Kitabı oku: «Grenze als Erfahrung und Diskurs», sayfa 3

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Als Summe des Lebens und Werks seines Autors finden sich in den beiden Romanen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu den hier aufgezeigten Aspekten, die in der Komplexität der Texte unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Auffallend ist, dass der Begriff der Grenze in den beiden Romanen an zentralen Textstellen wörtlich erscheint.

Als Sohn des katholischen Königs von Navarra Anton von Bourbon und der protestantischen Jeanne d’Abret personifiziert Heinrich IV. das heikle Verhältnis der Konfessionen im damaligen Frankreich. Sein Leben ist von zahlreichen Wechseln zwischen katholischem und protestantischem Bekenntnis gezeichnet. Im Roman symbolisiert eine Szene aus der Kindheit Heinrichs antizipierend, wie er schon sehr früh in dieses Spannungsfeld gerät:

[E]inige protestantische Herren erschienen darin und verkündeten, der Admiral Coligny sei im Hause, […]. Der König von Navarra sogar neigte den Kopf vor diesem alten Mann und damit auch vor der Partei, die er führte. […]

Der zweite der Pastoren stimmte einen Choral an. […] Denn wo sangen sie so laut, wo behaupteten sie dreist ihre Sache? Im eigenen Hause der Könige von Frankreich! Sie konnten es wagen, sie wagten es!

Coligny erhob mit beiden Armen den Prinzen von Navarra [Henri] über alle Köpfe, er ließ ihn dort einatmen für sein Leben, was vorging, was diese alle waren. […]

Dies alles waren recht gefährliche Überschreitungen der erlaubten Grenzen, Jeanne sah es nachher von selbst ein, ihr Gatte brauchte sie nicht lange zu warnen.25

Ein merkwürdiger Besucher, der sich am Schluss der Szene als der legendäre Astrologe Nostradamus entpuppt, sieht Heinrich visionär als kommenden König und Einheitsstifter:

Dies ist ein Kind, es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht! sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.

„Er ist es!“ spricht er laut […].26

Die von König Karl IX. angeregte, der Aussöhnung dienende Hochzeit seiner katholischen Schwester mit dem Protestanten Heinrich gerät zu einem spannungsvollen Zusammentreffen zwischen Katholiken und Hugenotten:

[D]ie Katholiken drängten die Protestanten bis gegen die Ränder des Saales. An der unsichtbaren Grenze aber, die um die Königin gezogen war, ballten sie sich selbst zu einem Haufen, der sehr wachsam schien.27

Henri, der die Hände frei bekam, sah sich um. Den Haufen an der unsichtbaren Grenze fand er verändert, nicht mehr nur neugierig oder wachsam.28

Die eigentlichen geografischen Grenzen Frankreichs spielen in den Romanen auch eine Rolle, sie werden häufiger explizit erwähnt, meist im Zusammenhang mit Konflikten, Bedrohungen von außen. Ihre Nennung signalisiert Gefahr und Unruhe: „Schon die Reise an die Grenze hatte etwas von Unordnung.“29 Zugleich wird auf die Differenz zwischen territorialen Grenzen und universellen menschlichen Werten verwiesen: „Der Glaube kannte keine Grenzen von Land und Sprache, und wer für die Wahrheit ist, der ist mein Bruder und Freund.“30

Heinrich wird als guter König geschildert, charakterisiert als Überwinder hergebrachter Grenzen: „Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. Mit Gott, erobern wir’s!“31 oder „Henri hatte niemals so viele Bettler gezählt; seine Lage machte ihn hellsichtig, die Grenze zwischen dem Übermut und Elend wurde auf einmal furchtbar schroff.“32

Auch die Verteidigung seines Reiches impliziert mehr als die Verteidigung der Territorialität, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Grenze wird deutlich:

Eine regelmäßige Mehrheit findet zusammen, sie folgt dem ungewöhnlichen König. Läßt es nicht hierbei, sondern eilt voraus. Wo er auftritt, wird gerufen: „An die Grenze!“ […] An die Grenze, um den Staat zu verteidigen, wie du ihn gemacht hast.33

Am Ende der Vollendung, in der Ansprache des Henri Quatre, „gehalten von einer Wolke herab“, zieht der König selbst posthum – nach seinem letzten Grenzübertritt – Bilanz seines Königtums:

Ein König, den man „groß“ genannt hat – und sicherlich ahnte man nicht, wie treffend der Ausdruck war –, gewahrt zuguterletzt den ewigen Frieden und eine Gesellschaft christlicher Prägung. Womit er die Grenzen seiner Macht und selbst seines Lebens überschreitet. Größe? Aber sie ist nicht von dieser Welt; man muss gelebt haben und dahingeschieden sein.34

Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited

Zur Aktualität literarischer Grenzerfahrung aus dem Exil

Heike Klapdor, Berlin

„Geh’ sein’s fesch und schreiben’s ein zeitloses Zeitstück.“1 Dazu fordert der Direktor den Dramatiker auf im ersten Akt eines Zeitstück[s] in drei Akten. Ödön von Horváth hatte dieses Dramolett Ohne Titel 1933 in einer Sondernummer der Literarischen Welt über das „Theater von heute“ publiziert. Im zweiten Akt fordern ein männlicher und ein weiblicher Star Szenen, in denen sie ihre „Limusinen“ vorfahren können, im dritten findet ein Kritiker das Stück „nicht unbegabt“, aber „zwa Limusinen […] zuviel“. Dem Dramatiker fehlen zu Beginn im Theaterbüro nur noch der Schluss seines Stückes und ein Titel, den Anfang und die Mitte arbeite er gerade um, und eigentlich sei er kein Dichter, sondern ein Politiker, dem die „gräßliche Hungersnot in China“ nicht aus dem Kopf wolle – „Vorhang“. Der mittlerweile erfolgreiche, große, 1931 mit dem Kleistpreis ausgezeichnete Bühnenautor Horváth – die Berliner Theater hatten 1931 die Italienische Nacht und die Geschichten aus dem Wiener Wald und 1932 Kasimir und Karoline herausgebracht – stellte diese kleine, böse Parodie über das zeitgenössische Theater am künstlerischen Abgrund vor den Prospekt seiner theaterästhetischen Konzeption, die er 1932 eine Gebrauchsanweisung nannte: „Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind.“2 Unheimlich ja, aber nicht komisch, war 1933 ein pompös-theatralischer „Vorhang“ vor einem politischen Abgrund aufgegangen. In diesen Abgrund fallen die mit Aufführungsverbot auf deutschen Bühnen belegten Stücke Horváths, Heinz Hilperts Berliner Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung kommt 1933 nicht mehr zustande. Dem Abgrund weicht der Autor Ende 1934 nach Wien aus, 1938, nach dem so genannten Anschluss Österreichs, trifft er nach Stationen in Prag, Zürich, Brüssel und Amsterdam Ende Mai in Paris ein. Hier fällt wenige Tage später am 1. Juni der letzte „Vorhang“ für den 37 Jahre jungen Autor.

Im selben Jahr, 1933, beginnt Horváth die Arbeit an dem vorläufig Die Brücke genannten Stück Hin und her, es markiert ebenso wie Die Unbekannte aus der Seine den Übergang zu seinem Spät- bzw. Exilwerk. Lässt sich diese Komödie, des ironischen Bonmots für das Theater am Ende der Weimarer Republik entkleidet, als „zeitloses Zeitstück“ verstehen? Wäre die Komödie heute mehr als dramatischer Zeitgeist, also das, was Horváth in seinem Dramolett dem Weimarer Theater attestierte? Was wäre ihr ästhetisch-kritisches Potential in einem aktuellen politischen Kontext? Würde es, gegen Heinz Lunzers auf den zeitgeschichtlichen Kontext bezogene Interpretation, der „Aktualität des Themas Heimat- und Staatenlosigkeit“ gerecht?3

