Kitabı oku: «Gestalttherapie mit Kindern und Jugendlichen», sayfa 9
Das Kind im Vordergrund
Ich vermittle dem Kind, dass es in seinem Sein und Tun willkommen ist. Bei der Kontaktaufnahme gehe ich, wie mit jeglicher anderen Altersgruppe, äußerst respektvoll um. Zu einer Berührung kommt es nur, wenn ich ein Einverständnis durch Signale vom Baby erhalte. Die Grenzen des Kindes zu akzeptieren, ist selbstverständlich.
Neben dem Hören gilt es, die Körpersprache und den emotionalen Ausdruck des Kindes zu erfassen. Bei der direkten Rede an das Baby achte ich, wie im Gespräch mit der Mutter, auf Respekt und Verständnis und ich bleibe sprachlich auf der Erwachsenenebene. Wenn ich meinen Eindruck vom gezeigten Verhalten des Kindes, von seiner Gestik und Mimik, einfühlsam versprachliche, also meine Interpretation in direkter Rede an das Kind richte, so kann ich auch indirekt eine Botschaft an die Mutter senden.
Wenn ich zum Beispiel weiß, dass die Bezugsperson ein kindliches Explorationsverhalten (wie ein Zerreißen eines Blatt Papiers oder ein In-den-Mund-Stecken) als mutwilliges Zerstören ansieht, so kann ich mich bei einem nächsten Entdeckungsspiel direkt an das Kind wenden und seine Entdeckungslust anerkennend in Worte fassen: »Ja, jetzt findest du gerade heraus, dass Papier zerreißen kann, und du merkst, dass du das auch zusammenknüllen kannst; da entdeckst du gerade etwas Neues, gut machst du das!«
So kann durch dieses Vermittlungsgeschehen die Einfühlung der Eltern gefördert und mit dem Erleben des Kindes verbunden werden. Und ich sende immer wieder die Botschaft an das Kind, dass ich es verstehe und unterstütze.
Die Interaktion im Vordergrund
Eine Schlüsselfunktion nimmt hier die Awareness ein. Ich bringe meine gestalttherapeutisch geschulte Achtsamkeit ein, um vorerst eine Orientierung bezüglich des Kontakt- und Kommunikationsverhaltens zwischen Mutter und Kind zu erhalten.
Das bedeutet im Laufe einer therapeutischen Sitzung, z. B. während der Interaktionen bei Wickeln, Füttern, Stillen oder Spielen, dass ich sensibilisiert bin, zu achten:
• Auf die allgemeine Interaktionsbereitschaft, auf den Blickkontakt bzw. Blickvermeidung, die Vokalisation (Stimmlage, Sprechtempo, Lautstärke)
• Kommen negative Äußerungen in Inhalt und Ton vor, kommt es zu stimmlicher und mimischer Nachahmung?
• Findet ein interaktives Spielen statt (Berührungsspiele, Zeigen von Spielzeug, Vormachen der Mimik/Vokalisation)
• Auf welche Art und wie häufig wird das Baby stimuliert? Wie wird der Körperkontakt (Berührungen, Bewegungen, Position) gestaltet, wird z.B. das eigene Gesicht im zentralen Blickfeld gezeigt und wo sieht das Baby hin?
• Habe ich den Eindruck von Echtheit, werden Gefühle, positive, wie negative, eindeutig gezeigt oder drückt es sich in »Pseudoverhalten« aus (pseudogeduldig z.B., foppend/hänselnd/drangsalierendes Verhalten oder Benennung mit unfreundlichen Kosenamen wie »so ein Depperl«, »Hosenscheißer«, »mein Angsthase«)?
• Zu welcher Resonanz kommt es bei dem Zusammenspiel von Inhalt, Ton und Ausdruck?
• u. v. m.
Bei all diesem Erleben meinerseits auf phänomenologischer, emotionaler, sensomotorischer Ebene und Beziehungsebene geht es um die auf Klientenseite nicht bewusst gesteuerte Synchronie, Responsivität, Reziprozität (Fähigkeit zur Ursache-Wirkungsinteraktion), Kontingenz und den wechselseitigen Einfluss aff ektiven Ausdrucks.
