Kitabı oku: «Grenze als Erfahrung und Diskurs», sayfa 5

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Regler ist damit auch in der ideengeschichtlichen Tradition Jean-Jacques Rousseaus zu lesen, der in seiner Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 die Regelung von Besitzverhältnissen – und das Setzen von Grenzen ist sichtbarer Ausdruck derselben – als eine Abkehr vom Prinzip der Natur auffasst. In der Ver- und Aufteilung von Land, das – nach Rousseau – in dem glücklichen Urzustand des Menschen Gemeingut war, an dem alle Menschen gleichermaßen partizipierten, liegt der Beginn der „bürgerlichen Gesellschaft“, ihrer limitierenden Vorstellungen von Eigentum und Wert.18 Das Ohr des Malchus begegnet dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und seinen Folgen, aber auch den Ideologien des 20. Jahrhunderts mit dieser aufgeklärten Denkfigur und unterstreicht auf diese Weise den Anspruch und die fortwährende Notwendigkeit einer Littérature engagée.

Über Grenzen

Irmgard Keun und ihre Protagonistinnen

Sascha Kiefer, Saarbrücken

Der Titel meines Beitrags ist von kalkulierter Mehrdeutigkeit. Die Begriffe ‚Grenzen‘ und ‚Grenzüberschreitungen‘ beziehen sich sowohl auf symbolische und moralische Grenzen als auch auf räumliche, regionale bzw. territorial-politische. Die Formulierung ‚über Grenzen‘ zielt zum einen darauf, dass sowohl Irmgard Keun als auch die Protagonistinnen ihrer Romane Grenzen überschreiten, zum anderen aber auch darauf, dass sie Grenzen thematisieren, also über Grenzen schreiben bzw. reflektieren. Dabei erscheint die Denkfigur der Grenze zwar ausgesprochen geeignet, um sich sowohl an die empirische Autorin Irmgard Keun als auch an die Protagonistinnen ihrer Romane anzunähern, doch das impliziert keineswegs eine biografische oder gar biografistische Interpretation der fiktionalen Texte. Diese Vorbemerkung scheint nötig, denn gerade die Keun-Forschung hat oft gegen den literaturwissenschaftlichen Allgemeinplatz verstoßen, dass die literarischen Figuren einer Autorin nicht mit dieser selbst zu identifizieren sind und dass auch eine Teilidentifikation keinen literaturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinn mit sich bringt.1

Eine offensichtliche Dimension von Grenze, die im Hinblick auf die Autorin Irmgard Keun in jedem Fall relevant ist, aber trotzdem nur kurz angesprochen werden soll, hängt mit ihrer Position als schreibender Frau in den frühen 1930er Jahren zusammen. Auch am Ende der Weimarer Republik ist die schreibende Frau noch ein Grenzfall im männlich dominierten literarischen Feld. Was für schreibende Frauen im Allgemeinen gilt, wird in Bezug auf Irmgard Keun geradezu exemplarisch deutlich in der Rezension ihres Erstlingsromans Gilgi – eine von uns durch Kurt Tucholsky. Weil sie an der Oberfläche nachdrücklich positiv ist, wird diese Rezension in der Keun-Forschung oft zitiert („bis zur Unkenntlichkeit“,2 wie Hiltrud Häntzschel anmerkt). Keun selbst hat rückblickend bestätigt, dass sie „ungeheuer stolz“ darauf gewesen sei, gleich mit ihrem literarischen Debüt in der Weltbühne gelobt zu werden.3 Aus gendersensibler Perspektive ist allerdings nicht zu übersehen, wie sehr Tucholskys Formulierungen im Spannungsfeld von Grenzüberschreitung und Grenzziehung angesiedelt sind:

Sternchen; weil diese Dame gesondert betrachtet werden muß. Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal an! […] Wenn Frauen über die Liebe schreiben, geht das fast immer schief: sauer oder süßlich. Diese hier findet in der ersten Hälfte des Buches den guten Ton. […] Diese hier findet in der zweiten Hälfte weder den richtigen Ton noch die guten Gefühle. Da langts nicht. […] Flecken im Sönnchen, halten zu Gnaden. Hier ist ein Talent. Wenn die noch arbeitet, reist, eine große Liebe hinter sich und eine mittlere bei sich hat –: aus dieser Frau kann einmal etwas werden.4