Siegfried Kienzle hat Horváths Stück als eine „bewußt zeitlose Kömödie“ bezeichnet, die „Zeitbezüge“ enthalte.4 Es verhandelt laut dem Dramatiker „das Schicksal eines Mannes, der aus einem Staat ausgewiesen […], aber in den Nachbarstaaten nicht eingelassen [wird] und […] nun gezwungen [ist], eine Zeitlang auf der Brücke zu hausen […], die über einen Fluß gelegt ist, der die Grenze zwischen den beiden Staaten darstellt“.5 Eine biographische und eine produktionsästhetische Dimension des zeitgenössisch aktuellen grenzpolitischen Bezugs lassen sich ausmachen: 1933 lief Horváth Gefahr, seine Staatsangehörigkeit zu verlieren, denn Ungarn verlangte seit 1921 mit dem Gesetz zur Regelung der ungarischen Staatsbürgerschaft, dass im Ausland lebende Staatsbürger ihre Staatsbürgerschaft alle zehn Jahre durch einen Staatsbürgerschaftsnachweis erneuern mussten. Horváth reiste am letzten Tag vor Ablauf der amtlichen Frist am 10. Dezember 1933 nach Budapest.6 Ein grenzpolitischer Bezug findet sich auch in einer Zeitungsmeldung, die Horváth in einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung erwähnt. Im Bericht vom 14. September 1933 über die geplante Premiere des Stücks am Deutschen Volkstheater Wien nennt Horváth einen authentischen Grenzkonflikt, den er einer „Zeitungsmeldung“ entnommen habe, einen „unwahrscheinlich[en]“, aber „wortwörtlich wahr[en]“ „Zufall“: „[E]in Mann [war] aus der Tschechoslowakei abgeschoben [worden], aber in Posen, wohin man ihn abschob, nicht eingelassen worden. Auch die Brücke kam in dem Telegramm vor und es hieß, daß dieser Mann mehrere Nächte auf dieser Brücke schlafend zubringen mußte.“7 Die eskapistische Geste des Autors, in seinem Stück sei „[…] freilich von Phantasiestaaten die Rede, es ist dabei an keinen der existierenden Staaten speziell gedacht“,8 hat allerdings nicht verfangen: Die am Wiener Deutschen Volkstheater für Dezember 1933 geplante Uraufführung unter der Regie von Karl Heinz Martin kam aufgrund einer Pressekampagne von rechts nicht zustande. Einen Tag nach dem Interview in der Wiener Allgemeinen Zeitung polemisierte das Wiener 12-Uhr-Blatt gegen den „berüchtigte[n]“ Autor, „der Österreich vor den Augen des Auslands in den Kot gezerrt und den Berlinern den Österreicher als kretiniertes Wesen vorgestellt hat.“9 Statt in Wien kommt Hin und her am 13. Dezember 1934 am Zürcher Schauspielhaus unter der Leitung von Gustav Hartung und im Bühnenbild von Teo Otto heraus. Noch nicht sein Autor – Horváth hält sich zu der Zeit in Berlin auf, empfiehlt sich als Filmautor –, aber das Stück ist schon emigriert. „[E]ine der schönsten Persiflagen auf die Herrschaft des bedruckten und gestempelten Papiers über den Menschen“,10 „gewiss nicht gestriger, menschlich sympathischer Fall“11 und „wirklich bester Komödienstoff“,12 hat gleichwohl keinen Erfolg: Die „prächtige Idee“ werde „so zerdehnt, dass ihre komödienhafte Wirkung allmählich verlorengeht, sich in Posse verflüchtigt“.13 Der „auseinanderstrebende Komödienkuchen“14 mit „halb possierliche[n], halb reflexive[n] Situationen“15 ennuierte den Premierengast Thomas Mann, der ein „minutenweise komisches, aber zu einfallsarmes Singspiel“16 gesehen hatte. Nach nur zwei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt. Martin Stern hat dieses Scheitern aus dem Genrecharakter in der Tradition der Wiener Posse und insbesondere ihres Vertreters Johann Nestroy erklärt, auf dessen Stück Hinüber – Herüber (1844) schon der Horváth’sche Titel anspielt und von dem er zum Beispiel das Handlungselement der Belohnung für die Verhaftung von Dieben übernimmt. Handlungsführung und die finale Versöhnung, vor allem aber ein assoziativer Sprachgebrauch seien an ein Wiener Publikum adressiert gewesen.17 Horváth selbst hatte im Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung zugestanden, dass seine Posse mit Gesang „in mancher Hinsicht an Nestroy und Raimund“ erinnere.18 Johanna Bossinade sah die Anforderungen an das „Modell ‚Posse‘“ jenseits des grenzpolitischen Themas und Konflikts „nachgerade übererfüllt“.19

Trotz dieses formtraditionellen Potentials wurde Hin und her nach 1945 in Österreich kaum aufgeführt, wie überhaupt Horváths Dramen im Kontext personeller und ästhetisch konservativer Kontinuitäten nach der nationalsozialistischen Kapitulation kaum gespielt wurden.20 Die erste Inszenierung 1946 am Wiener Theater in der Josefstadt in der Regie von Christian Möller traf auf eine „völlig veränderte Rezeptionssituation. Vor dem Hintergrund der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Flüchtlingsproblematik, insbesondere der kontroversiellen Frage der Displaced Persons, reagierte nun die Kritik […] sehr gemischt.“21 Während die österreichischen Kommunisten von „Mitleidspropaganda für Vertriebene“ sprachen,22 beeindruckte den Rezensenten der Arbeiter-Zeitung Otto Koenig die „durch die Ereignisse […] unheimlich aktualisierte Posse.“23