Ziel ist daher, ein neues Gewahrsein auf Seiten der Mutter zu erreichen. Denn sind die Mechanismen der Kontaktunterbrechung oder einer Kontaktprozess-Schwächung in ihr Bewusstsein gelangt, so reguliert sich das Miteinander in der Folge von selbst (diese Aussage beziehe ich wiederum auf den Hauptanteil meiner Eltern-Kleinkindtherapie-Klienten, die nur leichte Störungen ihrer Ich-, Es- und Persönlichkeitsfunktionen6 zeigen). Babys reagieren immer darauf, wenn sich das Kontaktfeld der Mutter verändert. Eine energetische und emotionale Öffnung wird dann möglich und sein Organismus kann zu einer bioenergetischen Selbstregulation zurückkehren (vgl. Reich 1999).
Durch ein Baby-Awareness-Training (Schulung der Aufmerksamkeit auf die individuellen Signale des Kindes) und die Feedback-Erfahrung (richtige Interpretation der wahrgenommenen Signale) im Hier und Jetzt der Therapie wird das elterliche Sicherheitsgefühl bestärkt, durch ein neu entwickeltes Gewahrsein wird adäquate elterliche Responsivität7, die für die Selbstentwicklung des Kindes so wichtig ist, möglich bzw. gefördert.
Fallvignette
Es folgt zur Verdeutlichung ein beispielhaft zusammengefasster Therapiebericht von Aylin8, einem damals 16 Monate alten Mädchen aus dem türkischen Kulturkreis.
Laut Auskunft Ihrer Mutter, Frau D., die über die Empfehlung ihrer Kinderärztin zu mir findet, äße Aylin viel zu wenig. Sie könne das Kind nur füttern, wenn es durch Fernsehen oder Spielsachen abgelenkt sei. Die Mutter (19 Jahre alt), der Vater (21 Jahre alt), beide in Wien geboren, seien sehr beunruhigt, weil die Tochter »so wenig esse« und machten sich Sorgen um ihre physische und psychische Gesundheit.
Beide Herkunftsfamilien nehmen regen Anteil an der Erziehung und Pflege des Kindes. Das zeigt sich auch an den wechselnden Familienmitgliedern, die Fr. D. zu unseren Terminen begleiten.
Aylin ist, von der Kinderärztin abgeklärt, in gutem Gesundheitszustand. Sie ist ein blasses, zartes, sehr schlankes Kleinkind, liegt mit ihrem Körpergewicht jedoch im Normbereich (15. Perzentile). Sie hat schöne große dunkle Augen, die wenig Blickkontakt halten; im Raum und mit Spielsachen exploriert sie wenig, zeigt sich aber auch nicht schüchtern oder ängstlich. Der immer wieder gesuchte Körperkontakt zur Mutter ist altersentsprechend. Mein erster Eindruck ist, dass sie wenig Selbstkontakt hat, genau wie die hübsche, ebenso zarte Mutter. Auf beiden scheint ein enormer Druck zu lasten. Die Großeltern väterlicherseits, deren Meinung absolut zu respektieren ist, sind überzeugt, dass Aylin zu mager und die junge Mutter zu nachlässig sei. Frau D. tue ihr Möglichstes, um Aylin »zu stopfen« und ist dabei kaum mehr im Kontakt mit ihrer Tochter und mit sich selbst. Weder Aylin noch ihre Mutter haben die Möglichkeit, ihre Bedürfnisse ausreichend wahrzunehmen. Der junge Vater vertritt die Meinung seiner Eltern und konzentriert sich nur mehr auf die Essmengen seiner Tochter. Frau D. erzählt exemplarisch: »Kaum kommt er von der Arbeit heim, fragt er mich sofort, ohne Begrüßung, wie viel sie gegessen hat.«
Auch hier sind anfangs Körper- und Zentrierungsübungen der Schlüssel zu einem neuen Zugang. Durch die einfache Strukturiertheit der Kindesmutter ist Reflexion nur bedingt möglich und durch die strikten ethnischfamilialen Regeln, denen sie unterliegt, ist Wachstum erschwert/begrenzt. Aber die Zugewandtheit, der Kontakt zwischen Mutter und Tochter, verändert sich durch ganz basale Übungen. Auch schon dadurch, dass ich begleitende Familienmitglieder bitte, im Vorraum zu warten, ist das Signal für alle deutlich, dass es hier um die Mutter-Kind-Einheit geht, um deren Autonomie. Beide können dadurch ihre Kontaktgrenzen unter neuen Voraussetzungen spüren/erfahren.
