Kitabı oku: «Hartmann von Aue», sayfa 6

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2.2.4. Die Lyrik: Überlieferung im Zeichen von mouvance und Performanz

Die Überlieferung der mittelhochdeutschen Lyrik ist grundsätzlich anders gelagert als die narrativer, epischer Texte. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mittelalterliche Lyrik stets mit einer spezifischen AufführungssituationVortrags--situationAufführung verbunden war. MinnesangMinnesang war, wie der Name schon nahelegt, keine ‚Leselyrik‘, sondern wurde vor Publikum vorgetragen, und diese PerformanzPerformanz sorgte dafür, dass die Texte schon von vornherein wandelbar waren, um dem Publikum und der Aufführungssituation angepasst zu werden. Wie genau sie aufgeführt worden sind, wissen wir heute zwar nicht mehr (zur Diskussion vgl. Boll 2007, pointiert zugespitzt die Thesen von Haferland 2000:65–90), doch zumindest sind für einige der Lieder auch Noten überliefert, so dass man davon ausgehen kann, dass sie als einstimmige Melodien vorgetragen wurden (vgl. zum Überblick Schweikle 1995:54–61, mit zahlreichen Literaturhinweisen). Der Vortrag kann zunächst durch die Dichter persönlich erfolgt sein, daneben gab es aber auch fahrende Sänger, die Texte ihrer ‚Kollegen‘ vortrugen.Vortrags--praxis Die Lieder des Minnesangs waren auf diese Weise noch das gesamte 13. Jahrhundert hindurch lebendig und sind wahrscheinlich auch nach dem Tod ihrer Dichter noch eine ganze Weile auf mündlichem Wege weitergegeben worden. Möglicherweise gab es gleichzeitig auch schon so etwas wie ‚Liederbücher‘, kleinere Sammlungen von Liedern verschiedener Autoren, die als Vortragshilfe benutzt werden konnten; erhalten geblieben ist davon freilich nichts mehr.

Es ist auffällig, dass etwa um 1300 fast zeitgleich mehrere umfangreiche Textsammlungen angelegt wurden, die drei wichtigsten sind heute die Weingartner LiederhandschriftLiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B) (B) sowie die kleineLiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A) (A) und die große Heidelberger LiederhandschriftGroße Heidelberger Liederhandschrift (C); letztere besser bekannt unter dem Namen Codex ManesseLiederhandschriftenCodex Manesse (C). Bei dieser handelt es sich um eine äußerst prachtvoll gestaltete, großformatige (etwa 35x25 cm) Handschrift, welche die einzelnen Lieder nach Autoren ordnet, wobei jedem Œuvre als ganzseitige Miniatur ein Bild Autorbild (Miniatur)vorangestellt wird, das den jeweiligen Autor zeigen soll (in idealisierter Form, keinesfalls als Portrait, → Abb. 1.2.). Genauso aufgebaut, allerdings in kleinerem Format (etwa Taschenbuchgröße) ist die Weingartner Liederhandschrift B (→ Abb. 1.1.), während A ebenfalls kleinformatig und nach Autoren geordnet, jedoch ohne Illustrationen angelegt ist. Mehrere Fragmente belegen, dass um diese Zeit offenbar noch Überlieferungweitere vergleichbare Sammlungen entstanden sind; offenbar war es knapp ein Jahrhundert nach dem Wirken der meisten Dichterpersönlichkeiten notwendig geworden, deren Texte schriftlich aufzuzeichnen und auf diese Weise zu bewahren. Dies scheint inzwischen losgelöst von einer konkreten Aufführungssituation geschehen zu sein, da Melodien selten mitüberliefert sind; freilich wäre es trotzdem denkbar, dass die Melodien aus dem Gedächtnis heraus noch bekannt waren und die Lieder weiterhin zur Aufführung kamen – immerhin werden in den Handschriften noch sogenannte Töne, also Melodievorgaben, genannt.Vortrags--praxis