Dieser zeitgenössische politische Kontext von Auffanglagern für Displaced Persons bildete auch den Hintergrund der einzigen Verfilmung von Horváths Stück aus dem Jahr 1947.24 Der mit Horváth seit gemeinsamen Filmarbeiten 1934 bekannte Schauspieler und Regisseur Theo Lingen transponierte Plot und Motiv auf eine Weise, die mit dem Herr-und-Diener-Motiv, Verwechslungen und Doppelrollen und der romantischen Liebe von Königskindern feindlicher Phantasiestaaten an Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena (1836) erinnert. Zugleich politisierte Lingen in HIN UND HER den Stoff auf satirische Weise: Gleichermaßen korrupt und autokratisch, unterscheidet sich die Monarchie Lappalien nicht von der Republik Bagatello, deren feudale Herrschaftsarchitektur im einen Fall alpenländisch dekoriert und im anderen Fall im Stil der Mussolinischen Moderne überformt ist. Beide Regierungen verfolgen jeden Oppositionsgeist, für ihre Vorstellung vom idealen Untertan blendet der Film eine Kuh- bzw. Schafsherde ein. Musikkapellen übertönen öffentliche politische Rede, das ist „ein altes Rezept“.25 Aus Horváths Protagonisten Havlicek wird der (von Theo Lingen gespielte) politisch verdächtige Fotograf Peter Vogel, dem man, der Republik verwiesen, die Einreise in seine Heimat Lappalien verweigert. Eine Künstlerfigur mit einem „romantischen Schicksal“,26 führt der Staaten- und Heimatlose eine Bohème-Existenz, er will sich „nicht als Lappalie behandeln und auch nicht bagatellisieren“ lassen,27 er lebt „in einem selbst gezimmerten Häuschen unterhalb der Brücke auf eigenem Hoheitsgebiet und somit exterritorial. Er ist verfolgt und geduldet zugleich.“28 Nicht Liebe und nicht – verhinderte – Attentate, sondern die dramaturgische deus ex machina-Figur eines plötzlich geerbten Vermögens scheint den Konflikt zu lösen, denn nun wird der Protagonist „von beiden Staaten als Steuerzahler begehrt.“29 Die Lösung wird aber in einem Aus-Weg gefunden, den Horváths Stück nicht erwägt: Dem in der Schlusseinstellung von einer Eulenspiegel-Figur, seinem alter ego, geratenen „Gib’s auf, Peter, fang neu an“ folgt die Hauptfigur und fährt mit einem Motorboot davon. „Wohin? […] Dahin, wo mir das nicht passieren kann, was mir hier passiert ist.“30

Erstmals ein größeres Publikum findet Hin und her im Rahmen der Wiener Festwochen 1960, die bundesdeutsche Erstaufführung bringt das Hessische Staatstheater Wiesbaden 1965 heraus. Beide Male setzen sich Text und Inszenierung dem Vorwurf der politischen und ästhetischen „Verharmlosung“ aus im Kontext der innerdeutschen Grenze31 und im Kontext eines sich herausschälenden Gegenwartstheaters, zu dem es nicht passe, „im Grenzübergang einen Operettenstoff zu sehen.“32

Die Wiener Schriftstellerin Hazel Rosenstrauch hat anlässlich der Verleihung des Theodor Kramer Preises im September 2015 gefragt, „wie man die Gedanken und Gefühle der Exilautoren von damals aus der Büchse holen [kann], damit sie auch die Gegenwart beleuchten und womöglich Unruhe stiften können?“33 Vor dem ‚Wie‘ theatraler Versuche der Gegenwart aber sollte deutlicher werden, was Hin und her dafür anbietet:

Der Plot ist inzwischen hinreichend deutlich geworden: Aufgrund fehlender Papiere aus dem einen Staat ausgewiesen und in den anderen nicht hineingelassen, bewegt sich der alleinstehende, bankrotte und „heimatlose“ Ferdinand Havlicek auf der die beiden Staaten trennenden bzw. verbindenden Brücke über den Grenzfluss „hin und her“, bis er am Ende aufgrund positiver Wendungen im Besitz einer Einreiseerlaubnis ist und eine Zukunft als Ehemann und Gastwirt hat. Der Titel stellt den Bewegungscharakter der Handlung ins Zentrum, ein die Gattung Komödie konstituierendes dynamisches szenisches Spiel, das in allen Spielarten dramatische Aktion aus ihrer physischen Dimension gewinnt. Tragisch gewendet als begrenzte Bewegung einer physisch beschädigten Figur, die als „Krüppel“ allenfalls „hin und her“ gehen kann, hat sie in Horváths frühem Stück Niemand (1924) eine leitmotivische Funktion. Von der Sehnsucht ihrer Überwindung geprägt, korrespondieren hier die physisch und räumlich begrenzte Bewegung und die metaphysischen Bewegungen der psychologischen Unruhe und der philosophischen Reflexion auf Schicksal und Determination.34 Wie das Treppenhaus in Niemand fokussiert der Schauplatz von Hin und her die Brücke als „Nicht-Ort“,35 als Zwischen- und Aufenthaltsraum. Die Brücke und die sie links und rechts begrenzenden Brückenköpfe machen den Gegensatz von Grenzraum und Grenze, wie ihn Norbert Wokart definiert hat, sinnfällig:

Ein Grenzraum selber ist keine Grenze, vielmehr hat er Grenzen, zwischen denen sich Sachverhalte überlappen und durchdringen. Er wirkt dadurch wie ein Rand; denn Ränder sind diffus und fransen leicht aus, und man weiß bei ihnen nicht immer ganz exakt, ob man noch bei diesem oder schon bei jenem ist. Dagegen bezeichnet eine Grenze immer einen harten und eindeutigen Schnitt.36

In der Dynamik des Grenzraums, der sich nicht mit geopolitischen Markierungen deckt, etabliert sich historisch wie literarisch der so genannte Kleine Grenzverkehr.37 Die Brückenköpfe, an denen in Horváths Stück die beiden Grenzorgane ihres Amtes walten und die einer „Baracke“ bzw. einer „halbverfallenen Ritterburg“ gleichen, liegen „etwas abseits“ in einer idyllischen Gegend mit „schöne[n] Wolken“.38 Die hinter den Brückenköpfen liegenden Staaten sind wie ihre Regierungsrepräsentanten namenlos und zeitenthoben. Die unspezifische und reduzierte Eigenart von Zeit und Raum hebt den experimentellen Charakter des Spiels hervor. Die Zuschauer beobachten im übersichtlichen Rahmen der aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung einen Fall, den der Protagonist selber „interessant“ findet und verfolgt.39 Das Thema des Stückes – Heimat- und Staatenlosigkeit – verknüpft individuelle, subjektive und kollektive, politische Identität ex negativo und wird durch das – exil- bzw. migrationsrelevante – Motiv des ‚fehlenden Ausweis‘ konkretisiert. Der verlangte „Grenzschein“40 bedingt die „Rede- und Handlungsabläufe des ganzen Stücks“.41 Am Ende erhält der Protagonist keinen regulären Pass, der das Pendant des ‚fehlenden Ausweis‘ wäre, sondern ihm öffnet sich aufgrund einer „außertourliche[n] und außerinstanzliche[n] ministerielle[n] Verfügung“ die Grenze.42 Die einmalige Einreiseerlaubnis verdankt er einer „menschlichen Tat“ des Regierungschefs, sie ist kein politischer, sondern ein humaner Akt.43 Weitere Motive dramatisieren den identitätsphilosophisch-politischen Kern des Stücks: Das Motiv der Grenze hat eine räumliche Dimension, die die Unterscheidung von „dort“ und „hier“ markiert, eine normative Dimension für die Konstruktion Staat durch Gesetz, von dem abzuweichen „unmöglich“44 ist und dem das Individuum unterworfen ist: „(Konstantin) Gesetz ist Gesetz. / (Ferdinand Havlicek) Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich … / (Konstantin) Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben. / (Havlicek) Schad.“45 Die identifikatorische Dimension der Grenze im Sinne der Abgrenzung wirkt im sozialen Gefüge von (Nicht)Zugehörigkeit, von aufgewertetem „wir“ und abgewerteten „Feinde[n]“46 und ist paradox, „da sich der Mensch ihrer [der Identität, H.K.] nicht anders versichern kann als im Rückgriff auf andere“:47 Das Grenzorgan Thomas Szamek hält in der ersten Szene fest, „daß wir da aufhören und dort drüben ein anderer Staat beginnt“.48 Position und Person und Tat treten im Handlungsverlauf auseinander: Das Grenzorgan Konstantin nennt die Grenze eine „blöde Grenz“49 und „privat“ tue ihm der Staatenlose leid. Der mächtige, aber nicht betroffene Regierungschef nennt die Grenze eine „Plage“:50 „(X) Wir leiden unter unseren Grenzen.“51 Im „Finale mit Gesang“,52 einem langen musikalischen Epilog, wird nicht etwa die Grenze, sondern ihr Begriff semantisch geöffnet,53 die Figuren reflektieren Grenze als Begrenzung, sie übertragen die Begrenztheit des Lebens auf die notwendige Zügelung der Triebnatur, die sozial sinnvolle Einschränkung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Sie stimmen – im doppelten Sinn – ein in Grenze als Natur, als Kultur, als Ordnung und damit als Glück. Der aufbegehrende Protagonist passt sich an: „(Havlicek) Ich seh schon ein, daß es muß geben / Gar manche Grenz, damit wir leben.“54