Meine Frage, was die Mutter von ihrer Kindheit im gleichen Alter um die 16 Monate noch weiß, führt zu Parallelen zwischen Mutter und Tochter und der Erkenntnis, dass es sehr zarte Kleinkinder gibt, die trotzdem gesund und glücklich sind und gut gedeihen – die Mutter selbst ist der lebende Beweis. Das Wissen also, das sie in sich trägt, tritt deutlich in ihr Bewusstsein und stärkt ihre Intuition, wie sie als Hauptzuständige mit dem Essverhalten ihrer Tochter umgehen will.
In der zweiten Stunde nehmen wir uns Zeit für Essen und Spielen, wobei ich für Frau D. den Fokus weg von der Nahrungsmenge hin zum Wie der Nahrungsaufnahme lenke: Was macht Aylin mit dem Brei, mit den Apfelstückchen, mit dem Stück Brot? Was glaubt die Mutter, was ihr Kind jetzt und hier damit machen will? Was darf Aylin mit dem Essen zu Hause oder bei den Schwiegereltern sonst noch machen? Ist eine spielerische Herangehensweise an die Speisen möglich, erlaubt oder verboten? Wo und wie werden kindliche Explorationsbedürfnisse unterbrochen und frustriert? Ich habe den Eindruck, die Mutter kann hier den beratenden Teil (Kinder in Aylins Alter machen das so, brauchen das so, zeigen ihr Interesse so …) gut annehmen und die vielen kleinen Kontaktunterbrechungen (zwischen Mutter und Kind und Kind und Nahrung) während einer Füttersequenz wahrnehmen.
Nach der vierten Stunde kommt es zu einer Therapiepause durch den Aufenthalt bei Aylins Urgroßmutter in der Türkei, nur Mutter und Kind, ohne Vater und dessen Familie, und dies bringt große Veränderung: Aylin isst selbstständig und interessiert und Mengen, die die Mutter beruhigen. Der Teufelskreis scheint durchbrochen.
Nach der Rückkehr nach Wien erhalte ich zuerst ein freudiges Mail, ein paar Tage später eines mit dem Titel »Hilfe, meine Tochter macht mich verrückt«. Ein weiterer Termin bei mir soll bald stattfinden, es sei alles wieder beim alten. Wir beginnen von neuem, wobei Gewahrseins-Übungen jetzt Vergleiche einbeziehen können: Wie ist es hier, wie war es in der Türkei bei ihrer »Anneanne« (Oma)? Wie hat sich unter welchen Umständen die Mutter gefühlt, wie die Tochter? Wie hat Aylin agiert/reagiert? Frau D. wird immer klarer, was die Meinung und der Druck des familiären Umfeldes ausmachen. Und sie kommt zu ihrem Gefühl, wie sehr sie die Zweisamkeit mit ihrem Mann vermisst. In der Folge sprechen wir Support-Möglichkeiten durch: Wie ist Schritt für Schritt Autonomie zu erreichen, einerseits als Paar und andererseits als Eltern?
Die Stunden, die wir gemeinsam arbeiten, verbessern Gewahrsein, Bewusstheit und Handlungsfähigkeit, auch wenn Frau D. immer wieder berichtet, dass sie sich gegen die Vorstellungen der väterlichen Familie nicht endgültig durchsetzen kann. Zu Therapieende (vier Stunden vor ihrer Türkeireise und vier Stunden danach) sind teils bescheidene, teils deutliche Veränderungen in Richtung Wachstum und Emanzipation zu bemerke. Frau D. hat z. B. eingeführt, ihre Tochter zu ihren Freundinnen mitzunehmen, zuvor sollte das Kind immer bei den Großeltern bleiben, wenn die junge Mutter das Haus verlässt. Sie führt Gespräche mit ihrem Mann, fordert ein, dass er sein Vertrauen ihr gegenüber bei seiner Familie deutlich macht und damit neu festgelegt ist, dass die Verantwortung für Aylins Ernährung nur bei Frau D. liegen soll. Sie initiiert auch, dass die jungen Eltern wieder etwas gemeinsam als Paar unternehmen (wobei die Großeltern gerne Babysitter sind). Und die Zeit zu dritt kann phasenweise unbeschwerter genossen werden. Intuitionsgestärkt geht Frau D. feinfühliger mit den Bedürfnissen ihrer Tochter um, Verweigerungen bei der Nahrungsaufnahme können besser akzeptiert werden, ohne in einen Angst- und Stresskreislauf zu kommen.
