Kitabı oku: «Grenze als Erfahrung und Diskurs», sayfa 4

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Das Potential literarischer Grenzerfahrung, das in Hin und her steckt, hat Steven Spielberg filmisch aktualisiert. Seinem Film TERMINAL (2004) liegt wie bei Horváth eine authentische Begebenheit zugrunde, auch hier verknüpft sich der Plot mit dem Genre der Komödie. Spielberg griff den Fall des Iraners Mehran Karimi Nasseri auf, der seit 1988 mehr als sechs Jahre auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gelebt hat. Der amerikanische Regisseur erzählt den Fall im Kontext des Narrativs von den Vereinigten Staaten als Einwandererland und vor dem Hintergrund von „9/11“. Er interpretiert den Fall als unterhaltsame Fabel.

Ödön von Horváths komisches und unheimliches „zeitloses Zeitstück“ ist ein hochartifizieller Text über den Begriff ‚Grenze‘. Sein Potential literarischer Grenzerfahrung lässt sich so umreißen:

Politische Grenzen sind mit Jürgen Osterhammel „physische Vergegenständlichung des Staates und Orte der symbolischen und materiellen Verdichtung von Herrschaft.“107 Globale Migration verflüssigt den Begriff der Grenze, hebt Grenze als Indiz und Zeichen der Territorialisierung von Macht auf. Im Spiegel transnationaler Grenzforschungsprojekte, die zum Beispiel in Berlin und Frankfurt an der Oder etabliert sind,108 dient Horváths Stück diesseits des slapstick-Elements des „hin und her“, der Konstruktion einer Welt und der Empörung, also diesseits von Komödie, Fiktion und Moral, als Muster politischer Methoden und als Handlungsmodell.

Der Protagonist ist eine ‚displaced person‘, er ist ein Flüchtling nach der Definition des „Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, das die UN-Sonderkonferenz 1951 beschloss. Die Auffassung der Genfer Flüchtlingskonvention, die den passiven Objektstatus betont, wird in der Kritischen Migrationsforschung durch den Begriff des Migranten als Akteur abgelöst. Kristina Schulz (Bern) und Irene Messinger (Wien) sprechen von „Subjektivierung der Migration“, die an die Stelle der Viktimisierung (Opfer) und der Kriminalisierung (Täter) trete. MigrantInnen als aktive, handelnde Subjekte zu begreifen, heißt, nach ihren „sozialen Praktiken in und zwischen Herkunfts- und Zielländern“ zu fragen.109 Horváths handlungsfähiger Protagonist kann hierfür als Typus gelten.

Das Stück bietet exemplarische Lösungsstrategien bzw. Lösungen und alternative Deutungen an:

Es trennt den Begriff ‚Heimat‘ von (ethnischer) Herkunft (Geburtsort) und spricht stattdessen von kultureller Erfahrung und Praxis.110

Es öffnet die physische Konnotation der ‚Grenze‘ auf metaphysische und zugleich gesellschaftlich wirkungsmächtige Differenzierungen von ‚eingrenzen‘ / ‚ausgrenzen‘, ‚begrenzt‘ (Territorium) / ‚unbegrenzt‘ (Solidarität).

Es hebt die Dichotomie auf von exterritorialem und territorialem Raum, statt abgeschottet zu sein, kann ein (Flüchtlings)Lager als integraler Aufenthaltsort installiert werden. Der zwischen Migranten und Einheimischen liegende Raum kann wie die Horváthsche „Brücke“ ein Ort der Versöhnung statt der Trennung sein.

Es rückt vor administratives, normatives Handeln111 individuelles, konkretes Verhandeln,112 vor prinzipielle Distanz113 individuelle Hilfsbereitschaft und Nähe.

Es stellt die Kriminalität bzw. Kreativität von Lösungen zur Debatte wie: illegaler Grenzübertritt,114 gefälschter Pass,115 Erpressung und Aggression, physische Gewalt.116 Denn Gesetz produziert Gesetzesverstoß.

