematischen Hauptanziehungspunkte unseres theoretischen Erbes, wie sie im Text von 1951 dargelegt wird. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema hat sie jede der Schlüsselthematiken des ursprünglichen Textes nahtlos mit der wachsenden Bedeutung des Beziehungsaspekts verbunden, der die darauf folgenden 60 Jahre der Gestalttherapie kennzeichnet (eine Entwicklung, bei der Spagnuolo Lobb selbst eine wichtige Rolle gespielt hat). Das Ergebnis ist höchst stimmig und unmittelbar anwendbar, sei es im klassischen Setting einer Eins-zu-eins-Therapie, in einem dyadischen oder einem Gruppensetting. Den hier entwickelten Themenkatalog nicht nur auf diese Konstellationen, sondern auch auf größere soziale Formate anzuwenden, mag noch ein größerer Schritt sein, so wie es auch ein großer Schritt war, Goodmans und Perls (oder auch Freuds) ursprüngliche Darlegungen dieser Themen auf größere Gruppen und andere Settings anzuwenden.
Eine andere Herangehensweise an diese Frage könnte ein Schritt zurück zur ursprünglichen Untersuchung der Entstehungsprozesse der Erfahrungsbildung selbst sein, wie sie die ersten vier Jahrzehnte der Gestaltforschung und -praxis bis hin zu Goodmans und Perls Arbeit geprägt hat und wie sie auf nützliche Weise in Lewins anwendungsbezogener Forschungsperspektive zusammengefasst ist, auf die ich oben Bezug genommen habe. In der heutigen internationalen Gestaltlandschaft ist die individuelle Therapie nur ein kleiner Teil der vielfältigen Anwendungen der zeitgenössischen Gestalttheorien und -methoden. Diese Anwendungen reichen von psychologischer Beratung, Gruppenarbeit, Paar- und Familientherapie, Lebensberatung und Coaching für Führungskräfte, organisatorischem Consulting, Management, Angeboten für intensive Gruppentherapie, im Bildungsbereich bis hin zu politischer Arbeit und Organisation auf unterschiedlichen Ebenen. Neben Spagnuolo Lobbs lebendiger neuer Darlegung brauchen wir weitere Sichtweisen auf diesen reichhaltigen hermeneutischen Dialog, um all die fruchtbaren Anwendungen unseres Gestalterbes aufzunehmen.
2. Psychopathologie: Ein gestalttherapeutischer Ansatz
Gianni Francesetti, Michela Gecele und Jan Roubal
1. Das Leiden der Beziehung an der Kontaktgrenze
In der Gestalttherapie geht man von einem Kontinuum von gesundem und sogenanntem pathologischen Erleben aus, in dem es keine klaren Abgrenzungen gibt. Diese Überzeugung ist der Grund dafür, weshalb alle Versuche der diagnostischen Kategorisierung und Nosologie immer mit Vorsicht behandelt wurden (Perls / Hefferline / Goodman 20061). Der Wert, der dem momentanen Erleben und dem Potenzial jeder Situation zugemessen wird, untermauert die Legitimität und den Wert aller gelebten Erfahrungen. Es ist genau dieser Wert, der verhindert, dass Menschen und ihre Erfahrungen zu fixierten Gestalten werden.
Dies sind die ersten Erwägungen, die auftauchen, wenn wir über die Frage »Wie können wir Psychopathologie mithilfe der Gestalttherapie behandeln?« nachdenken. Und wie können wir das bewerkstelligen, ohne auf Kategorien zurückzugreifen, die Erfahrungen und PatientInnen in starre Formen pressen?
Etymologisch betrachtet setzt sich das Wort »Psychopathologie« aus drei Wortstämmen zusammen: »psycho-«, »patho-« und »-logos«.
Psyche bedeutet im Griechischen Seele und stammt von psychein ab, was »atmen« bedeutet. Patho, vom Griechischen pathos, bedeutet Leidenschaft oder Leiden und kommt von paschein (indoeurop.), »erleiden«. Logos ist das griechische Wort für »Diskurs« (Cortelazzo / Zolli 1983). Psychopathologie ist also die Lehre vom Leiden des Atems, von etwas Flüchtigem, das nicht in einer festen Objektform fassen lässt.