Auf Wunsch der Mutter vereinbaren wir keine weiteren Termine, sie würde sich bei Bedarf melden. Von der behandelnden Kinderärztin erhalte ich (mit Zustimmung von Frau D.) ein knappes Jahr später die Rückmeldung, dass derzeit der Umgang mit Trotz und dem Setzen von Grenzen zwar fordernd für die Mutter sei, sich rund um das Thema Essen die Situation aber weiter entspannt habe und nicht mehr Teil eines familiären Machtkampfes sei.
Abschließende Bemerkung
Mittlerweile ist die präventive Wirkung früher psychotherapeutischer Interventionen für eine bestmögliche (emotionale, kognitive und somatische) Entwicklung eines Kindes mehrfach wissenschaftlich belegt (z. B. Brisch, 1998; Fonagy et al. 2004; Papousek et al., 2004; Schmücker et al., 2005).
Es konnte durch Studien aufgezeigt werden, dass sicher gebundene Kinder, jene also, die eine innere Kontaktsicherheit erlangt haben, besser und differenzierter Notsituationen bewältigen können, mehr freundschaftliche Beziehungen aufbauen und ihrer Partnerin/ihrem Partner häufiger eine emotionale Verfügbarkeit bieten. An Konflikte gehen sie konstruktiver, sozialer und weniger aggressiv heran. Im kognitiven Bereich entwickeln sich diese Kinder differenzierter, kreativer und ausdauernder. Im Lernverhalten und bei Gedächtnisleistungen schneiden sie besser ab. Auch in der Sprachentwicklung kommt es bei den untersuchten Kleinkindern zu weniger Störungen (vgl. Dieter et al. 2005; Klann-Delius 2002; in Brisch 2007).
Im Gegensatz dazu führen Bindungsstörungen und unsichere innere Kontaktmodelle zu einer verlangsamten kindlichen Entwicklung, zu erheblichen Irritationen bis zu psychopathologischen Auffälligkeiten (vgl. Zeanah & Emde 1994).
Es ist zu wünschen, dass eine möglichst frühe Inanspruchnahme psychotherapeutischer Intervention selbstverständlich wird und Zugangsmöglichkeiten so niederschwellig wie möglich angeboten werden9. Dadurch kann bei kleineren Irritationen des Eltern-Kind-Feldes die Selbstunterstützungsfähigkeit so rasch als möglich aktiviert und eine Chronifizierung (in Richtung Kontaktstörung) verhindert werden bzw. bei Vorliegen traumatischer Vorerfahrungen der Teufelskreis der Weitergabe von einer Generation zur nächsten durchbrochen werden.
Thomas Schön
Der Blick auf Kindheit aus gestalttherapeutischer Sicht
Was ein Kind braucht
Wenn ein Kind geboren ist,
braucht es eine Wohnung,
Kleider, eine Spielzeugkist,
Bonbons als Belohnung,
Murmeln und ein eigenes Bett,
einen Kindergarten,
Bücher und ein Schaukelbrett,
Tiere aller Art,
Wälder, Wiesen, eine Stadt,
Sommer, Regen, Winter,
Flieger, Schiffe und ein Rad,
viele andre Kinder,
einen Mann, der Arbeit hat,
eine kluge Mutter,
Länder, wo es Frieden hat
und auch Brot und Butter.
Wenn ein Kind nichts davon hat
kann’s nicht menschlich werden.
Daß ein Kind das alles hat,
sind wir auf der Erden.