Von der normativen Dimension der ‚Grenze‘ unterscheidet sich die formelle Dimension des Motivs Heimat dann, wenn sie als Geburtsort aufgefasst wird – „(Mrschitzka, ein Gendarm) Wohin man geboren ist, dorthin ist man zuständig!“55 Die identifikatorische Dimension von Heimat wird, abseits der Übereinstimmung mit nationaler Herkunft, aus kultureller Erfahrung gewonnen. Dem Protagonisten ist die „Heimat“, die er als Kind verließ, fremd: „(Havlicek) Ich war überhaupt noch nie drüben –“,56 der Staat, der ihn als Fremden ausweist, ist ihm im Verlauf seines Lebens vertraut geworden: „(Havlicek) Wissens, es schaut nämlich einfacher aus, als wie es ist, wenn man so weg muß aus einem Land, in dem man sich so eingelebt hat, […] es hängen doch so viel Sachen an einem, an denen man hängt.“57 Cornelia Krauss hat Heimat eine „existentielle Metapher“ im Spätwerk Horváths genannt.58 In der Tat bekennt sich der Schriftsteller durch die zu Empathie fähige Figur Eva zu einem Heimat-Begriff als Erfahrung von Identität und Alterität: „(Eva) So ohne Heimat möchte ich nicht sein. Überall fremd, überall anders –“.59 Eine personifizierte Heimat rahmt refrainartig das „Finale mit Gesang“: „O Heimat, die ich nicht kennen tu / Bring mir den Frieden, bring mir die Ruh!“60 Havliceks Evokation von Heimat ruft deren aus dem 19. Jahrhundert stammende kulturpolitische Konstruktion und ästhetische Gestalt auf – Mondschein, (Todes-)Sehnsucht („O Heimat, wie bist du so schön / In dir möchte ich sein und vergehn!“),61 Mythos („voll Märchen und voll Sagen“),62 in der Vorstellungswelt präsent als „Ansichtskarte“,63 also nicht als individuelle Wahrnehmung, sondern als geronnenes, sentimentales Bild. Trotz der signifikanten Kombination der Signalwörter entbehrt diese Heimatvorstellung der mit Heinrich Heine und dem Horváth der Zwischenkriegszeit assoziierten ironischen Distanzierung. Noch 1929 hatte Horváth seine Heimatlosigkeit begrüßt, denn sie befreie ihn von „unnötiger Sentimentalität“.64 Der Exilkontext des 19. wie des 20. Jahrhunderts (wie überhaupt) kündigt Heimat dem zum Objekt gewordenen Subjekt auf, die räumliche Distanzierung geht mit einer ideellen Annäherung einher.

Andere Motive beleben das Thema der Heimat- und Staatenlosigkeit. Die Motive Täuschung und Schein und Sein kommen ins Spiel mit einem gefälschten Pass65 und dem Incognito-Auftritt der Regierungschefs. Der erlaubt Verwirrung durch Verwechslung, wenn X Havlicek auf der Brücke im Dunklen für den anderen Regierungschef Y hält oder wenn Rauschgift-Schmuggler als harmlose Reisende angesehen werden. Indem sie ihre Absichten betrügerisch durch Verkleidung verbergen, bilden sie den Kontrast zum offen zutage liegenden Fall des Protagonisten und dessen authentischer Absicht. Das aus dem Unterhaltungsgenre stammende Element des Kriminellen, des Diebs oder Schmugglers zieht dem Geschehen das Spannungs-Motiv von Jäger und Gejagtem ein, auch der Protagonist ist ein Gejagter, und mit ihm bekommt die als harmloses Kinderspiel von „Räuber und Gendarm“66 gespiegelte Kriminalhandlung eine politische Dimension. Spätestens hier muss auf die zeitgenössische Filmproduktion verwiesen werden: Der politisch aufgeladene Kriminalfilm ist ein populäres Genre des Weimarer Kinos. 1933 kommt ein Schmuggler-Krimi in die Filmtheater mit dem Titel SCHÜSSE AN DER GRENZE.67 Aus Horváths allein finanziell motivierten Verbindungen mit der Filmbranche 1933–1934 sind für den Kontext Hin und her folgende Aspekte interessant68: In einem Brief an den Filmdramaturgen Rudolph S. Joseph vom 30. Oktober 1933 bezeichnet er die Posse mit Gesang als „höhere[n] Blödsinn“ und „Geblödel“,69 die erstmalige Verwendung von Liedeinlagen (Komposition: Hans Gál) ist ein Tribut an das beliebte und erfolgreiche Genre der Tonfilmoperette, an dem Horváth im Falle der Nestroy-Verfilmung DAS EINMALEINS DER LIEBE70 beteiligt war, sein Notizbuch verzeichnet fünf Filmprojekte, darunter eines mit dem Titel „Zwischen den Grenzen“.71