Tucholsky weist der Autorin eine Sonderrolle zu, und das sogar in der Materialität seines Textes, indem er zuvor ein ‚sonderndes‘ Sternchen setzt. Doch diese Anerkennung partieller Grenzüberschreitung dient letztlich der Stabilisierung von Grenzen: Keun erscheint nur als partielle Ausnahme von der behaupteten Regel, dass die Kategorie ‚schreibende Frau‘ weder mit der Kategorie ‚Humor‘ noch mit der Kategorie ‚gelingendes Schreiben über Liebe‘ vereinbar sei. Diese Dialektik der Überschreitung und Bestätigung von Gender-Grenzen ist sicher ein oft zu beobachtendes Phänomen; hier wird es aber besonders greifbar, verstärkt auch durch Tucholskys gönnerhaften Ton und den übergriffigen Gestus, mit dem der männliche Rezensent hier ein ganzes Lebensmodell entwirft, das der jungen Autorin den Weg zu künstlerischer Reife eröffnen soll.

Wie sehr Irmgard Keun ihre literarischen Figuren durch Grenzziehungen und Grenzüberschreitungen konturiert, wird im Folgenden an den Protagonistinnen der Romane Gilgi – eine von uns, Das kunstseidene Mädchen, Nach Mitternacht und Kind aller Länder erläutert.5 Dass hier jeweils unterschiedliche Dimensionen des Begriffs ‚Grenze‘ im Vordergrund stehen, ist zumindest zum Teil aus dem Entstehungskontext und der Handlungszeit dieser Romane zu erklären: Irmgard Keun schreibt konsequent Gegenwartsliteratur, und selbstverständlich gewinnt der Begriff der ‚Grenze‘ in ihren im Exil spielenden oder den Übergang ins Exil thematisierenden Romanen eine andere Bedeutung als in den frühen Werken, die noch in der Spätphase der Weimarer Republik angesiedelt sind.

Doch schon die beiden ersten Romane Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen sind nicht nur von „eigenwilliger zeitdiagnostischer Prägnanz“,6 sondern nehmen auch in vielfältiger Weise auf Figuren der Grenzziehung und Grenzüberschreitung Bezug. Im Mittelpunkt stehen jeweils Protagonistinnen, die untrennbar mit dem damals aktuellen Weiblichkeitsdiskurs verbunden sind. Gisela und Doris verkörpern in vielen Details die sogenannte neue Frau, sie stehen, wie schon die bewusst verallgemeinernden Titelformeln „eine von uns“ und „das kunstseidene Mädchen“ signalisieren, stellvertretend für viele.

Wenn Gisela Kron, genannt Gilgi, von ihrer Autorin als Repräsentantin eines aktuellen Frauentyps konstruiert wird, geschieht das zu Beginn des Romans ganz entscheidend über Gesten der Grenzziehung und Abgrenzung. Auf der Ebene der narrativen Struktur teilt sich dieser Prozess vielleicht deshalb so deutlich mit, weil Keun hier noch heterodiegetisch erzählt: Denn Gilgi wird zwar durch den Titel mit einem gewissen homodiegetischen Einschlag als „eine von uns“ eingeführt, doch gerade am Beginn des Romans ist der heterodiegetische Erzähler sehr präsent und schafft dadurch eine stärkere Distanz zur Protagonistin als in den späteren, homodiegetisch bzw. autodiegetisch erzählten Romanen.7

Das erste Kapitel zeigt den Kölner Alltag der 20jährigen Stenotypistin Gilgi. Zahlreiche Detailschilderungen lassen an die Fallstudien in Siegfried Kracauers kurz zuvor erschienener Studie Die Angestellten denken,8 aber auch die Anknüpfungspunkte an den zeitgenössischen Weiblichkeitsdiskurs liegen auf der Hand.9 Ausdrücklich wird schon im ersten Satz des Romans vom „Mädchen“ Gilgi gesprochen und damit ein Bezug zur Girl-Kultur hergestellt. Gilgi wird eingeführt als hochgradig disziplinierte, magere, sportliche junge Frau, die ihren Arbeitstag mit Frühsport und kalter Dusche beginnt, um sich systematisch abzuhärten. Ihr neusachlich geprägter Habitus spiegelt sich in einem durchorganisierten Alltag, dessen Schilderung auch aus heutiger Perspektive noch erstaunlich ‚modern‘ wirkt:

Nein, sie hat keine Zeit zu verlieren, keine Minute. Sie will weiter, sie muß arbeiten. Ihr Tag ist vollgepfropft mit Arbeiten aller Arten. Eine drängt hart an die andere. Kaum, daß hier und da eine winzige Lücke zum Atemholen bleibt. Arbeit. Ein hartes Wort. Gilgi liebt es um seiner Härte willen. Und wenn sie einmal nicht arbeitet, wenn sie sich einmal Zeit zum Jungsein, zum Hübschsein, zur Freude schenkt – dann eben um der Freude, um des Vergnügens willen. Arbeit hat Sinn, und Vergnügen hat Sinn. Mit der Mutter zum Kaffeeklatsch gehen [darum hatte ihre Mutter sie gerade gebeten], wäre weder Vergnügen noch Arbeit, sondern sinnlos verschwendete Zeit. Es gibt nichts, was Gilgi mehr gegen Natur und Gewissen geht.10

Gilgis auf Selbstoptimierung ausgerichteter, durchstrukturierter Lebensentwurf wird nicht nur über solche Erzählerkommentare, sondern auch über räumliche Strukturen vermittelt. Denn Gilgis Distanzierung vom spießbürgerlich-behäbigen Lebensstil ihrer Eltern (bzw. wie sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: ihrer Adoptiveltern) findet ihren Ausdruck im Anmieten eines „nüchterne[n] Arbeitszimmerchen[s]“ außerhalb der elterlichen Sphäre.11 Es ist die Gegenwelt zum elterlichen „Plüschzimmer“12 mit seiner „Urweltmöblierung“,13 seinem wuchtigen Büfett, seinen bestickten Tischdecken und dem „[g]rüne[n] Plüschsofa“.14 In Gilgis Zimmer ist alles funktional und modern, und während sie sich im elterlichen Ambiente „fremd“ fühlt,15 fühlt sie sich hier „zu Hause“: „Sie bezahlt es, und es gehört ihr“.16 Die zentralen Einrichtungsgegenstände sind eine „kleine Erika-Schreibmaschine“ und ein „Grammophon“,17 beides Geräte, die für Gilgis neusachliches, über Arbeit und positiven Technikbezug definiertes Selbstverständnis essentiell sind. So schafft sich Gilgi, die fleißige Angestellte und engagierte Berlitz-Schülerin, den Raum, der ihrem Lebensentwurf entspricht, und gibt sich dort den zeit- und schichttypischen Illusionen hin: „Alles ist genau ausgerechnet und beschlossen. Wenn man drei Sprachen perfekt kann, ist man gegen Stellungslosigkeit wohl so ziemlich gesichert“.18

Bald allerdings muss Gilgi erkennen, dass ihr Leben nicht mehr vor ihr liegt „wie eine sauber gelöste Rechenaufgabe“,19 denn sie verliebt sich in Martin. Die Liebe zu dem über zwanzig Jahre älteren, stellungslosen und an Erwerbsarbeit nicht interessierten Akademiker und Globetrotter ist eine neue Erfahrung. Gilgi selbst verwendet die Metapher der Grenze, um diese neue Erfahrung im Gespräch mit ihrer Freundin zu artikulieren:

„Du weißt, ich hab’ Freunde gehabt – zwei – drei … […] Ich fühlte mich immer sauber und klar, ich war meiner sicher und hatte meinen Willen und eine selbstgezogene Grenze, die so selbstverständlich war, daß man nicht drüber nachzudenken brauchte. Und jetzt – – – daß ich einen lieb habe – wirklich lieb – zum erstenmal in meinem Leben […] – das wäre schön – und richtig und – aber […] ich habe keine Grenze mehr und keinen Willen, ich kann von heute auf morgen nicht mehr für mich garantieren.“20