(Maiwald, 1983)
Die Geschichte der Kindheit
»Früher brauchte man ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, so lautet ein afrikanisches Sprichwort. Und heute? Was brauchen wir heute, wo kaum noch dörfliche Strukturen in Mitteleuropa vorhanden sind und Kindheit sich radikal unterscheidet von dem, was früher Kindheit war? Kindheit hat sich gewandelt im Laufe der Jahrhunderte und wandelt sich noch immer in einem Tempo, das es schwer macht, sie überhaupt zu fassen und zu beschreiben. Weltweit unterscheidet sich Kindheit sehr stark, je nachdem wo Kinder heranwachsen. Selbst in Europa gibt es große Unterschiede. Kinder in Österreich etwa finden ganz andere Lebensbedingungen vor als Kinder in Moldawien. Dabei gibt es Kindheit in der Menschheitsgeschichte erst seit vergleichsweise kurzer Zeit. Kindheit ist eine Erfindung des europäischen 17. Jahrhunderts (vgl. Böhme 1985). Seit dieser Zeit gilt Kindheit als eigenständige Lebensform, seitdem gibt es speziell für Kinder produziertes Spielzeug und eine eigene Kinder- und Jugendliteratur. Wir gehen heute davon aus, dass Kindheit – vor allem frühe Kindheit – den Menschen in seiner weiteren Entwicklung maßgeblich prägt. Diese Einschätzung war nicht immer so. Kindheit wurde lange Zeit als wertlos betrachtet und Kinder als unfertige Erwachsene gesehen. Ein Kinderleben galt nicht viel bis ins Mittelalter, abgesehen von adeliger Heiratspolitik, die Kinder verdinglichte im Dienste der Machterhaltung von Herrscherhäusern. In dieser Zeit lebten die meisten Familien in einem gemeinsamen Raum. Kinder waren unmittelbar mit den Lebensabläufen der Zeugung, des Gebärens und des Sterbens konfrontiert. Als Siebenjährige wurden Kinder in gehobenen sozialen Schichten an befreundete Familien zum Dienen geschickt. Die meisten Kinder blieben jedoch als Arbeitskräfte in ihren eigenen Familien oder trugen zum Familienunterhalt bei, was bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Fünfj ährige mussten bereits in Fabriken arbeiten, manche bis zu vierzehn Stunden. Sie wurden für schwierigste Tätigkeiten herangezogen. Schlanke Buben wurden etwa gezwungen, den Ruß aus Kaminen herauszukratzen. 1813 war die Hälft e der englischen Weber Kinder unter 14 Jahren. Die Kindersterblichkeit war enorm. Noch im 18. Jahrhundert erreichte kaum die Hälfte der Kinder das 8. Lebensjahr. Aries und andere Historiker gehen davon aus, dass Eltern aus diesem Grund keine tieferen Bindungen zu ihren Kindern entwickelten, da die begründete Sorge bestand, sie würden ohnehin nicht lange leben. Trotzdem entwickelten Eltern eine hohe Anteilnahme an ihren Kindern und waren nicht gleichgültig, was eine Auswertung von 500 Tagebüchern und Autobiografien von 1500 – 1900 zeigt (vgl. Böhme 1985, 274).
Rousseau markierte 1762 mit »Emile oder über die Erziehung« einen ersten Wendepunkt in der Einstellung Kindern gegenüber. Die körperliche Misshandlung von Kindern und Prügel waren über Jahrtausende die Regel und so schreibt Rousseau über ein eigenes Kindheitserlebnis körperlicher Gewalterfahrung:
»… die gleiche Züchtigung wurde …verhängt. Sie war schrecklich. Wenn man das Heilmittel mit dem Übel selbst suchen und meine verderbten Sinne hätte ein für allemal abtöten wollen, hätte man es nicht besser anstellen können … Mehrere male vorgenommen und furchtbar misshandelt, war ich unerschütterlich. Ich war entschlossen, sogar den Tod auf mich zu nehmen. Selbst die Gewalt musste dem teuflischen Starrsinn eines Kindes weichen, denn nicht anders nannte man meine Festigkeit. Endlich entrann ich aus dieser grausamen Prüfung, zerfetzt, aber triumphierend … Man denke sich einen im gewöhnlichen Leben schüchternen und lenksamen, aber feurigen, stolzen und in seinen Leidenschaften unzähmbaren Charakter, ein stets von der Stimme der Vernunft geleitetes, stets mit Sanftmut, Billigkeit und Freundlichkeit behandeltes Kind, das nicht einmal einen Begriff von der Ungerechtigkeit hatte und nun zum ersten mal eine so schreckliche von denjenigen Menschen erfährt, die es liebt und am meisten achtet. Welch ein Umsturz der Begriffe! Welche Verwirrung der Gefühle! Welche Umwälzung in seinem Herzen, in seinem Hirn, in seinem ganzen kindlichen Geistes- und Seelenleben! … Noch jetzt, während ich das schreibe, fühle ich meinen Puls schneller schlagen … Damit hatte die Heiterkeit meiner Kindheit ein Ende. Von diesem Augenblick an hörte ich auf, ein reines Glück zu genießen, und ich fühle selbst heute, dass die Erinnerung an die Reize meiner Kindheit hier enden.« (Voß, 1979, 31-33)
Rousseau schildert das Erleiden von körperlicher Gewalt unter dem Vorwand erzieherischer Maßnahmen. Die Entfremdung von den so geliebten Erziehungspersonen ist die Folge. Aus heutiger Sicht würden wir von »man-made Traumatisierung« durch wichtige Bezugspersonen sprechen, was zu einer nachhaltigen Traumatisierung führen kann (vgl. Schön, 2009).