LiederhandschriftenCodex Manesse (C)LiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B)LiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A)Hartmanns Lieder (→ Kap. 3.) sind in allen drei großen Handschriften überliefert, doch (man ahnt es schon) wiederum in großer Varianz. Schon die Anzahl der Strophen ist höchst unterschiedlich. C überliefert unter dem Namen Hartmanns insgesamt 60, B 28 und A nur 10 Strophen, wobei Reihenfolge und Wortlaut teils weit auseinandergehen. Acht der insgesamt 18 Lieder finden sich ausschließlich in C, die damit die vollständigste Sammlung präsentiert. Doch bei den Liedern, die mehrfach tradiert sind, geht die Überlieferung z.T. weit auseinander. Stellvertretend sei ein typisches Beispiel genannt: Das Lied I (Sît ich den sumer truoc riuwe unde klagen, MF 205,1) ist in B und C überliefert. In B steht es gleich an erster Stelle des Hartmann-Œuvres und besteht aus lediglich zwei Strophen: In der ersten beklagt das Sänger-Ich seine unerfüllte Liebe zu einer Dame, die es am Ende deshalb anklagt; in der zweiten Strophe bezichtigt sich das Sänger-Ich statt dessen selbst und gibt sich die Schuld an der unglücklichen Situation. In C gibt es dagegen gleich vier Strophen: Nach den beiden auch in B überlieferten Strophen schließen sich zwei weitere an, die allerdings inhaltlich keine Neuerung bieten, sondern die ersten zwei Strophen lediglich variieren; erneut geht es um Klage (Str. C 3) und um Selbstanklage (Str. C 4). Auch hier ist nicht zu entscheiden, welche die ‚ursprüngliche‘ Version war. Möglich wäre, dass in B Strophen verlorengegangen sind. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass es sich stets um ein nur zweistrophiges Lied gehandelt hat, das allerdings variabel gestaltet war (so Kühnel 1989:13f.). Je nach Publikum und AufführungssituationVortrags--situation konnte der Sänger die Strophen austauschen, also die 3. Strophe statt der 1. oder die 4. statt der 2. wählen, die jeweils Variationen eines Themas (Anklage der Frau, Selbstanklage) sind. Dazu würde passen, dass C zwischen der zweiten und dritten Strophe noch ein ÜberlieferungVerweiszeichen eingefügt hat (→ Abb. 2.11.), das sich auf eine auf dem nächsten Blatt nachgetragene Strophe bezieht, welche erneut eine motivliche Variation der (in B und C) zweiten Strophe (Selbstanklage des Sänger-Ichs) beinhaltet. Während der Schreiber/Kompilator der Handschrift B entweder nur die eine Variante kannte oder sich auf eine bestimmte festgelegt hatte, kam es dem der Handschrift C darauf an, möglichst alle Variationen zu bewahren. Die nachgetragene Variationsstrophe wäre ihm dann möglicherweise erst später, z.B. aus einer anderen Vorlage, bekannt geworden und der Vollständigkeit halber mit Verweiszeichen auf das entsprechende Lied an anderer Stelle nachgetragen worden. LiederhandschriftenCodex Manesse (C)LiederhandschriftenWeingartner Liederhandschrift (B)LiederhandschriftenKleine Heidelberger Liederhandschrift (A)