Diese Erfahrung von körperlich-seelischer Transgression geht mit räumlicher Delokalisierung einher: Gilgis Beziehung zu Martin, von dem sie ungewollt schwanger wird, führt zum Bruch mit den Adoptiveltern, und auch ihr Arbeitszimmer sucht sie kaum mehr auf.21 Damit verliert Gilgi die Räume, die ihre Identität durch Abgrenzung oder bewusste Eingrenzung stabilisiert haben. Bei Martin einzuziehen, bietet keine neue Stabilität, denn Martin hat keinen festen Wohnsitz, sondern hütet nur die Wohnung eines Freundes, der sich für längere Zeit in der Sowjetunion aufhält. Die Konsequenz aus Gilgis delokalisierenden Erfahrungen lässt nicht lange auf sich warten: Am Ende des Romans geht sie von Köln nach Berlin. Irmgard Keuns frühe Romane schreiben mit am Berlin-Mythos der 1920er Jahre; das provinzielle Rheinland, auch das regionale Zentrum Köln (mit seinen damals rund 740000 Einwohnern) bietet keinen Raum für moderne, zeitgemäße Identitätsentwürfe. Eine Grenzüberschreitung zieht die nächste nach sich (eine Beobachtung, die in der Forschung über Transgressionsprozesse oft gemacht wurde).22 Nur die Übersiedlung von der Provinz in die Metropole scheint Gilgi eine Zukunftsperspektive zu eröffnen, wobei allerdings – wie in fast allen Romanen Keuns – offen bleibt, was aus der Protagonistin werden wird.

In ihrem zweiten Roman verfährt Irmgard Keun relativ ähnlich, was die Konstruktion der Hauptfigur angeht. Auch Doris in Das kunstseidene Mädchen ist eine junge Kölnerin aus dem Kleinbürgertum mit ambitionierten Aufstiegsträumen, die in dem nicht weiter präzisierten Ziel gipfeln, „ein Glanz“ zu werden. Im Gegensatz zu Gilgi allerdings hat sich Doris von der Angestellten-Illusion verabschiedet, den sozialen Aufstieg durch Selbstdisziplin, Fleiß und die Berlitz-School erkämpfen zu können. Und während der Debütroman mit Gilgis Einsteigen in den D-Zug Köln-Berlin endet, spielt Das kunstseidene Mädchen zu fast zwei Dritteln in Berlin – die Wahrnehmung der urbanisierten Lebenswelt steht derart im Mittelpunkt, dass man von einem Großstadt-Roman sprechen kann.23 Auf der erzählerischen Ebene vollzieht Keun zudem den Übergang zur Ich-Erzählsituation, die in Gilgi nur partiell angeklungen war. Im Kunstseidenen Mädchen entwickelt Keun ihr auch für spätere Texte entscheidendes, hochgradig artifizielles Erzählverfahren der „reflektierten Naivität“:24 Die subjektive Wahrnehmung durch den autodiegetischen Erzähler wird einerseits explizit als unwissend oder naiv dargestellt, andererseits aber wird diese vermeintliche Unwissenheit oder Naivität auch gebrochen, da aus dieser Haltung heraus Beobachtungen und Fragen formuliert werden, die in scheinbarer Beiläufigkeit die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Zustände entlarven. Unter dem Gesichtspunkt von Grenze und Transgression möchte ich im Hinblick auf das Kunstseidene Mädchen nur einen Punkt hervorheben: Noch deutlich gravierender als in Gilgi – eine von uns wird die Übersiedlung der Protagonistin nach Berlin als Folge einer Grenzüberschreitung motiviert. Gilgis Grenzüberschreitung erfolgt im emotionalen Bereich, verletzt höchstens die offizielle zeitgenössische Sexualmoral durch die Beziehung zu Martin und die ungewollte Schwangerschaft. Die Grenzüberschreitung von Doris dagegen ist justiziabel: Der erste Teil des Romans, in der als Köln identifizierbaren „mittlere[n] Stadt“25 angesiedelt, schließt mit einer kriminellen Handlung, denn Doris stiehlt an der Theatergarderobe einen wertvollen Pelz, einen Feh, der für sie den Inbegriff ihrer Träume von Glanz und Luxus und geradezu einen Fetisch darstellt. Entsprechend gewinnt die Reise nach Berlin den Charakter einer „Flucht“26 vor Entdeckung, strafrechtlicher Verfolgung oder sogar Verhaftung, wie sie sich Doris in ihrem schlechten Gewissen drastisch ausmalt.27 Schon in ihren Weimarer Erfolgsromanen inszeniert Keun also Fluchten in einen Möglichkeitsraum und lässt dabei in beiden Fällen mindestens offen, inwieweit und für wie lange die großstädtische Lebenswelt einlösen kann, was sich die Protagonistinnen erhoffen. So gesehen radikalisieren die Exilromane Nach Mitternacht und Kind aller Länder lediglich eine Konfliktstruktur, die schon in der Gegenüberstellung von südwestdeutscher Provinz und nordostdeutscher Metropole angelegt war.