Die Grenzorgane Thomas Szamek und Konstantin und der Staatenlose Ferdinand Havlicek verkörpern Jäger und Gejagten. Die Grenzorgane sichern die Macht der personifizierten und mit den Regierungschefs der Staaten konkurrierenden bzw. ihnen übergeordneten Grenze („auf den sich die Grenz verlassen kann“).72 Ihre Loyalität („unser Staat“, „unsere Wohlfahrtspflegerei“)73 gefährden Langeweile und schlechte Bezahlung,74 ihre professionelle Kompetenz, die sie über ihr „gewissenhaft[es]“ und „pflichtbewusst[es]“ Handeln hinaus unter Beweis stellen, als sie den falschen Pass entlarven,75 gefährdet Mitgefühl; Konstantin unterscheidet, er sei ein „Grenzorgan und kein Mensch“.76 Der Staatenlose ist Gegenstand politisch-administrativen Handelns, ein entindividualisiertes Objekt, den man einen „amtlichen Fall“ nennt,77 einen „Niemand“,78 einen „Irrtum“,79 einen „Witz“.80 Der Autor variiert die sprachlichen pronominalen Negationen für die Auslöschung des Subjekts. Der abwertenden Semantik der Entwürdigung korrespondiert die Semantik der Aufwertung, wenn der Protagonist von anderen ein „Engel“ genannt wird.81 Der „Ausgewiesene“82 ist ein „Fachmann in puncto Ungerechtigkeit“,83 denn er ist nicht etwa ein Verbrecher, sondern bloß ein 50 Jahre alter Drogist, dem das „Unglück“ des Bankrotts widerfahren ist. Unfähig zu kriminellem Handeln – er versäumt es, die Regierungschefs, in deren heimliches Treffen er zufällig hineingerät, zum Zweck einer Einreiseerlaubnis zu erpressen –,84 zeichnet er sich im Gegenteil durch Höflichkeit, Bildung und Einfühlung aus.85 Seine rhetorische Begabung, sein Einfallsreichtum („Idee“)86 und seine Anteilnahme behaupten die Subjekthaftigkeit der Figur gegen ihren Objektstatus, seine Flexibilität – er übernimmt Kurierdienste für Eva und Konstantin und bezeichnet sich als „wanderndes Billetdoux“87 –, seine Zähigkeit – er gibt nicht auf – und Handlungsfähigkeit – er befreit Konstantin und Eva – qualifizieren ihn sogar dazu, „unser aller Retter“ zu sein,88 seine Großzügigkeit – er überlässt Konstantin die Hälfte des Kopfgeldes für die Festnahme der Schmuggler – beschämt. Der Staatenlose ist ein „braver Mann“,89 mit einem Wort: gesetzlicher und individueller Status widersprechen sich. Eingebettet in eine achsensymmetrisch angeordnete Figurenkonstellation – auf jeder Seite agieren Grenzorgan, Regierungschef und weibliche Figur –, führt das Spiel die Handlung in Parallelen und Spiegelungen vor: Die Grenzüberschreitung hat im Falle der Schmuggler einen kriminellen Beweggrund, im Falle des Staatenlosen einen existentiellen. Der Konfrontation der ausführenden Grenzorgane steht der Versuch einer diplomatischen Annäherung der politisch Verantwortlichen gegenüber. Die Konfrontation der Grenzorgane wird unterlaufen durch die Liebesverbindung von Eva, der Tochter des Grenzers Thomas Szamek zur Linken, und Konstantin, dem Grenzer zur Rechten. So wie Eva zwischen Vater und Geliebtem steht, steht Havlicek zwischen zwei Staaten. Zwei Konflikte, ein privater und ein politischer: Liebes- und Landeszugehörigkeit, werden also übereinander geschoben. Zugleich repräsentieren die weiblichen Figuren im Verhältnis zu den männlichen ein gender-spezifisches Motiv: Der den Männern eigenen Antipathie und Gleichgültigkeit für den Protagonisten stehen Sympathie und Mitgefühl der Frauen für den heimatlosen Ausgewiesenen gegenüber: „(Frau Hanusch) Armer Mensch! Macht übrigens einen ganz einen sympathischen Eindruck“;90 „(Eva) Komisch seid ihr Männer.“91 Der Gender-Aspekt kreuzt sich mit einem migrationsspezifischen Motiv: Der Zuneigung der verwitweten Postwirtin Frau Hanusch – Evas Pendant auf der rechten Seite – und dem ihr drohenden Konkurs korrespondiert Havliceks prekäre ökonomische Lage, sie verbindet also materielle Interessen, für die eine Heirat als Lösung erscheint, sie „passen zusammen“:92 Eine Eheschließung wäre für den Staatenlosen gleichbedeutend mit einer Einreise und einer beruflichen Zukunft als Gastwirt, für die Wirtin gleichbedeutend mit einer Dienstleistung – „(Frau Hanusch) Ein Mann ist schon was Notwendiges, wenn er auch nur repräsentiert.“93 – und einer privaten Zukunft, die sich die am mangelnden männlichen Begehren leidende Frau von der Heirat verspricht. Übersetzt in den Aufbau, gleicht das „Lustspiel in zwei Teilen“94 einer Sinuskurve, die sich auf der horizontalen „Brücken“-Achse „hin und her“ bewegt und auf der vertikalen Achse am Ende des ersten Teils ihren Tiefpunkt erreicht, als Havlicek in der Nacht alleine auf der Brücke steht, nur in Gesellschaft des Mondes und des neutestamentarisch als Verrat und Tod identifizierten krähenden Hahnes.95 Der zweite Teil mündet in der Morgendämmerung in ein „sichtbar konstruierte[s]“ Happy End“,96 in dem alle Figuren vereint und alle Konflikte gelöst sind – ein märchenhaftes „Ende gut, alles gut!“97 Eines, das die Physik allerdings gefährdet, denn alle befinden sich am Ende auf einer (der linken) Seite der Brücke. Die Dramentektonik unterminiert die glückliche Auflösung, das Happy End ist aus Gründen der Statik riskant, die Utopie ist gefährdet durch die physische Wirklichkeit.