mouvanceSchon an diesem Beispiel zeigt sich, wie sehr der performative Akt der Aufführungspraxis Vortrags--praxisdie Überlieferung der Lieder beeinflusst haben dürfte – zumal deren Aufzeichnung deutlich später und vermutlich abgekoppelt von der eigentlichen Darbietung stattgefunden hat; die großen Liederhandschriften bilden viel eher Sammlungsinteressen denn Aufführungsabsichten ab. Von den Liedern sollte offenbar möglichst alles, was noch bekannt ist, erhalten werden, was dazu führte, dass entweder alle verfügbaren Varianten aufgezeichnet wurden (wie im oben beschriebenen Fall von C) oder nur eine bestimmte (wie in B). Ein derartiger Befund ist typisch für die mittelhochdeutsche Lyrik-Überlieferung, wobei nicht nur die Strophenanzahl variabel sein kann, sondern auch die Reihenfolge der Strophen. Variationsmöglichkeiten wie oben beschrieben sind dafür nur eine Erklärung; durch Weglassen oder Hinzufügen bestimmter Strophen können natürlich auch ganz andere Aussagen entstehen, ebenso durch die Reihenfolge, wie sich z.B. am Lied II zeigt (Swes vröide an guoten wîben stât, MF 206,19): In allen drei Handschriften ist es mit drei Strophen überliefert, in A und C in der gleichen, in B jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Die Strophenfolge in A und C ergibt eine typische Klage über das (‚Minne-‘)Paradox, dass die Frau für das Sänger-Ich unerreichbar bleibt, während die umgekehrte Strophenfolge in B nicht in Klage endet, sondern mit der halbwegs Überlieferungoptimistischen Aussicht der vröide an guoten wîben.

Abb. 2.11.

Beginn des Hartmann-Œuvres in der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) mit einer Markierung zwischen der zweiten und dritten Strophe (linke Spalte).

Dieses als mouvancemouvance bezeichnete Phänomen, das die Beweglichkeit der Strophen innerhalb der mittelhochdeutschen Lyriküberlieferung kennzeichnet, hängt ebenfalls mit der bereits beschriebenen Diskrepanz zwischen der Aufzeichnung des bloßen Textes und der Aufführungssituation zusammen. Vortrags--praxisWährend die Sänger die Lieder bei der Darbietung immer wieder variieren, neu gestalten, verändern, anpassen und damit flexibel auf das Publikum reagieren konnten, geht eine solche Flexibilität bei der schriftlichen Aufzeichnung verloren. Diese mitunter auch spontane Möglichkeit der Variation abzubilden, ist in der Schrift unmöglich – ebenso wenig wäre es möglich, um ein modernes Beispiel anzubringen, ein Drehbuch für die Aufführung einer Stand-up-Comedy zu schreiben. Verschriftlicht werden die Lieder vielmehr statisch, sie bilden gewissermaßen nur eine spezifische Möglichkeit der Aufführung, eine spezielle Lesart ab, oder sie versuchen, wie es der prachtvolle Codex Manesse tut, möglichst alle Varianten zu erfassen, was die sich aus dem Augenblick der Performanz heraus ergebende Flexibilität und Beweglichkeit der Lyriktexte aber erst recht nicht abzubilden vermag.

Doch nicht nur die Überlieferung der Lieder an sich, ihre Strophenzahl und -reihung sowie teilweise Überlieferungauch ihre inhaltliche Ausgestaltung erweisen sich als äußerst variabel, sondern sogar die Autorzuschreibung ist bisweilen offen. So ist das Lied XII (Dir hât enboten, vrouwe guot, MF 214,34) in A und C unter Hartmanns Namen überliefert, und zwar als dreistrophiges Lied. Das gleiche Lied taucht noch in einer anderen Handschrift, dem sogenannten Hausbuch des Michael LeoneHausbuch des Michael LeoneLiederhandschriftenWürzburger Liederhandschrift (E) (E) auf – dort aber in einer Sammlung von Liedern Walthers von der Vogelweide. Die ersten drei Strophen stimmen mit den in A und C unter Hartmanns Namen überlieferten überein, danach folgt noch eine weitere Strophe, die in einer anderen, nur fragmentarisch überlieferten Handschrift LiederhandschriftenHaager Liederhandschrift (s)(s) ebenfalls WaltherWalther von der Vogelweide zugeschrieben wird (aber als Einzelstrophe, also ohne in den Kontext eines größeren Liedes gestellt zu werden). Eine Strophe im gleichen Ton, die gewissermaßen auf Hartmanns Lied parodistisch zu reagieren scheint, findet sich zusätzlich noch in C und E unter den Liedern Walthers. Es wäre also möglich (so Kühnel 1989:29), dass Walther von der Vogelweide Hartmanns Lied aufgegriffen und parodiert hat, wobei C dann das eigentliche Lied unter Hartmanns Namen, die ‚Parodie-Strophe‘ aber unter Walthers Œuevre überliefert hätte, während E das komplette Lied allein Walther zuschrieb.