Keuns erster vollständig im Exil konzipierter Roman Nach Mitternacht stellt erneut eine junge Frau in den Mittelpunkt, die 19jährige Susanne Moder, genannt Sanna. Aus Sannas Perspektive werden die Auswirkungen der nationalsozialistischen Diktatur auf das Leben in Deutschland zwischen 1933 und 1936 geschildert. Individuelle Freiheiten gehen Stück für Stück verloren, der staatliche Eingriff noch in die intimsten Lebensbereiche kennt keine Schutzzonen mehr und belastet alle zwischenmenschlichen Beziehungen. Die immer strengere Zensur bestimmt, worüber Schriftsteller schreiben dürfen und worüber nicht, die Rassengesetze regeln, wer sich lieben darf und wer nicht, das gesellschaftliche Klima von Ideologie, Fanatismus und Gewalt zerstört jedes positive Gefühl und begünstigt die defizitären Persönlichkeiten, die Zukurzgekommenen, die ihren autoritären Charakter nun auf Kosten der anderen ausleben können. Dieser Prozess gewinnt derart an Dynamik, dass dem Einzelnen letztlich nur noch zwei Möglichkeiten bleiben, um sich ihm zu entziehen: der Selbstmord oder die Emigration, beides radikale Grenzüberschreitungen.

In Bezug auf die Raumsemantik verzichtet Irmgard Keun darauf, den urbanen Lebensraum zu diskreditieren. Köln oder Frankfurt am Main stehen in ihren Romanen für mittlere Städte, die gerade groß genug sind, um moderne urbane Lebensentwürfe in Ansätzen zu ermöglichen, aber von den Protagonistinnen der Romane trotzdem als bedrückend eng und provinziell erfahren werden im Vergleich zu den weiten Möglichkeiten Berlins. Es wäre denkbar gewesen, dass Keuns Exilromane an diesem Punkt ansetzen und zeigen, wie der Weg ihrer Protagonistinnen nun aus dem nationalsozialistischen Berlin in die Welt führen muss; das tun sie jedoch nicht. Der Nationalsozialismus macht in Keuns Darstellung vor allem das Leben in der Provinz noch schlimmer und bedrückender, als es schon vor der Machtergreifung gewesen ist, indem er die dort ohnehin eingegrenzten Möglichkeiten des Individuums noch weiter beschneidet und alles dem Primat einer aggressiven, zerstörerischen Politik unterordnet. War es vor 1933 die deutsche Hauptstadt Berlin, die dem Individuum neue Freiheiten zu versprechen schien, ist diese Hoffnung nach 1933 auf die Welt außerhalb der Reichsgrenzen übergegangen, auf das Exil. Abermals folgt die Überschreitung der territorialen Grenzen auf die Überschreitung moralischer Grenzen.

Den Ausschlag gibt diesmal ein Tötungsdelikt: Franz, in den sich Sanna früh verliebt hat, ermordet einen nationalsozialistischen Denunzianten, den er für den Tod seines Geschäftspartners und die Vernichtung ihrer beider Existenz verantwortlich macht. Es ist Sannas Verantwortungsgefühl und ihre Liebe zu Franz, die sie in die gemeinsame Emigration treibt; doch die Konfrontation mit zahlreichen durch den Nationalsozialismus brutalisierten Mitmenschen, die Zerstörung ihres gesamten sozialen Umfelds hat Sanna schon zuvor an die Erkenntnis herangeführt, dass ein menschenwürdiges Leben im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr zu führen ist. Von daher ist Sannas Solidarisierung mit Franz auch als Ergebnis eines politischen Erkenntnisprozesses angelegt. Der Grenzübertritt im Nachtzug nach Rotterdam wird von der Protagonistin existentiell erfahren:

Ist die Grenze ein Strich, was ist sie? Ich verstehe es nicht. Ein Zug hört auf zu fahren, das ist die Grenze.