Es wertet den pejorativen Begriff Schein-Ehe im Sinne einer Interessengemeinschaft auf. Die formaljuristische, auf Täuschung bzw. Betrug rekurrierende Auffassung von Schein-Ehe entbehrt einer belastbaren Nachweisbarkeit.117

Seiner gezähmten Märchenhaftigkeit entkleidet, birgt die ethische Dimension des utopischen Schlusses ein Lösungs- oder Rettungspotential, das der Dramatiker 1933 im Rückgriff auf idealistische und individualistische Konzepte formulierte:118 Humanität. Seine „Absicht“, so Horváth 1933 gegenüber der Wiener Allgemeinen Zeitung, sei es zu zeigen, „ […] wie leicht sich durch eine menschliche Geste unmenschliche Gesetze außer Kraft setzen lassen.“119 Solidarität, „Schlüsselwort für das Spätwerk Horváths“120 und ‚conditio humana‘, provoziert, über wohlfeile Moralität hinaus, soziale Praxis.

Die radikale Dimension des Stückes liegt in seinem Modellcharakter. Diesseits des konstruierten Happy Ends vollzieht sich ein Experiment auf Zivilität. Konfrontation, Unverständnis, Befremden, Irritation, Panik: Wie wenn es von Heinrich von Kleist stammte, überdeckt der Akt der Versöhnung fröhlich laut, was davor geradezu grausam vorangetrieben wurde. Die Grenzüberschreitung von Natur und Kultur legt bloß, wie fragwürdig die Emanzipation vom Naturzustand des Menschen ist.

Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische

Über die Grenze in Gustav Reglers Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus

Sikander Singh, Saarbrücken

Während seiner späten Jahre als Reisender hat er viele Grenzen überquert. Der 1898 in Merzig an der Saar geborene Schriftsteller und Journalist, Kommunist und Renegat, Spanienkämpfer und Exilant Gustav Regler hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das er in Mexiko erlebte, nicht mehr in die alte Heimat, das nunmehr befreite Deutschland, zurückgefunden. Darin gleicht sein Lebensweg denjenigen zahlreicher Intellektueller, die zwischen 1933 und 1945 die Einflusssphäre des sogenannten Dritten Reiches verlassen mussten, und denen die Fremde zwar nicht zur Heimat wurde, die Heimat aber zur Fremde.

Das für die emigrierten Schriftsteller Problematische hat nicht nur in der Forschung vielfach Beachtung gefunden, auch in Romanen und Erzählungen, Gedichten und Dramen sind diese Erfahrungen und ihre literarischen wie lebensweltlichen Konsequenzen reflektiert worden.1 Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich jedoch in dem Leben, das Gustav Regler in den Nachkriegsjahrzehnten führte, ein besonderes Moment, das einer Betrachtung wert ist. Dieser Beitrag wird deshalb zunächst einleitend über den Lebensweg des Schriftstellers nachdenken, um nachfolgend einige Gedanken zu seinem 1958 erstveröffentlichten, autobiografischen Lebensroman Das Ohr des Malchus zu entwickeln.

Nachdem Regler im Jahr 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, auf der Flucht vor der Gestapo über Worpswede und das Saargebiet – wie im Vertrag von Versailles geregelt, war das Industriegebiet an der mittleren Saar seit 1920 ein Mandatsgebiet des Völkerbundes –, nachdem Regler solchermaßen nach Paris emigrieren musste, war Europa für ihn zu einem Kontinent voller Grenzen geworden. Seine Internierung im Pyrenäenlager Le Vernet als Enemy Alien, als eine Konsequenz aus dem Kriegseintritt Frankreichs im Herbst 1939, dokumentiert dies ebenfalls sehr deutlich. Aber auch Mexiko, wohin er, gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau Marie Luise Vogeler, im Jahr 1940, mit einer Zwischenstation in den Vereinigten Staaten von Amerika, ausreisen konnte, erwies sich als ein begrenzter Ort. Hier musste er zwar nicht um sein Leben fürchten, aber die Reisemöglichkeiten waren aufgrund der politischen Situation wie aus finanziellen Gründen limitiert. Die Befreiung Deutschlands und Europas durch die Alliierten im Jahr 1945 bedeutete deshalb für ihn, wie für viele Emigranten, eine Befreiung aus dem Ort des Exils.