Es ist das Leiden des belebenden Atems, das Leiden des belebten lebendigen2 Leibes, nicht das des Körpers.3 Alle Lebewesen sind lebendig, eben weil sie intentionalen Kontakt mit ihrer Umwelt haben (Minkowski 1999). Psychopathologische Phänomene betreffen Subjekte, wenn sie mit ihrer Umwelt interagieren, genauer gesagt: die Interaktion von Subjekten mit der Umwelt. An diesem Punkt kommen wir zu einer grundlegenden Entscheidung: Wir können die Psychopathologie entweder als Leiden des Individuums oder als Leiden des Feldes ansehen. Dieses Leiden manifestiert sich im Individuum und kann vom Individuum transformiert werden: Das Individuum ist ein Organ, das eine Auswahl im Feld trifft (Philippson 2009). Je nachdem, für welche Betrachtungsweise man sich entscheidet, öffnen sich zwei sehr unterschiedliche Universen und zwei grundlegend unterschiedliche Auffassungen von psychischem Leiden.
Diese beiden Standpunkte bezüglich der Realität psychischen Leidens sind vergleichbar mit den beiden Standpunkten, mit deren Hilfe man das Licht in der Physik verstehen kann: Ist es eine Welle oder ein Partikel? Wir gestalten unsere Realität durch unsere Betrachtung der Welt. Bei psychopathologischen Phänomenen ist es ähnlich. Man kann die Psychopathologie als ein Phänomen betrachten, das zum Individuum gehört. Man kann sie aber auch als ein Phänomen auffassen, das aus dem Feld hervorgeht und zum Zwischen gehört, um Buber zu zitieren (Buber 1993; Salonia 2001a; Spagnuolo Lobb 2001a, 2005a; Francesetti 2008). In der Sprache der Gestalttherapie ist es ein Phänomen, das an der Kontaktgrenze4 passiert (vgl. Eidenschink / Eidenschink 1999; Siegel 2007; Luif 1992)..
Unsere Epistemologie basiert auf der Annahme, dass das Erleben weder allein zum Organismus noch allein zur Umwelt gehört (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Spagnuolo Lobb 2001b, 86; 2003b, 2005a). Vielmehr entsteht Erleben als »mittlerer Modus« an der Kontaktgrenze. Die erlebnisorientierte Figur, die sich aus dem Kontext des Hintergrundes (der dem Kontinuum des Erlebens zugrunde liegt) hervortritt, ist eine Figur, die zum Individuum gehört (so haben in einer Diskussionsgruppe keine zwei Menschen dieselbe erlebnisorientierte Figur). Zur selben Zeit jedoch gehört sie nicht zum Individuum (um auf unser Beispiel mit der Diskussionsgruppe zurückzukommen: Die Figur jedes Menschen gehört auch zu den Anderen, da sie von den Anderen und durch die Anderen hervorgeht und ihre Form annimmt) (Robine 2011). Im Zusammenhang mit der Psychopathologie bedeutet das: Wenn wir der Ansicht sind, dass solche Phänomene an der Kontaktgrenze entstehen, dann ist es genau genommen nicht das Subjekt, das leidet. Vielmehr leidet die Beziehung zwischen dem Subjekt und der Welt: jener Raum, den der Organismus erlebt und in dem der Organismus belebt wird. Von diesem Standpunkt aus gesehen ist die Psychopathologie die Pathologie der Beziehung, der Kontaktgrenze, des Zwischen.
Das Subjekt ist der bewusste und kreative Empfänger dieses Leidens: Das Subjekt kann Schmerz empfinden.