Männer kommen, machen Koffer auf, suchen und wühlen – Grenze heißt Angst haben.

Der Zug fährt wieder, mein Hundertmarkschein fährt, Franz fährt, alles fährt mit, nur die Angst fährt nicht mehr mit. Das war die Grenze.28

Es ist die erste explizit gemachte ‚reale‘, auf eine politische, territoriale Grenze bezogene Erfahrung in Irmgard Keuns literarischem Werk, und schon hier fokussiert die Erzählinstanz auf die eigentümliche Spannung von Abstraktion und Konkretheit, die dem Begriff der Grenze eingeschrieben ist: ‚Eigentlich‘ ist eine Grenze nur ein künstlicher, abstrakter Strich oder ein Signal, doch ihre konkreten Auswirkungen auf die Emotion und das Leben eines Menschen können von höchster existentieller Relevanz sein – zumindest dann, wenn dieser Mensch ein Flüchtling, ein Exilierter ist. Nach Mitternacht endet an diesem Punkt, der für die Protagonistin den Übergang in eine neue Selbsterfahrung, in einen neuen Lebensraum mit neuen Erfahrungen markiert. Der liminale Zustand, den die Protagonistin erfährt, ist notwendig ambivalent, aber doch überwiegend von Erleichterung und Optimismus geprägt.

Über das Leben im Exil schreibt Irmgard Keun am ausführlichsten und wirkungsvollsten in Kind aller Länder. Ihre bevorzugte Erzählweise der reflektierten Naivität erfährt hier, wie schon in der kurz zuvor entstandenen Geschichtensammlung Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, eine weitere Steigerung, indem die Fokalisierung an eine kindliche Wahrnehmungsperspektive gebunden wird. Freilich merken der Leser, die Leserin, dass der kindliche Blick der 10jährigen Kully immer wieder „über die Perspektive eines bestimmten, ‚realistisch‘ gezeichneten Kindes hinausgeht“.29 Keun ist es nicht um eine psychologisch-realistische Charakterisierung ihrer vorpubertären Ich-Erzählerin zu tun, sondern sie verfolgt eine narrative Strategie, die die Entlarvung der Realität noch weiter treiben kann als das bereits durch die scheinbar naiven Beobachtungen von Doris oder Sanna möglich war, eine narrative Strategie, die vor allem auch den speziellen Gegebenheiten des Exils entspricht. Kully muss sehen, wie sie zurechtkommt, aber als Kind hat sie weder den Überblick über die Situation, wie er von Erwachsenen zumindest gefordert würde, noch die volle Verantwortung für das eigene Handeln. Als Minderjährige ist sie zwar abhängig von der Fürsorge bzw. der mangelnden Fürsorge ihrer Eltern, aber sie ist zugleich entbunden von der aktiven Sorge etwa um Erwerbsmöglichkeiten, Aufenthaltsgenehmigungen oder Visa.

Zudem ist Kullys bewusstes Erleben bereits so stark von der Exilerfahrung geprägt, dass diese von dem Kind als Normalfall verarbeitet wird; Kully hat zwar noch Erinnerungen an Deutschland, doch sie verortet ‚Heimat‘ und ‚Fremde‘ nicht mehr als zwei Pole in einem binären System, weil ihr Leben schon zu lange in einem Transitraum stattfindet, der diese Kategorien gar nicht mehr zulässt. Als ein älterer Herr sie fragt, ob sie „nie Heimweh“ habe, weiß sie zuerst nicht, was gemeint ist, und kommt dann zu dem Schluss, dass sie manchmal schon Heimweh habe, „aber immer nach einem anderen Land, das mir gerade einfällt“.30 Als Kind aller Länder findet Kully zu einer „nomadische[n] Auffassung“31 von Heimat und Heim: Alle Gefühle von Zugehörigkeit gründen auf positiven Erfahrungen an den unterschiedlichsten Orten und auf der Nähe zu Mutter und Vater, dem frei beweglichen, „konkreten kleinen Sozialraum, der von den drei Hauptfiguren gebildet wird“.32