Vor allem zeigt sich diese wieder gewonnene Freiheit in den Reisen, die der Schriftsteller in den folgenden Jahren durch Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Afrika unternommen hat. In einer Welt, in der die politischen und ideologischen Konflikte, die sein Leben über viele Jahrzehnte bestimmt haben, überwunden sind, wird er zu einem Ruhelosen, für den die Reise von Ort zu Ort, über Ländergrenzen und Kontinente zu der einzigen Lebensform wird, die noch möglich ist – gleichsam als wäre die wiederholte Erfahrung der Flucht zu einem Teil seiner Person und seines Wesens geworden. Exemplarisch wird dies in einem späten Brief greifbar, den er am Weihnachtsmorgen des Jahres 1962, also nur wenige Wochen vor seinem Tod, in Beirut verfasste und an seine Schwester Marianne Regler-Schröder sandte:

[…] wir sind im privaten Wagen eine Woche durch Griechenland gefahren, waren oben in Delphi beim Orakel, fuhren über den Golf von Korinth nach Olympia, waren im uralten Mykenä und kamen über den Isthmus zurück nach Athen, wo wir am Abend das Flugzeug nach Cypern und hier nahmen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir in der Luft (was Dir wohl einen Schauder einjagt – solche Heiden! Aber beruhige Dich; der Flugkapitän wünschte alle halbe Stunde von seiner Kabine in allen Sprache[n], auch der von Homer und Sophokles, Merry Christmas, und das Radio war voll von Chorälen und über unserm Abendessen hing eine silberne Glocke mit weissbestreuten Tannenzweigen

Ich benutze den frühen Morgen in der Sonne des Mittelmeers, wo man Delphine springen sieht auf alte griechische Weise, Euch unsere Neujahrgrüsse zu senden.

[…]

Unsere nächste Adresse ab 3. I. für mindestens den ganzen Januar ist

American Express

New Delhi / India. […]2

Indem er zu Weihnachten, Fest der deutschen Innerlichkeit, an seine Familie in Merzig denkt und schreibt, aber zugleich mit dem Flugzeug von Griechenland über Cypern, den Libanon und die arabische Halbinsel nach Indien unterwegs ist, dokumentiert der Brief das Spannungsverhältnis zwischen der Erinnerung an die Heimat (und das mit ihr Verlorene) und den fortwährenden Grenzverschiebungen, die seine Existenz nunmehr bestimmen.

Weil Regler in den Jahren seines mexikanischen Exils einer Kultur begegnete, in welcher sich die ihm seit seiner Kindheit vertraute katholische Religion mit Traditionen und Riten der indianischen Kulturen durchmischte, vermochte das Fremde durch diesem inhärente Momente des Bekannten eine Faszination zu erlangen, die den Schriftsteller – zu einem Substitut für die verlorene Heimat werdend – zu einem Reisenden machten, der fortan auf der Suche war nach dem Eigenen im Fremden und Anderen. Er lebte während dieser späten Jahre in der unausgesprochenen, aber vergeblichen Hoffnung, im Transitorischen etwas Vertrautes zu finden und indem er beständig unterwegs war, bleiben zu können.

Seinen Tod als ein Sinnbild dieser Lebensform zu begreifen, ist nicht nur deshalb naheliegend, weil Regler sich – gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Margaret Paul – auf einer Studienreise durch Indien befand, als er am Nachmittag des 14. Januar 1963 starb. In seiner Autobiografie, die seit den 1940er Jahren in verschiedenen Arbeitsphasen und Fassungen entstanden ist,3 interpretiert er das eigene Leben einerseits im Sinne einer Zeugenschaft jener politischen Entwicklungen, Umbrüche und Verwerfungen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt haben. Andererseits erhebt der Text seine Biografie zu einem exemplarischen Lebensweg für die Verlusterfahrungen und Verunsicherungen des Menschen in der Moderne. Die These von der Sinnbildhaftigkeit seines Todes ist also ein Nachklang jener Verschränkung von gelebter Erfahrung und Literatur, die in der Erzählung seiner Lebensgeschichte programmatisch angelegt ist.

Diese metaphorische Dimension des 1958 von Kiepenheuer und Witsch in Köln verlegten Erinnerungsbuches wird auch in dem Diskurs über die Grenze sichtbar, von dem das Werk strukturiert und bestimmt wird. Im Ersten Buch des Ohr des Malchus erscheint die Grenze zunächst in dem Sinne jener Bedeutung des Wortes, welche die imaginäre Trennung zweier Territorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen Machtverhältnissen ihre Begründung findet, bezeichnet. So erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn in der Nähe seines Geburtsortes Merzig, zwischen Hilbringer Wald und Märchengrund, in Begleitung seines Vaters zu der lothringischen Grenze führten. Die programmatisch überformte und literarisch stilisierte Kindheitsbegebenheit hinterfragt das in den Übergängen vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene Konzept des Nationalstaates und dekuvriert auf diese Weise das Normative der Grenzziehung und der daraus resultierenden Distinktionen als Imagination, weshalb es künstlicher Merkmale und Kennzeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen.