Das Subjekt kann Leiden wahrnehmen und ihm kreativ Ausdruck verleihen, doch das Leiden entsteht an der Kontaktgrenze. Das Agens dieses Gefühls (allen Gefühls) ist das Selbst, das eine Kontaktfunktion ist. Nach der Auffassung der Gestalttherapie erforscht die Psychologie das, was an der Kontaktgrenze passiert (während das, was innerhalb des Organismus passiert, in den Bereich der Biologie und Physiologie gehört, und das, was außerhalb des Organismus passiert, in den Bereich der Soziologie und Politik) (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Demnach muss sich die Psychopathologie notwendigerweise auf das Leiden dieser Grenze beziehen. Aus dieser Herangehensweise ergeben sich eine Reihe wichtiger Konsequenzen.
Psychopathologie ist nicht einfach subjektives Leiden. Psychopathologie ist das Leiden der Zwischen. Dieses Leiden kann von jedem wahrgenommen werden, der sich in der Beziehung befindet: von dem/der Anderen oder einem/r Dritten. Das Leiden wird vom Organismus wahrgenommen, doch es gehört nicht zu ihm, weder durch sein Entstehen noch durch seine Heilung. Leiden entsteht und entwickelt sich innerhalb einer Beziehung (Sichera 2001, 17–41; Salonia 1992) oder (um es im engeren gestalttheroretischen Sinne auszudrücken) in dem Raum, zu dem es gehört und in dem es erzeugt wird: in der Kontaktgrenze. Also kann man die Psychopathologie als das Wissen um das Leiden des belebenden Atems, des Zwischen, der Kontaktgrenze begreifen. Der belebende Atem, das Zwischen und die Kontaktgrenze gehören nicht zum Individuum, sondern sind lebendige Räume, die durch Kontakt entstehen. Die Psychopathologie ist eine Eigenschaft, die sich an der Kontaktgrenze5 neu herausbildet und die das Individuum wahrnimmt.
In der Psychopathologie geht es nicht einfach um subjektives Leiden. Subjektives Leiden kann existieren, ohne psychopathologisch zu sein, das heißt, ohne dass das Zwischen leidet (in diesem Fall gibt es Schmerz, aber kein Leid). Andererseits kann subjektive Gleichgültigkeit (ohne empfundenen Schmerz) psychopathologisch sein, wenn das Zwischen leidet (in diesem Fall gibt es Leid, obwohl kein Schmerz da ist). Nicht alles Leiden, das der Einzelne empfindet, ist notwendigerweise ungesund (z. B. Trauer, die Leiden darstellt, aber nicht zur Psychopathologie gehört), während eine Pathologie von Menschen nicht immer als Leiden wahrgenommen wird (z. B. Psychopathien, die in Gewalt münden). Um uns in der Psychopathologie besser zu orientieren, müssen wir über das Individuum als einzige Bezugsgröße hinaussehen und die Beziehung betrachten (Salonia 1989c; 1999; 2001a; Spagnuolo Lobb 2003a; 2003b). Wir stellen uns nicht länger die Frage »Leidet das Subjekt?«, sondern vielmehr »Leidet die Beziehung?«.
Wir betrachten das Individuum nicht als Träger der Psychopathologie. Wir beschreiben keine Arten von Menschen, sondern vielmehr Funktionsmuster und sprechen z. B. von Angst- oder Borderline-Prozessen und nicht von betroffenen Menschen (Greenberg / Goldman 2007). Dadurch können wir die Psychopathologie aus der Perspektive der Feldtheorie betrachten, in der psychopathologische Phänomene weder der einen noch der anderen Seite des Kontakts zugeschrieben, sondern als Funktionen des Feldes aufgefasst werden.
Psychopathologisches Leiden ist Folge und Ausdruck eines Mangels an signifikantem Kontakt.6 Je frühzeitiger ein Kontakt hätte stattfinden sollen und je grundlegender er für die Entwicklung des Selbst und das Wachstum des Organismus gewesen wäre, desto schwerer das Leiden. Das individuelle Empfinden dieses Leidens ist eine Manifestation von Bewusstheit (was immer die Bewusstheit an und von der Kontaktgrenze darstellt).7 Da das Leiden zu einer Beziehung gehört, kann es vorkommen, dass nicht alle, die daran beteiligt sind, es auch wahrnehmen.