Historiker, die sich mit Kindheit beschäftigen, sind sich nicht einig, ob Kinder in familiärer Geborgenheit aufwuchsen oder nicht. Während Aries von dieser Geborgenheit zumindest bis zum Ende des 15. Jahrhunderts ausgeht, widerspricht DeMause, wenn er postuliert: »Die Geschichte der Kindheit ist wie ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, je unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden.« (Hardt/Hoff mann 2006, 278) Emotionale Geborgenheit dürfte seiner Einschätzung nach eher die Ausnahme als die Regel gewesen sein.
Auf den ersten Blick scheint Kindheit in westlichen Industriegesellschaften heute glücklicher, unbeschwerter zu sein, weniger von Belastungen und Entbehrungen gezeichnet. Aber eben nur auf den ersten Blick: Es wird von einer kommerzialisierten Kindheit gesprochen (vgl. Die Zeit 2009/18), einer Verkürzung, ja einem Ausverkauf der Kindheit (vgl. Die Zeit 2011/37). Die Kinder seien umzingelt von Spielsachen, traditionelles Spielzeug wird ab dem 6. Lebensjahr immer stärker von Videospielen und neuen Medien verdrängt. Ab dem Alter von 12 Jahren verbringen sowohl Buben wie auch Mädchen dreimal so viel Zeit mit Videospielen wie mit traditionellen Spielen. Kinder werden durch die Vermarkter zu frühreifen Erwachsenen erklärt, so wird gar nicht mehr von Kindern gesprochen, sondern von »Kids« (6-9 Jahre), »Pre-Teens« (10-12 Jahre) und »Teens«( ab 13 Jahre und älter). Kindheit wird von der Spielzeugindustrie und Werbung einfach umdefiniert. Eine Beibehaltung der Entwicklungsphasen, wie wir sie von der Entwicklungspsychologie kennen, ist jedoch ratsam. Etwa gilt die Phase der mittleren Kindheit (8-12 Jahre) als besonders wichtig für kreatives Spielen. Kinder bauen ein Gefühl für die eigenen Fähigkeiten auf, sind mit erfolgreichem Problemlösen beschäft igt, lernen kooperativ zu sein und geben schließlich der Welt um sich herum eine Bedeutung. Dies verläuft so im positiven Fall, wenn Kinder genügend angeregt werden, letztlich auch mit geeignetem Spielmaterial. Kinder brauchen nicht noch mehr Spielzeug, das schnell an Aufforderungscharakter verliert und unter einem Stapel anderer Spielzeuge im Regal verkümmert, sondern Dinge, die einladen, neugierig zu sein und etwas herauszufinden. Elschenbroich spricht vom Spiel als dem »Königsweg des Denkens, es ist eine Art von tätigem Tagträumen« (vgl. Die Zeit 2011/37). Kinder brauchen Zeit, um in ihrem Tempo Neues für sich zu erschließen, dann spielen sie wesentlich konzentrierter und gewinnen dadurch auch mehr an Selbstvertrauen. Dies ist es ja, was wir Kindern letztlich wünschen, um in dieser Welt bestehen zu können.
Als Risikofaktoren heutiger Kindheit gelten neben der Kommerzialisierung vor allem der Rückgang emotionaler Bindungen zugunsten kurzlebiger Beziehungen, ferner die Missachtung emotionaler Befindlichkeiten des Kindes bis hin zu massiven Grenzverletzungen. Als besonders schwerwiegend sind hier die Folgen von körperlicher, seelischer und sexueller Misshandlung zu nennen. Eine große amerikanische Studie (vgl. Hardt/Hoff mann 2006, 288) belegt ein doppelt so hohes Risiko für körperliche Krankheiten bei Personen mit mehreren Kindheitsbelastungsfaktoren im Vergleich zu Personen ohne Kindheitsbelastungen. Auch Trennung oder Scheidung der Eltern kann für Kinder massive Auswirkungen haben. Eine britische Längsschnittstudie zeigt etwa eine erhöhte Rate an Depressionen bei Personen, deren Eltern sich während ihrer Kindheit oder Jugend scheiden ließen (ders., 2006, 289). Kindheit scheint ein hochriskantes Unternehmen zu sein und von vielen Wirkfaktoren abhängig.