Ostern zog er [der Vater] mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wichtige Umgebung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch?“ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen.4

Auch wenn Regler seine Heimatstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet – er selbst nennt es das „kleine Niemandsland zwischen dem Dritten Reich und Frankreich“5 – zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion einander sowohl wechselseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als bestimmend für sein literarisches Werk wie sein politisches Engagement.

Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapiteln seiner Autobiografie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus dieses große Thema seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der nationalistischen Verwerfungen und ideologischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie grundiert die Erfahrungen des Krieges, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront eine Gasvergiftung. In Das Ohr des Malchus inszeniert er sich demnach als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten und deshalb geistig ortlosen, verlorenen Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten; auch dort wurde er schwer verwundet. Schließlich zwang ihn der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich entfesselte Krieg, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu emigrieren.

Sein Erinnerungsbuch erzählt von diesen Erlebnissen und betrachtet die politischen und ideologischen Positionen, in deren Gravitationsfeldern sich das Leben des Schriftstellers bewegt hat. Der intellektuelle Internationalismus, den das Werk vertritt, erlangt durch den Rückbezug auf die Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eine Beglaubigung durch das eigene Leben: Indem das erzählte Ich bereits als Kind versteht, dass Grenzen gedachte Linien sind, dass sie politische und ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind, indem die für den Verlauf der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert so wesentliche Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein integraler Bestandteil der Lebenserzählung ist, verweist der Text auf das Metaphorische, das in den Bildern der Grenze und den Diskursen über Grenzverläufe zugleich angelegt ist.

Dieses Moment des Sinnbildhaften kontrastiert in der Autobiografie mit der Beschreibung realer Grenzen, die das erzählte Ich zu überqueren bzw. zu überwinden hat. So berichtet das Vierte Buch von einer Zugfahrt, die im Jahr 1933 aus dem Saargebiet, dem „Niemandsland des Völkerbundes“, nach Trier führte.6 Obwohl er sich des Riskanten und Gewagten bewusst ist, schließt er sich einer Gruppe von Gläubigen an, die in die Domstadt pilgern, um den Heiligen Rock zu sehen.

Täglich fuhren Pilgerzüge das Saartal hinunter, ohne sich um die Grenze zu kümmern. In den wenigen Monaten des Exils war mir der Gedanke in Fleisch und Blut übergegangen, daß das Dritte Reich identisch sei mit Terror, Gewalt und Verfolgung. Niemand von uns konnte sich getrauen, ins Reich zurückzukehren, ohne den Tod zu riskieren. Würden die Pilger die veränderte Luft riechen, wenn sie aus dem liberalen Saarland ins Reich der Diktatur fuhren? Ich wollte es selbst feststellen und schloß mich unter einem anderen Namen einem der Pilgerzüge an.7

Der Text inszeniert das Gefahrvolle des Grenzübertrittes mit retardierenden Momenten, indem der Erzähler von der Landschaft, den Pilgern im Zug und schließlich einem stattgefundenen Gespräch über die Passion Jesu Christi berichtet.8 Signifikant ist die Schilderung der Zugreise deshalb, weil der Gedanke der „veränderte[n] Luft“, den der Erzähler – zwischen Soliloquium und rhetorischer Frage die Balance haltend – formuliert, als eine Kontrafaktur auf den Spaziergang des Knaben mit dem Vater bezogen ist.9 Betont dieser das Immaterielle von Grenzen sowie die Fragwürdigkeit, die Schnittstellen zwischen Nationen durch Markierungen sichtbar und damit erst unterscheidbar zu machen, bezeichnet die Grenze hier die Differenz zwischen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes, und der Herrschaft der Gewalt und Willkür im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Solchermaßen inszeniert der Erzähler den Kontrast zwischen der Liberalität seines Denkens, die in Herkunft und Erziehung gründet, und seiner Epoche, die – das Trennende zwischen den Völkern und Staaten betonend – von dem (Un)Geist des Nationalismus bestimmt wird und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Die rhetorische Frage, welche die autobiografische Darstellung in das Zentrum dieser Zugfahrt rückt, dekuvriert den Internationalismus des Intellektuellen jedoch als eine schöne, aber vergebliche Hoffnung.