Ein Beispiel wäre ein Mann, der aufgrund seiner Beziehungsgeschichte ein narzisstisches Leiden entwickelt hat: Er kann den Schmerz der Beziehung zwischen dem Paar nicht wahrnehmen, nur seine Partnerin fühlt ihn. Die Tatsache, dass sie leidet (z. B. unter einer tief empfundenen Einsamkeit und Traurigkeit), muss nicht bedeuten, dass sie es ist, die behandelt werden sollte, um ihre Probleme bewältigen zu können (etwa mit Antidepressiva). Ihre Schwierigkeiten sind vielmehr ein gesundes Zeichen dafür, dass die Beziehung Unterstützung braucht. In diesem Fall sollte eine Therapie dem Mann helfen, den Schmerz ihrer Beziehung zu spüren. Dies wird wahrscheinlich dazu führen, dass Verletzungen aus alten Beziehungen zutage treten, die er hütet, ohne sie zu berühren.
Auch Kinder sind oft nicht in der Lage, ihr psychisches Leiden wahrzunehmen und auszudrücken, wenn die Beziehungen leiden, von denen sie ein Teil sind. Sie können nicht sagen: »Ich leide.« Stattdessen manifestieren sich physische Störungen oder Lernschwierigkeiten in der Schule, Hyperaktivität oder Aggressionen gegenüber ihren Kameraden. Wenn jedoch jemand, der wahrnehmen kann, was an der Kontaktgrenze passiert, mit dem Kind (oder der Familie) in Kontakt kommt, wird er/sie das Leiden empfinden, das die Beziehung belastet. Psychopathologie kann als subjektiver Schmerz wahrgenommen werden, z. B. wenn Angst oder Melancholie uns erfassen. Sie kann jedoch auch ein Leiden sein, das nur von anderen wahrgenommen wird – wenn die Pathologie (das Leiden) eben darin besteht, dass ein Individuum Schmerz nicht wahrnehmen kann (wie bei gewalttätigen Menschen). Es ist paradox, doch in diesem Fall zielt die Unterstützung darauf ab, der Person dabei zu helfen, Schmerz zu spüren. Sich des Leidens einer Beziehung bewusst zu werden ist ein Heilmittel an sich.
Der Perspektivwechsel zugunsten einer im Wesentlichen beziehungsbasierten Sicht der Psychopathologie wirft ein neues Licht auf den Schmerz und auf die Beziehung zwischen Schmerz und Leid. Wenn der Schmerz in einer Beziehung nicht ausreichend Unterstützung bekommt, wird er unbewusst und dadurch selbstzerstörerisch. Er wird zum Leid.
2. Der/die »Dritte« als Komponente von Beziehung
Um psychopathologisches Erleben zu verstehen, reicht es nicht, allein das Individuum oder die duale Beziehung als Bezugsgröße zu betrachten. Eine Beziehung besteht nie nur aus zwei Menschen – es spielen immer auch externe Einflüsse hinein (Spagnuolo Lobb / Salonia 1986; Fivaz-Depeursinge / Corboz-Warnery 1999; Irigaray 2002; Salonia 2005b; Spagnuolo-Lobb 2008b). Unsere Feldtheorie impliziert bereits das Vorhandensein eines Hintergrunds, der der Figur Bedeutung verleiht: In verschiedenen Situationen können unterschiedliche Figuren aus dem Hintergrund hervortreten, die die jeweilige Beziehung verankern und ihr Bedeutung verleihen. Wir können diese Figuren, deren Funktion darin besteht, die Beziehung im größeren Feld zu verankern, als Dritte bezeichnen.
So fungiert die SupervisorIn in der klinischen Arbeit als wichtige Dritte. In einer Supervisionsgruppe berichtet uns eine Kollegin, wie schwierig ihre Arbeit mit einem Patienten mit einem narzisstischen Leiden ist: Sie fühlt sich oft unfähig und erniedrigt, sie ist »nie genug für ihn«. In solchen Momenten hilft es ihr, an die Unterstützung durch die SupervisorIn und die Gruppe zu denken. Dadurch kann sie sich erden und sich in Erinnerung rufen, dass ihre Gefühle zum Feld gehören und keine »absoluten Definitionen« ihrer selbst sind. Auf diese Weise kann sie atmen und beim Patienten bleiben.