Doch auch das muss notwendigerweise Spekulation bleiben. Es kommt häufig vor, dass die Handschriften die gleichen Lieder oder einzelne ihrer Strophen unterschiedlichen Autoren zuschreiben – vermutlich, weil auch hier die Aufführungspraxis Vortrags--praxisso gewesen sein könnte, dass die Sänger (besonders wenn sie ihre eigenen Lieder vortrugen) auch Lieder der Konkurrenten aufgriffen und entsprechend verarbeiteten. So wird das Lied XVIII (Wê, war umbe trûren wir, 38MF:429f.) in verschiedenen Handschriften mal Hartmann, mal Walther und einzelne Strophen sogar ReinmarReinmar der Alte zugeordnet. Dennoch zeigt gerade die Lyrik-Überlieferung, dass es durchaus einen ausgeprägten Autor- und Werkbegriff gegeben hat, sind doch die Handschriften meist nach Autoren geordnet, auch wenn nicht immer alle Werke konsequent den gleichen Dichtern zugewiesen werden. Das freilich dürfte eng mit der mündlichen Aufführungssituation zusammenhängen, deren Eigenheiten im Zuge der Verschriftlichung kaum mehr abgebildet werden können.

2.3. Fazit

Am Phänomen der mouvancemouvance und der unterschiedlichen Autorzuschreibung mancher Lieder zeigt sich vielleicht Überlieferungam deutlichsten, dass die Sicht auf den Autor und sein Werk im Rahmen der mittelalterlichen Überlieferung in einem ganz anderen Lichte erscheint als in der Neuzeit. Wir sind es gewohnt, einem Autor ein festes Œuvre zuzuweisen, seine Werke gedruckt und gebunden zu lesen, und wir erwarten, dass diese Werke in dieser Form unveränderlich feststehen. Auch wenn die Lyrik-Handschriften genau das abzubilden scheinen, sind all dies Eigenschaften, die für die mittelalterliche Literatur so nicht gelten. Wenn wir heute Hartmanns Werke in modernen Ausgaben präsentiert bekommen, so erzeugt dies lediglich die Illusion eines modernen Buches. Was wir darin als Text lesen können, ist hingegen stets nur eine Möglichkeit dessen, was die mittelalterliche handschriftliche Überlieferung tatsächlich zeigt: Mittelalterliche Textualität ist viel stärker von einem offenen Werkbegriff und Textverständnis Textgeprägt.

Das gilt analog für das uns heute vertraute Konzept von AutorschaftAutorschaft, das viel weiter gefasst werden muss. Die besonders im Sturm und Drang idealisierte Vorstellung eines ‚Originalgenies‘Originalität, das alle künstlerische Schaffenskraft allein aus sich selbst hervorbringt, existiert im Mittelalter nicht – im Gegenteil: Hier ist es vielmehr entscheidend, sich auf bereits Bestehendes zu beziehen, also nichts Neues zu erschaffen, sondern das Traditionelle, Bekannte und Erprobte zu bewahren, weiterzuentwickeln und den veränderten Bedürfnissen anzupassen. Ein mittelalterlicher Autor schafft Neues nur auf vertrautem Boden. Neu mag vielleicht die Form sein, weniger aber der Inhalt, der aus bewährten Traditionen übernommen wird, von denen der Dichter übersetzt, auswählt und umformuliert. Seine Leistung begreift er dadurch nicht so sehr als die eines Schöpfers denn als die eines Gestalters und Vermittlers. So ist es auch nicht erstaunlich, dass die drei größeren Erzählwerke Hartmanns (‚Ereck‘, ‚Iwein‘ und ‚Gregorius‘) auf französische Vorlagen Vorlagefranzösischezurückgehen, die für ein deutschsprachiges Publikum entsprechend umgeformt wurden. Dadurch verschwimmt die Rolle des Autors mit der des Übersetzers, Redaktors und des Kompilators. Denn da Texte losgelöst vom Autor verfügbar sind, sind sie von Anfang an Veränderungen unterworfen, sei es durch den Autor selbst, sei es durch Bearbeiter in einer späteren Rezeptionsstufe.