Sabine Rohlf hat in einer wichtigen Arbeit die These vertreten, dass gerade Frauen im Exil die Möglichkeiten ergriffen hätten, „ohne Bindung an ausschließende Konzepte der Heimat und der Identität zu leben und zu schreiben“.33 Ausgehend von dieser Grundthese sieht Rohlf auch Kullys Position durch „selbstverständliche[n] Kosmopolitismus“ gekennzeichnet, der in der Lage sei, „Abschied von nationalen Identitäten“ zu nehmen und damit eher einen „Gewinn“ markiere statt einer Verlusterfahrung.34 Christina Thurner ist da skeptischer und verweist zu Recht auf die „vielen – wenn auch überspielten – Hinweise auf Trauer und Überforderung der Figuren“,35 die der Roman durchaus liefert. Es gehört zu Keuns erzählerischem Raffinement, dass Kullys scheinbar so souveräner kosmopolitischer Selbstentwurf auch wieder relativiert wird; er ermöglicht zwar vorübergehende Entlastung und überlebensnotwendige Glücksmomente, ändert aber nichts an der Tatsache, dass das Exil auch in Kind aller Länder als „endloses Davonlaufen vor den verschiedensten Bedrohungen“36 erfahren wird. Die Leistung der speziellen Erzählperspektive liegt gerade nicht in einer eindeutigen Positivierung oder auch nur Milderung der Exilerfahrung (die ja einer Beschönigung und Verharmlosung auch bedenklich nahe käme). Die Leistung der Erzählperspektive liegt darin, dass sich in Kullys kindlicher Beobachterposition die Liminalität der Exilerfahrung spiegelt. Kully ist in mehrfachem Sinn als Grenzfigur, als Schwellengestalt konstruiert. Während ihre Eltern in hohem Maße durch traditionelle Geschlechtsrollenmuster geprägt sind, nimmt die Zehnjährige noch keinen festen Platz in der Geschlechterordnung ein – sie ist keine Frau (und schon gar kein Mann), widerspricht den von ihrer Zeit als typisch mädchenhaften festgelegten Verhaltensmustern, und der einzige Name, unter dem wir sie kennenlernen, ist nicht eindeutig als Abkürzung eines Frauennamens einzuordnen.37 Kully ist nicht ‚fertig‘, sie ist ständig in Bewegung, auch in sprachlicher Hinsicht, indem sie immer von neuem versucht, sich fremde Sprachen anzueignen, aber zugleich auch immer weiter bemüht sein muss, eine Sprache zu finden und weiterzuentwickeln, „die die Grenzen ihres eigenen Daseins auslotet“.38 Gerade ihr notwendig mangelndes Verständnis für die politischen Zusammenhänge, die bürgerliche Ordnung, die historische Dimension des Geschehens eröffnet für den Leser, die Leserin immer wieder neue, überraschende Perspektiven.

Gegenstand von Kullys vielfältigen Reflexionen sind jedenfalls auch die für sie hochabstrakten Begriffe von Pass, Visum und Grenze. Die kindliche Perspektive lässt sie da noch weiter denken als die neunzehnjährige Sanna in Nach Mitternacht. Grenze und Grenzziehung als kulturelle Praxis, als performative Handlung werden explizit in bemerkenswerten Passagen ergründet – die wichtigste davon ist schon oft zitiert worden, aber sie passt derart gut in den Kontext dieses Bandes, dass ich nicht auf sie verzichten möchte:

Wir haben so viele Gefahren, das alles ist so schwer zu verstehen.

Vor allem muß ich lernen, was ein Visum ist. Wir haben einen deutschen Paß, den hat uns die Polizei in Frankfurt gegeben. Ein Paß ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, daß man lebt. Wenn man den Paß verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muß man ’raus, aber in das andere darf man nicht ’rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, daß Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, daß er macht, daß Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in die Luft fliegen.

Meine Mutter hat mir aus der Bibel vorgelesen. Da steht wohl drin, daß Gott die Welt schuf, aber Grenzen hat er nicht geschaffen.