Hier kommt der Gruppe die Rolle des Dritten zu: Sie verleiht der therapeutischen Beziehung Hintergrund und Bedeutung. Ein anderer Kollege beschreibt seine Gefühle zu seiner Patientin: Er wollte schon seit mindestens zwei Monaten über diese Therapie sprechen, doch er schämt sich wegen dieser Beziehung. Er glaubt, dass er dabei ist, sich in seine Patientin zu verlieben. Er ist sich der Risiken bewusst und genießt diese Gefühle gleichzeitig: Er möchte ihr helfen und sie retten und irgendwie ist er der Meinung, dass die Gruppe ihre Bedürfnisse nicht richtig versteht. Diese Eröffnung fördert viele wichtige Aspekte über die Patientin, den Therapeuten und die Gruppe zutage und bietet einen guten und soliden Hintergrund zur Fortsetzung der Therapie. Einer dieser Aspekte ist das Bewusstsein, dass seine Liebe zu der Patientin ein gesundes und großzügiges Gefühl ist, das ihre Beziehung unterstützen kann. Er muss nur die Gruppe mit im therapeutischen Raum behalten. Er muss dies nicht bewusst tun, es reicht, dass er seine Patientin mit ins größere Feld hineingebracht hat, dass er Unterstützung und Anerkennung für seine Gefühle und ihre Bedürfnisse erhalten hat und dass er den Kontakt zwischen der Therapie und der Gruppe hält. Die Gruppe dient als Dritte, die »Verrücktheiten« in der dualen Beziehung verhindert. Falls der Kollege während oder nach der Sitzung Schwierigkeiten hat, kann er sich fragen: »Was würden die SupervisorIn oder die Gruppe sagen, wenn sie jetzt hier wären?« Eine solche Frage kann ihn in dieser Phase der Therapie unterstützen.
Ein weiteres Beispiel zur Veranschaulichung: Eine Familie, in der sexueller Missbrauch stattfindet, wird vom Sozialamt zur Therapie geschickt, weil die kleine Tochter an schweren Angstsymptomen leidet. Zwei TherapeutInnen beginnen, mit der Familie zu arbeiten. In der Supervision berichten sie, dass während der Sitzungen nichts aufs Tapet kommt, was nach klassischen Diagnosekriterien als »pathologisch« gelten würde. Gleichzeitig vermittelt ihnen die bloße Anwesenheit in dieser Familie – mit der sie als Dritte in Kontakt treten – ein schmutziges Gefühl, ein fast unerträgliches Gefühl, Teil eins Spinnennetzes zu sein. Sie fungieren als Dritte, die das Leiden der Beziehungen in dieser Familie spüren können.
Psychopathologie ist also nicht immer eine Frage der subjektiven Gefühle der unmittelbar Betroffenen. Wir sollten uns immer die Frage stellen: »Was würde ein(e) Dritte(r) an der Kontaktgrenze wahrnehmen?« Ein Mensch, der an der Kontaktgrenze einer leidenden Beziehung steht, würde Schmerz oder Verzweiflung fühlen. Vom allgemeinen und vom gesellschaftlichen Standpunkt betrachtet, ist immer ein(e) Dritte(r) anwesend (Bruni 2007; Cavarero 2007; Žižek 2002): Die Gesellschaft, die Menschen rund um die Beziehung, die Menschheit als Ganzes. Welche Auswirkungen hat die Beziehung auf sie? Was könnten sie verlieren? Und wie und in welchem Ausmaß trägt das, was geschieht, dazu bei, dass eine gewisse Form der »Blindheit« in der Gesellschaft und bei den Menschen rund um die Beziehung eintritt?