Was bedeutet dieses unterschiedliche Werk- und Autorverständnis nun aber für die Interpretation der Texte? Lassen sich unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch literaturwissenschaftliche Analysen betreiben? Mit gutem Recht schreiben wir die einzelnen Werke ja dennoch Hartmann von Aue zu: Dass es so etwasÜberlieferung wie ein Autorverständnis, wenn auch ein wenig anders als heute, auch im Mittelalter gegeben hat, belegen die nach Autoren geordneten Lyrik-Handschriften ebenso wie das Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch, das ja ein regelrechtes Hartmann-Œuvre zusammenstellt. Freilich kann eine Interpretation der Werke Hartmanns nicht im herkömmlichen, ‚modernen‘ Sinne erfolgen. Da wir über Hartmann ohnehin wenig gesicherte Informationen besitzen, rückt der Autor selbst aus dem Fokus der Interpretation. Die mitunter zahlreichen und sehr verschiedenen Fassungen und Varianten machen es zudem kaum möglich, zwischen ‚Original‘ und ‚Bearbeitung‘ zu unterscheiden.

Dennoch gilt es, literaturwissenschaftlich einen pragmatischen Umgang mit den Werken Hartmanns (und generell mittelalterlichen Texten, die ja den gleichen schwierigen Bedingungen unterworfen sind) zu finden – es macht schließlich nur selten Sinn, stets alle möglichen Textvarianten mit einzubeziehen. Wenn wir also Hartmann interpretieren, dann gehen wir letztlich von einem Autor- und Werkverständnis aus, das es zur damaligen Zeit wohl durchaus gab, das in dieser Form für uns aber nicht mehr greifbar ist. Das zeigt sich am deutlichsten bei den TextausgabenEdition: Anders als die Editionsphilologie des 19. Jahrhunderts gehen die kritischen Ausgaben der Werke Hartmanns inzwischen nicht mehr davon aus, so etwas wie ein ‚Autororiginal‘Fassungautorisierte F. zu rekonstruieren. Sie bieten vielmehr eine Art pragmatischen Kompromiss: unter Einbeziehung aller Fassungen und Varianten wird ein Text erstellt, der möglichst vielen Merkmalen entspricht, die nach dem Konsens der Forschung für Hartmanns Werke bedeutsam sind. Je nach Gewichtung der einzelnen Kriterien kann es dann aber durchaus zu unterschiedlichen Ausgaben mit abweichenden Textvarianten kommen.1 Darum ist es entscheidend, bei der Interpretation stets auch den Überlieferungsbefund mit zu bedenken und zu berücksichtigen – oder sich zumindest darüber im Klaren zu sein, dass der Text, den man interpretiert, nur eine von z.T. unterschiedlichen Überlieferungsvarianten darstellen kann und dass das, was sich am Ende zwischen zwei Buchdeckeln findet, stets nur eine Möglichkeit der mittelalterlichen Rezeption abbilden kann, kaum aber die tatsächliche, sozusagen ‚ursprüngliche‘ Gestaltung des Autors. Wenn man sich aber im Klaren darüber ist, dass die handschriftlichen Überlieferungen unserer Texte selbst bereits Rezeptionszeugnisse darstellen und die darauf basierenden Editionen bis zu einem gewissen Grade hypothetische Konstruktionen sind, die ihrerseits selbst bestimmte Interpretationsansätze verfolgen (man denke an die differierenden Schlüsse des ‚Iwein‘), so steht einer literaturwissenschaftlichen Analyse und Interpretation dieser Werke nichts im Wege. Überlieferung