Im Fluchtpunkt dieser Erzählung liegt das Bild, das die Autobiografie von dem Tag zeichnet, an dem das Ergebnis der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 bekannt gegeben wurde. Das erzählte Ich hat auf Seiten der kommunistischen Partei für den Erhalt der bestehenden Rechtsordnung und damit für den Verbleib des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes gekämpft. Die sogenannte „Rückgliederung“ an das Deutsche Reich, für die über neunzig Prozent der Bevölkerung gestimmt hatte, bezeichnet deshalb einerseits die Niederlage einer humanistischen Idee; andererseits dokumentiert sie den progredienten Zerfall der europäischen Friedensordnung in der Zwischenkriegszeit. Für den politischen Schriftsteller, der seit dem November 1934 den Nationalsozialisten als Staatsfeind galt und deshalb verfolgt wurde, bedeutete sie auch die Notwendigkeit einer erneuten Flucht nach Frankreich. Das Symbolische, das in diesem Grenzübertritt liegt, der ein weiteres Mal ein Gang in das Exil ist, wird in der Darstellung durch das erzählende Ich in besonderer Weise herausgearbeitet. Über den Abend des 14. Januar 1935 heißt es in Das Ohr des Malchus:

Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernen. Auch daran dachte ich in diesem Augenblick.10

Die Flucht führt das erzählte Ich nicht nur über die räumliche Grenze nach Lothringen, in das sichere Frankreich, sondern auch über eine zeitliche in die Vergangenheit. Beide Bewegungen erscheinen im Text simultan; und beide vollziehen sich vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte, deren Folgen auch die Gegenwart des Erzählers noch bestimmen.

Die Erinnerung an den Krieg des Jahres 1870/1871, die mit dem Verweis auf den Großvater und dem Bild des Soldatenfriedhofes evoziert wird, deutet nur sekundär auf die sogenannte Reichsgründung nach dem Sieg der deutschen Staaten über die zweite französische Republik. Sie rekurriert primär auf die Haltung des Vaters, den Glauben seiner Epoche wie das Sinn- und Identitätsstiftende der Grenzen zu hinterfragen. In dem nächtlichen Grenzübertritt des erzählten Ich überlagern sich also zum einen zeitliche und räumliche Dimensionen, zum anderen die Flucht Gustav Reglers aus dem Saargebiet im Januar 1935 und die retrospektive, autobiografische Betrachtung bzw. Verortung derselben.

Der nachfolgende, das Kapitel beschließende Abschnitt nimmt weitere Aspekte der Grenz(land)thematik auf und setzt diese mit den zuvor genannten in Beziehung:

Ganz nah schon der Grenze fiel mir Kaganowitsch ein, der mich für den Fall unseres Sieges zu einem Fest nach Moskau eingeladen hatte. Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Der große Bär stand über dem Warndt, dort, wo die Maginot-Linie unterbrochen war. Ich begegnete weder einem Grenzwächter noch einem Nazi. Sie feierten alle. Aus dem Tal von Saarbrücken schossen Raketen; vom Winterberg glühte ein Freudenfeuer.11

Indem der einsame Weg, den das erzählte Ich durch Nacht und Kälte nimmt, mit den Bildern der Feiernden, der Raketen über dem Tal und dem leuchtenden Feuer über der Stadt kontrastiert, veranschaulicht der Text die Verlassenheit, die mit dem Gang in die Emigration verbunden ist. Der Grenzübertritt erscheint in dieser Lesart auch als ein Schritt in die soziale Isolation. Das Pathos, mit dem dies inszeniert wird, unterstreicht den Aspekt zusätzlich.

Zugleich wird das Persönliche, das in diesem Erleben liegt, mit dem Zeitgeschichtlichen in ein Verhältnis gesetzt. Denn die Nennung der von dem französischen Verteidigungsminister André Maginot zwischen 1930 und 1940 errichteten Verteidigungsanlage verweist auf die konfliktgeladenen deutsch-französischen Beziehungen in dem Jahrzehnt, das dem Zweiten Weltkrieg vorausging. Aber noch eine weitere Dimension der Erfahrung von Grenze wird in diesem Textabschnitt sichtbar: Die imaginäre Linie der politischen Landkarte, die Nationen, Macht- und Einflusssphären voneinander scheidet, aber keine Entsprechung in der Topografie der Landschaft hat, ist mit diesem Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg und dem Deutschen Reich dinghaft geworden. Dass der Erzähler bei seinem nächtlichen Grenzübertritt um eine Stelle weiß, „wo die Maginot-Linie unterbrochen war“, kann deshalb als ein Sinnbild für die Position des Schriftstellers zwischen Deutschland und Frankreich gelesen werden.12