So gesehen fallen Folter, Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Schmerzen oder den Schmerzen anderer, Herrschaft über andere und das Nicht-Zuhören in den Bereich der Psychopathologie, genauso wie Angst und Depression. In all diesen Fällen leiden Beziehungen. Diese triadische Perspektive ist wesentlich bei der Wahrnehmung von Verzweiflung und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Unterstützung zu bieten. Die Anwesenheit des/der »Dritten« (Lévinas), des/der »anderen Anderen« (Derrida) in Beziehungen ist auch eine ethische Frage, die die Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung menschlichen Lebens berührt. Dies war im letzten Jahrhundert und ist noch heute ein bedeutendes philosophisches Thema,8 das auch andere Disziplinen wie die Soziologie, die Anthropologie, die Politik und die Psychologie berührt und einen neuen Zugang zu ihnen eröffnet.
Dort, wo psychopathologisches Leiden am schlimmsten ist – wenn es um Fragmentierung und die Nicht-Grenze zwischen dem Individuum und der Welt geht, wie es bei einer Psychose der Fall ist –, ist es wichtig, dass die TherapeutIn die Beschaffenheit des/ der Dritten unterstützt, indem sie selbst als Hintergrund fungiert. So erzählt mir zum Beispiel ein Patient von seinem Wahn: Er wird von einem Geheimdienst ausspioniert, der heimlich und unablässig überprüft, ob er für eine Zusammenarbeit mit ihm geeignet ist. Die TherapeutIn kann mit ihm nicht über diese unstrittige Figur sprechen: Daraus würde sich sofort ein Kampf zwischen seiner Definition von Realität und jener der TherapeutIn ergeben und implizit seine Verrücktheit und die geistige Gesundheit der TherapeutIn bestätigen.
Die TherapeutIn muss als Hintergrund fungieren, vor dem sich diese Figur herausbilden kann, muss abwarten und nach der Bedeutung suchen, die dieses Leiden transportiert. Sie ist der Hintergrund – in dem Sinne, dass sie die Grundbedingungen der Situation aufrechterhält, die in einem psychotischen Feld beinahe verloren gehen: Sie atmet weiter, sitzt weiterhin in ihrem Stuhl, fühlt weiterhin die Energie fließen, nimmt den Boden und den Raum zwischen ihnen wahr und hofft weiterhin auf das Auftauchen einer gemeinsamen Bedeutung. Sie spürt den Hintergrund und verliert ihn nicht und schafft so den Hintergrund für den Patienten und die Beziehung. Sie muss darauf vertrauen, dass auch in einem solchen Zustand eine Kontaktintentionalität existiert, die sich herausbilden will. Dadurch übernimmt sie in der Beziehung die Rolle einer Dritten, einer Umgebung, die die Beziehung aufnehmen kann, und für die Beziehung die grundlegenden existenziellen Raum-Zeit-Koordinaten schafft. In dieser Umgebung können archaische und unterbrochene Intentionalitäten wieder in Erscheinung treten und einen Weg finden, einen gesünderen Kontakt zum Therapeuten / zur Therapeutin aufzubauen.
Manchmal erscheint alles so erstarrt, dass sogar das Atmen wie eine übermächtige Aufgabe erscheint. Es ist wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Entwicklung archaischer – verrückter und bruchstückhafter – Beziehungen fördert (die den Punkt der Ich/Du-Trennung meist nicht erreicht haben). Die TherapeutIn muss verfügbar sein, um dieses Feld zu fühlen, zu ertragen, Hintergrund zu schaffen und sich in gewisser Weise von diesem Feld anstecken lassen, ohne dem Wunsch nachzugeben, ihre Definition von Realität zu bestätigen (Benedetti 1992; Stolorow et al. 1999). In dieser Phase ist die Beziehung voll von seelischem Schmerz und Projektionen: Die TherapeutIn muss in dieser Atmosphäre verweilen, muss den Hintergrund für dieses Phänomen bilden, ohne sich zu verlieren, und darauf vertrauen, dass sich der Nebel und die Dunkelheit durch ihre Anwesenheit langsam lichten. In diesem Prozess wird sich die PatientIn definieren und in der therapeutischen Beziehung verwurzeln.