Über eine Grenze kommt man nicht, wenn man keinen Paß hat und kein Visum. Ich wollte immer mal eine Grenze richtig sehen, aber ich glaube, das kann man nicht. Meine Mutter kann es mir auch nicht erklären. Sie sagt: „Eine Grenze ist das, was die Länder voneinander trennt.“ Ich habe zuerst gedacht, Grenzen seien Gartenzäune, so hoch wie der Himmel. Aber das war dumm von mir, denn dann könnten ja keine Züge durchfahren. Eine Grenze ist auch keine Erde, denn sonst könnte man sich ja einfach mitten auf die Grenze setzen oder auf ihr herumlaufen, wenn man aus dem ersten Land ’raus muß und in das andere nicht ’rein darf. Dann würde man eben mitten auf der Grenze bleiben, sich eine Hütte bauen und da leben und den Ländern links und rechts die Zunge ’rausstrecken. Aber eine Grenze besteht aus gar nichts, worauf man treten kann. Sie ist etwas, das sich mitten im Zug abspielt mit Hilfe von Männern, die Beamte sind.

Wenn man ein Visum hat, lassen die Beamten einen im Zug sitzen, man darf weiterfahren. […] Ein Visum ist ein Stempel, der in den Paß gestempelt wird. Man muß jedes Land, in das man will, vorher bitten, daß es stempelt. Dazu muß man auf ein Konsulat. Ein Konsulat ist ein Büro, in dem man lange warten und sehr still und artig sein muß. Ein Konsulat ist das Stück von einer Grenze mitten in einem fremden Land; der Konsul ist der König der Grenze. […]

Ich muß das alles lernen. Meine Mutter weint manchmal darüber und sagt, früher sei alles leichter gewesen. Ich habe ja früher nicht gelebt, als alles so leicht war.39

Diese Passage demonstriert exemplarisch die Leistung der sorgfältig konstruierten Perspektive: Das Mädchen Kully realisiert auf seine eigene Weise eine Problematik, die in vielen Romanen der Exilliteratur vor und nach Keun thematisiert wird. Die tragische Absurdität der Exilsituation, die existentielle Bedeutung von Grenzen, Pässen und Visa wird dabei nicht weniger drastisch erfahrbar als etwa in Transit von Anna Seghers. Sie wird aber neu perspektiviert durch den scheinbar naiven Pragmatismus des Kindes, das sich nicht gebunden fühlt an eine Vergangenheit, in der angeblich „alles so leicht war“, sondern dass sich als offen erweist für die Erfahrungen der Gegenwart und diese „mit überraschender Unbekümmertheit“40 zu akzeptieren scheint. Die kindliche Perspektive erweist sich als zentrales Mittel, um „nonkonformistisch und mit Ironie auf die Exilsituation“41 zu reagieren, ohne den Ernst des Exils zu verharmlosen. Die instabilen Transiträume des Exils werden in Kullys Sicht neutralisiert zu Möglichkeitsräumen, die sich jenseits und zwischen den einerseits absurden und andererseits so wirkungsmächtigen Grenzen ergeben.

Insofern entspricht der Raum des Exils strukturell dem Raum der Großstadt, in den sich Keuns Protagonistinnen der Weimarer Republik begeben haben, wenn sie in der Provinz an Grenzen gestoßen sind, die zu übertreten sie durch ihren Selbstentwurf beinahe gezwungen waren. Die urbanisierte Lebenswelt ebenso wie der spezielle Raum des Exils bieten zwar neue Möglichkeiten; doch im Entwurf ihrer Protagonistinnen lässt Keun immer eine pessimistische Lesart zu, die dem oft etwas plakativen, pragmatischen Optimismus der dominanten Figurenperspektive widerspricht: die Möglichkeit des Scheiterns bleibt immer gegenwärtig. Die jungen Frauen Gilgi, Doris und Sanna erfahren eine soziale Delokalisierung, die sie an die Grenzen und über die Grenzen hinaus treibt, die minderjährige, ortlose Kully lebt ohnehin in einem transitären Zwischenraum und mehrfach codierten Zustand der Liminalität. Erst die literarische Narration rückt diese Protagonistinnen aus einer marginalisierten Position ins Zentrum; sie alle vier hat Irmgard Keun aus dem Spannungsfeld von Grenzen und Grenzüberschreitungen heraus entwickelt. Aus diesem dynamischen Prozess heraus entfalten Keuns fiktionale Texte ein beachtliches transgressives Potential,42 das Irmgard Keun dauerhaft einen Platz unter den wichtigen Autorinnen des 20. Jahrhunderts sichern wird.

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