Kitabı oku: «Kontakt als erste Wirklichkeit», sayfa 2
2. Innen, Außen, Zwischen: Das ›Inter‹ als neue Kategorie der Metapsychologie
Das Individuum entwickelt sein Seelenleben nicht wie der Apfel aus dem Kern und wird ebenso wenig durch ein genetisches Programm wie durch Triebschicksale determiniert. Das naturalistische Entwicklungsmodell, demzufolge der Einzelne seine im biologischen Substrat enthaltenen psychischen Dispositionen lediglich entfaltet, verfehlt ebenso wie das kulturalistische Modell sozialer Prägung den eigentümlichen Charakter der conditio humana: Die Menschwerdung verdankt sich in hohem Maße einem ständigen Austausch zwischen dem Individuum und einer soziokulturellen Umwelt, die nicht zuletzt aus anderen Subjekten besteht. Jedes menschliche Wesen wird soziobiologisch wie mental in Gattungsbeziehungen hineingeboren und entwickelt sein Selbst im Rahmen dieser Beziehungen: durch narzisstisch, libidinös oder aggressiv gefärbte Bindungen, durch Akte der Identifizierung und Abgrenzung, durch soziales Feedback und andere reflexive Mechanismen, durch Anpassungszwänge und Widerstandsleistungen hindurch.
Ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis im Sinne einer schlichten Kausalität existiert im Seelischen nicht. Die menschliche Psyche wird nicht hergestellt. Der einzelne Mensch ist nicht das Produkt seiner Natur, aber auch nicht das Produkt von Umständen. Er ist überhaupt kein Produkt – weder das genetisch programmierte Ergebnis bestimmter Sequenzen auf der Doppelhelix noch das Ergebnis in der Tiefe des Unbewussten wirkender Triebkräfte. Andererseits entstehen individuelle seelische Strukturen, die als Ensemble auf der mentalen Hinterbühne wirken und die Persönlichkeit ausmachen, auch nicht aus eigener Schöpfungskraft: Das Subjekt generiert sich nicht selbst und schon gar nicht aus freien Stücken (wie etwa in der romantischen Idee vom Selbstentwurf gedacht). Paradoxerweise individuiert sich der Einzelne gerade dadurch, dass er sich seine lebensgeschichtlich kontingenten Erfahrungen mit sich selbst und anderen intrapsychisch aneignet.
Im Prozess seiner Individuierung verwandelt der Mensch die von den Biowissenschaften unterstellte »Kausalität der Natur« in eine »Kausalität des Schicksals«, und zwar auf dem Wege der Selbstaufklärung, die ihn dazu nötigt, Verantwortung für seine eigene Biografie zu übernehmen (vgl. Habermas 2005, im Anschluss an Kant und Hegel). In diesem Sinne könnte man den psychoanalytischen Prozess als eine nachholende Aneignung der eigenen Lebensgeschichte durch den Patienten begreifen, der zuvor mit seinem Leben hadert und die Verantwortung dafür an seine genetische Ausstattung, an die mangelhafte Erziehung durch seine Eltern, an die Schwächen der gesellschaftlichen Bildungssysteme, an seine ökonomische Unterprivilegierung oder an die sozialen Verhältnisse im Allgemeinen abgeben mochte.
Gewiss ist der zunächst relativ hilflose Säugling in einem elementaren Sinne von Pflege und Versorgung abhängig. Aber von Geburt an besteht er darauf, Rückmeldungen auf seine Lebensäußerungen zu erhalten – und zwar nicht nur in Gestalt der Befriedigung seiner unmittelbaren Existenzbedürfnisse (Nahrung, Wärme, Sicherheit), sondern auch Antworten, die ihm eine Rückmeldung zu den Wirkungen seiner eigenen Aktivitäten bieten, signifikante Reaktionen seiner Bezugspersonen im Sinne einer Bestätigung, eines Echos oder einer Spiegelung. Dieses Bedürfnis nach Reflexion im Anderen begleitet das werdende Subjekt und bleibt ihm lebenslang erhalten. Als Wunsch nach intersubjektiver Anerkennung gehört es offenbar zu unserer mentalen Grundausstattung und schlägt in einer Ökonomie der Aufmerksamkeit so manche lebensweltliche Kapriolen. So hat sich in den interaktiven Formaten des Fernsehens oder in den sozialen Netzwerken im Internet eine panoptische Kultur etabliert, die an dieses Grundbedürfnis, von anderen gesehen zu werden, andockt – gelegentlich bis zur Auflösung jeglicher Schamgrenze (vgl. Altmeyer 2003).