Während die Natur solchermaßen von der Kultur verdrängt und überformt worden ist, richtet sich der Blick des erzählten Ich in dem Bericht über seine nächtliche Flucht auf den weiten, unbegrenzten Sternenhimmel. Vor dem Hintergrund politischer Ideologien, kriegerischer Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlicher Krisen verweist Reglers Erinnerungsbuch damit auf den Widerspruch zwischen der Existenz in der realen Geschichte und den idealen Möglichkeiten des Seins, die der Mensch zu denken vermag. Diese Ausweitung der Perspektive, die literatur- wie ideengeschichtlich in der Nachfolge der Dichtungen Matthias Claudius’ steht, ist daher auch als eine Metapher für die Vergeblichkeit einer Littérature engagée in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.13

Aus der Retrospektive der Nachkriegszeit unternimmt Gustav Regler den Versuch einer Einordnung seiner Arbeit als politischer Schriftsteller. Die metaphorische Funktion, welche die Grenze im Zusammenhang seiner Lebenserinnerungen hierbei gewinnt, hebt die Einsicht hervor, dass allem Trennenden stets ein Moment von Gewalt immanent ist. Einer Gewalt, mit der Menschen die Möglichkeiten anderer Menschen (aber auch ihre eigenen) einschränken und beschränken; einer Gewalt, die sowohl eine schirmende, schützende Funktion hat als auch limitierend wirkt. Durch das Zeugnis des eigenen Erlebens verleiht der Schriftsteller diesem humanistischen Gedanken eine Beglaubigung. Dass die autobiografische Darstellung zu Teilen von der historischen Wahrheit abweicht, sie verdichtet und überformt, stilisiert und inszeniert, ist für die Aussage wie Programmatik der literarischen „Lebensgeschichte“, wie Regler sein Werk im Untertitel charakterisiert, unerheblich.14

Der Diskurs über die Grenze, die paradoxe Mehrdimensionalität ihrer Bedeutungen sowie ihre politischen wie literarischen Implikationen bestimmen auch die weitere Gestalt des Erinnerungsbuches. Dieser Beitrag wird deshalb abschließend zwei Schilderungen betrachten, die weitere Aspekte des Themenkomplexes beleuchten. Da ist zunächst jener Abschnitt zu Beginn des ersten Kapitels des Fünften Buches anzuführen, in dem das erzählte Ich von einem Grenzübertritt von Frankreich nach Spanien berichtet. Im September des Jahres 1936 verlässt er mit anderen Freiwilligen Paris, um auf Seiten der Republik gegen den Staatsstreich der spanischen Faschisten zu kämpfen. In dem Weg, der ihn über die Pyrenäen zu den Internationalen Brigaden führt, wiederholt sich der Weg, den er, ebenfalls als Freiwilliger und ebenfalls von Paris kommend, in seine alte Heimat, an die Saar, genommen hat.

Das Ohr des Malchus ist nach dem narrativen Prinzip der Spiegelungen aufgebaut. Jede Erfahrung, jede Szene und jede Begegnung hat eine Entsprechung, die in einem Korrespondenzverhältnis zu ihr steht; die Abschnitte und Stationen des erzählten Lebensweges kommentieren einander. In diesem Sinne sind die politische Agitation im Saarkampf und das militärische Engagement im Spanischen Bürgerkrieg aufeinander bezogen. (Dies zeigt sich auch in der Rolle der kommunistischen Partei, über die das Buch in der Darstellung beider Lebensabschnitte nachdenkt und zu der das erzählte Ich seine eigenen Positionen in ein Verhältnis zu setzen sucht.)