Und gefährdet durch die politische Wirklichkeit, die „Realität der Grenzziehung und Grenzposten auf dieser Welt.“98 Vor dem Hintergrund globaler Migration und internationaler bzw. nationaler Asylpolitik haben deutschsprachige Bühnen Horváths Stück Hin und her in der Perspektive von Aktualität und Parallelität entdeckt. Seit 2006 lassen sich acht Inszenierungen in Regensburg (2006), Wien (2009, 2016), München (2010), Hall in Tirol (2015), Frankfurt am Main (2015), Freiburg (2016) und Braunschweig (2017) verzeichnen.99 Für alle gibt es „kaum ein zeitgemäßeres Stück“ für ein „drängendes“,100 „brandaktuelles Thema“,101 ein Stück von „geradezu beschämende[r] Aktualität“,102 das deswegen „mühelos den Sprung in unsere Zeit schafft.“103 Die Theater verstehen das Stück als „Spiegel“,104 sie lesen es als eine „knochentrockene realistische Studie“.105 „Die erschreckenden Parallelen zu unserer Gegenwart […] lassen nicht lange auf sich warten, zu präsent sind die Bilder in den Medien und zum Teil bereits vor unserer Haustür.“106 Um „die Gegenwart [zu] beleuchten und womöglich Unruhe [zu] stiften“ (Hazel Rosenstrauch), haben die Bühnen Horváths exil- und migrationsrelevantes Thema in einem identifikatorischen Ansatz von Studenten aus sechs Ländern spielen lassen (Theater babylon, Universität Regensburg), unterhaltend in der Tradition des Volksstücks gegeben (Freiburg, Hall in Tirol), intertextuell geöffnet auf Jean Paul und Elfriede Jelinek (Schauspiel Frankfurt am Main), aus einem kritischen Genreansatz das Groteske fokussiert (Akademietheater München) und in einem intermedialen Verfahren moderne musikalische Kompositionen hinzugefügt (Schlüterwerke, Wien). Von einem wirkungsästhetischen Ansatz der Verfremdung durch Kostümstrategien gehen die Wiener und Braunschweiger Inszenierungen aus, die Schlüterwerke setzen ihn um mit balinesischen Masken; in Braunschweig arbeitet man mit Wolfsfellen, assoziiert die wölfische Natur des Menschen und räumt in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Wald und Wolf, die sie für ihre Versuchsanordnung aufrufen, mit der Vorstellung von der Natur als Gegenwelt auf.

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