Weiterführende Literatur: Ein vollständiges Verzeichnis der Überlieferungszeugen von Hartmanns Werken bietet das → Verzeichnis der Handschriften und Fragmente. Die Iwein-Schlüsse diskutiert Schröder 1997, mit Präferenz für den Kniefall als ‚ursprünglich‘; dem widerspricht Hausmann 2001. Die Varianzen der unterschiedlichen Schlussfassungen v.a. in den spätmittelalterlichen Handschriften diskutieren Krusenbaum/Seebald 2012. Den Überlieferungskontext des ‚Armen Heinrich‘ bereiten Hammer/Kössinger 2012 auf, die interpretatorischen Unterschiede zwischen den Fassungen A und B erläutert Schiewer 2002. Die problematische Überlieferung des ‚Ereck‘ im Ambraser Heldenbuch greift Bumke 2006 auf, die Schwierigkeiten der Fragment-Überlieferung und einer möglichen zweiten ‚Ereck‘-Dichtung erörtern Nellmann 1982 und 2004 sowie Gärtner 1982 und 2004. Hess 2011 stellt Überlegungen zum Beginn des ‚Ereck‘ und der Kompilation mit der ‚Mantel‘-Erzählung an. Kühnel 1989 untersucht Hartmanns Lyrik vor dem Hintergrund ihrer Überlieferungsvarianz.

B Poetologische Zugänge I – Lyrische und rhetorische Formen

3. Gesungene Geschichten? Hartmanns Lyrik

Jens Haustein

Abstract: Der Beitrag wirft in einem ersten Teil zunächst einen Blick auf die Überlieferung von Hartmanns Liedern, dann auf formale Aspekte und Probleme der zeitlichen Einordnung. Anschließend werden die Lieder kurz inhaltlich charakterisiert. Der zweite Teil legt mehrere Lieder Hartmanns als angedeutete Erzählungen mit einer Zeit- und Raumstruktur aus und verbindet dies abschließend mit ihren in der Forschung oft kritisierten reflexiven Momenten.

3.1. Überblick

MinnesangUnter Hartmanns Namen sind 18 Lieder mit 60 Strophen überliefert. Dieses nicht sonderlich umfängliche Œuvre hat in der Forschung deshalb eine besondere Aufmerksamkeit erfahren, weil es mehrere Lieder umfasst, in denen die konzeptionellen Voraussetzungen des Minnesangs selbst diskutiert werden. Die ältere Forschung hat Hartmanns Minnelyrik deshalb als ‚leidenschaftslos‘ oder ‚kühl‘ beurteilt, die jüngere gelegentlich als ‚intellektuell‘ (Reusner 1985:171), ‚sentenziös‘ und ‚rhetorisch‘ (Salmon 1971, Urbanek 1992) oder ‚didaktisch‘ (Kasten 1995:731), bestenfalls ‚ironisch‘ (Mertens 1978c:326). Bei dieser Beurteilung hat stets die Nähe zu den Erzählwerken, besonders der ‚Klage‘ und dem ‚Iwein‘, eine wichtige Rolle gespielt. Hinzu kommt, dass man das kleine Œuvre in einer Absage an den Minnesang in Lied XV (MF 216,29)1 und in der Wendung hin zum Kreuzzugsthema in Lied XVII (MF 218,5), Kreuzzug / -sthemadem sogenannten dritten Kreuzlied, kulminieren sehen wollte. Diese ‚Biographisierung‘ der hartmannschen Lyrik liegt auch den beiden – heute kritisch beurteilten – Versuchen zugrunde, die Lieder zyklisch zu einem Liebesroman mit einem Ende zu ordnen, das der weltlichen minne absagt und sich stattdessen einer religiösen minne zuwendet (Kienast 1963, Blattmann 1968, auch Wapnewski 21964:30–32). Auch wenn am Ende keine Absage Hartmanns an Minne und Minnesang als letztes Wort gestanden haben muss, diskutiert er doch durch seine Protagonisten – den Erzähler, die Dame oder das Ich – die Voraussetzung und Bedingungen der Gattung Minnesang in einer dann erst wieder bei Walther von der VogelweideWalther von der Vogelweide anzutreffenden Radikalität, und er verbindet diese Gattungsdiskussion mit fragmentarisch erzählten Geschichten.

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