Während die Begegnung mit der „SA auf dem Bahnsteig“ sowie mit Polizisten mit Hakenkreuzbinden in Serrig an der Saar als ängstigend und einschüchternd geschildert wird, hat die Szene mit dem französischen Douanier eine humoristische Qualität:15

Wir sahen schon den spanischen Milizionär hinter dem Grenzbaum stehen und fühlten, wir müßten vorwärtspreschen in seinen Schutz hinein, aber wir gehorchten dann doch dem Wink des französischen Zöllners und hielten. Er prüfte lange unsere Papiere. Dann kam die Mittagszeit, in der jeder Franzose von Kultur nur noch die Stimme des Magens hört. […]

Unser Beamter trat vor die Tür des kleinen Häuschens. „Ich fahre zum déjeuner“, sagte er. „Was während der Mittagspause hier geschieht, geht mich nichts an.“16

Die Darstellung spielt nicht nur mit klischeehaften Vorstellungen nationaler Eigenart, die seit dem späten 18. Jahrhundert tradiert worden sind. Indem der Grenzbeamte seinen persönlichen Ermessensspielraum nutzt, um dem erzählten Ich und seinen Gefährten zur Ausreise zu verhelfen, zeigt die autobiografische Erzählung Möglichkeiten eines notwendigen, weil moralisch richtigen Ungehorsams auf. Auf diese Weise veranschaulicht der Text eine der übertragenen Bedeutungen des Grenz-Begriffs: Das Zusammenleben von Menschen in sozialen Gemeinschaften wird durch Gesetze und Normen reguliert, welche die Entfaltung des Einzelnen einerseits befördern, andererseits limitieren. Die humane Haltung, die hinter der Genreszene in Reglers Erinnerungsbuch aufscheint, sieht im Wohlergehen des Menschen den Maßstab sittlichen Handelns: Grenzen und Begrenzungen sind lediglich dann sinnhaft, wenn sie eine Funktion im Hinblick auf den Menschen haben; kehrt sich diese Relation um, werden sie zu einem Instrument totalitärer Herrschaft.

Inwiefern die Frage nach der Freiheit des Individuums im Kontext des Diskurses über Grenzen fassbar wird, zeigt ein Abschnitt aus dem Sechsten Buch der Autobiografie. Dem erzählten Ich ist es – vornehmlich durch die Fürsprache namhafter Freunde – gelungen, Europa zu verlassen. Bevor er jedoch in die Vereinigten Staaten von Amerika einreisen darf, muss er einige Tage auf Ellis Island verbringen, jener der Stadt New York vorgelagerten Insel im Mündungsgebiet des Hudson River, auf der die Einwanderungsbehörde über die Einreiseerlaubnis für Immigranten entscheiden musste. Sowohl die Schiffspassage über den Atlantik als auch der Aufenthalt auf der Insel werden verkürzt wiedergegeben; der Erzähler fokussiert nicht die Erlebnisse der Reise, sondern ihr Ergebnis:

Acht Tage später waren wir in Ellis Island; ein Gefängnis, aber kein Luftalarm mehr; Eisengitter, aber kein Maschinengewehr davor. Manhattan leuchtete wie ein Versprechen. Luxusessen, nachts saubere Decken, am Morgen heiße Bäder. Nach zwei Tagen waren wir frei!17

An der Grenze der Vereinigten Staaten macht das erzählte Ich zwar die Erfahrung einer erneuten Gefangenschaft. Indem diese aber mit den Gefahren und Begrenzungen des europäischen Kontinents verglichen wird, verliert sie als ein transitorischer Zustand ihren Schrecken. Der letzte Grenzübertritt, von dem Das Ohr des Malchus erzählt, bezeichnet den Weg des erzählten Ich aus dem durch Grenzen zerschnittenen, zerteilten, zergliederten Europa in das freie, grenzenlose Amerika. Wenngleich diese Darstellung von einer ahistorischen Stilisierung bestimmt wird, zeigt sie die Funktion der Grenze als eine Zone des Übergangs. In diesem positiven Bild liegt die Einsicht, dass Grenzen als materialisierte Schnittstellen zwischen Staaten nicht nur Paradigmen der Spaltung, der Teilung und Trennung sind, sondern, indem sie dazu beitragen, Identität und Selbstbild einer Nation zu stabilisieren, Freiheit ermöglichen.

In der Erzählung seiner Lebensgeschichte denkt Gustav Regler über Grenzen als symbolische Repräsentationen nach, über das Recht des Einzelnen und die Begrenzungen seiner Möglichkeiten, über die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit als bestimmende Größe seiner Epoche. Schließlich regt die Autobiografie einen kritischen Diskurs über das Unrecht an, das jedem Versuch immanent ist, das kulturell Gemachte einer Grenzziehung absolut zu setzen.

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