Erst in einem späteren Stadium ist eine Veränderung der Therapie möglich, sodass die therapeutische Beziehung im Hier und Jetzt Figur und Fokus der Arbeit werden kann. In diesem Moment kann die PatientIn beginnen, die TherapeutIn als Andere wahrzunehmen. Und erst jetzt kann die TherapeutIn die Beziehung auf einem/r »externen« Dritten ruhen lassen, der/die immer als der Hintergrund, Horizont und Bezugsrahmen da ist. Die TherapeutIn muss nicht länger den Hintergrund für die Beziehung schaffen.
Langsam und unter großen Anstrengungen ist aus diesem Hintergrund ein gemeinsames beständiges Erbe geworden, das bewahrend und begründend ist. Ein wichtiges diagnostisches Element liegt also in dem überwältigenden Bedürfnis nach der Anwesenheit eines/r Dritten als Bezugsrahmen, der verhindert, dass man verrückt wird, und das Sein in einer Welt legitimiert, die man als neu und ohne Sicherheiten wahrnimmt. In einem psychotischen Feld zeigt nicht nur die PatientIn ein immenses Bedürfnis nach Unterstützung, sondern auch die therapeutische Beziehung: Wenn es nicht genügend Unterstützung gibt, ist Konfluenz mit dem Patienten im Widerstand gegen den Kontext nur eines der Risiken. Die TherapeutIn kann sich blindlings verpflichtet fühlen, die PatientIn trotz und wider die Beschränkungen durch das Gesundheitssystem, die Familie und die Gesellschaft zu retten. Das starke Bedürfnis nach einem/r Dritten kann ein Hinweis auf den psychopathologischen Schweregrad sein. Es deutet auf das Ausmaß hin, in dem das Kontakterleben von der Welt, die man gemeinhin als selbstverständlich hinnimmt, entwurzelt ist, entwurzelt von dem Hintergrund durch integrierte Kontakte.
Wir müssen in Erwägung ziehen, dass diese(r) Dritte nicht nur Teil der Therapie, sondern auch der Psychopathologie ist. So kann die Behandlung bei den meisten schweren Störungen schwierig sein, nicht, weil es kein Heilmittel gibt, sondern weil das Umfeld (von der Familie bis hin zur Gesellschaft) grundlegend verändert werden müsste, was oft nicht im Rahmen des Möglichen ist. Manchmal können die Fortschritte der PatientIn zwar zu einer gesünderen Beziehung mit der TherapeutIn führen, ohne dass sich jedoch außerhalb des therapeutischen Settings etwas ändert. Wie schon die Begründer der Gestalttherapie aufgezeigt haben, ist es nicht nur die PatientIn, die sich verändern »muss«, in vielen Fällen ist es die Familie und/oder der soziale Kontext, die »krank« sind.
Eine folie à deux – eine Konfluenz, in der zwei Menschen denselben Wahn und dasselbe psychotische Feld teilen – kann als duale Beziehung verstanden werden, in der der/die Dritte (das Beziehungsnetzwerk, die Arbeitsgruppe, der Kontext) keine Unterstützung bietet. In diesem Fall fehlt die Bewusstheit für die Notwendigkeit einer Verankerung durch eine/n Dritten. Wie bereits erwähnt läuft sogar die therapeutische Beziehung Gefahr, sich in einer konfluenten »gemeinsamen Verrücktheit« zu verlieren. So kann eine Art isolierter Raum-Zeit entstehen, die vom größeren Feld abgeschnitten ist. Die Gründe dafür können in der Beziehungsgeschichte der PatientIn, den Grenzen der TherapeutIn oder den zu schwachen Grenzen des Kontextes (des/r Dritten) liegen. Diese drei Komponenten sind natürlich nicht voneinander zu trennen, es kann jedoch nützlich sein, sie getrennt voneinander zu betrachten, vor allem, um die Bedeutung der dritten Komponente hervorzuheben. Bei den Grenzen des Kontexts müssen wir auch die Tatsache berücksichtigen, dass jede Gesellschaft für sich definiert, was normal ist und was nicht, welche Symptome kuriert und welche Verhaltensweisen verändert werden sollten (siehe Kapitel 10).