Was Freud noch als Stufen der Libidoentwicklung unter dem Begriff der »Triebschicksale« zu erfassen suchte, würden wir heute eher als »Beziehungsschicksale« begreifen: Interaktionserfahrungen, die sich in die Psyche des Individuums auf reflexivem Wege einschreiben. Denn erst in der Interaktion mit seiner sozialen Umwelt gewinnt der Mensch eine Ahnung davon, wer er ist. Durch seine Beziehungen hindurch erwirbt er ein Verhältnis zu sich selbst und zur Welt. Es ist die psychische Sedimentierung seiner Beziehungserfahrungen, die die eigene Persönlichkeit formen. Bis ins hohe Alter bleibt der Mensch auf diesen Kontakt zu anderen angewiesen, wenn er seelisch gesund bleiben will.
Wenn solche intersubjektiv vermittelten seelischen Bildungsprozesse aus der Bahn geraten oder gar entgleisen, sprechen wir von psychischer Störung oder Krankheit. Dann finden wir auf der klinischen Ebene die intersubjektive Dimension auch in der Psychopathologie. In aller Regel gilt: Wo die Beziehungen zur sozialen Umwelt gestört sind, erkrankt auch die Seele, und wo die Seele erkrankt, sind auch die Beziehungen zur sozialen Umwelt gestört.
3. Im klinischen Fokus der zeitgenössischen Psychoanalyse: Die psychotherapeutische Beziehung
Was für das normale Seelenleben gilt, hat Gültigkeit auch für jene seelischen Erkrankungen, mit denen wir es in aller Regel im Behandlungszimmer zu tun haben. Sie werden nicht länger als isolierte Normabweichungen im Rahmen eines bestimmten Krankheitsmodells verstanden, sondern als Resultat einer gestörten Beziehungsgeschichte, die in neurotischen und psychotischen Symptomen, Borderline-Strukturen oder anderen Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten mit Krankheitscharakter ihren Niederschlag gefunden hat. Solche Einsichten verändern unser Verständnis der psychotherapeutischen Situation ebenso wie unser Selbstverständnis als Therapeuten.
Vereinfacht gesagt steht klinisch nicht mehr der intrapsychische Konflikt des Patienten im Zentrum, den der Therapeut qua Deutung aufzulösen hat, sondern die Beziehung zwischen Patient und Therapeut, in der sich das problematische Verhältnis des Patienten zur Welt und zu sich selbst entfaltet. In der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung, aber auch in den vielfältigen Enactments, die den therapeutischen Prozess begleiten, erkennen wir Beziehungsangebote des Patienten, in die wir uns unvermeidlich verwickeln lassen und die wir eben deshalb gemeinsam mit ihm bearbeiten können.
Zwar bleibt die psychotherapeutische Beziehung auch in dieser Neujustierung asymmetrisch, weil Analytiker und Analysant nach wie vor in unterschiedlichen Rollen am analytischen Prozess beteiligt sind. Sie bekommt aber eine egalitäre Färbung, weil der Analytiker der Wechselseitigkeit in der Beziehung mehr Aufmerksamkeit widmet, z. B. lässt er den Patienten an seinen therapeutischen Überlegungen teilhaben. Indem er seine Deutungen als probatorisch deklariert, anstatt sein Wissen mehr oder weniger autoritativ anzuwenden, verringert sich das Machtgefälle. Dass er sich – anders als in der klassischen Psychoanalyse – mehr im »Hier und Jetzt« bewegt und stärker als Person, als emotional engagierter und mitfühlender Teilnehmer zu erkennen gibt, verändert auch die Atmosphäre in der psychoanalytischen Situation.
Diese Entwicklung hat freilich auch eine Kehrseite. Bestand das Ziel der Kur früher darin, den Patienten in die Lage zu versetzen, am Ende der Behandlung seine wirkliche Lebensgeschichte möglichst wahrhaftig zu erzählen, haben sich einflussreiche Schulen der Psychoanalyse im letzten Vierteljahrhundert von der Leitidee einer lebensgeschichtlichen Rekonstruktion zunehmend entfernt: In der psychoanalytischen Moderne wird eher konstruiert als rekonstruiert. Wo Übertragung einst als Widerstandsphänomen gegen unerträgliche Erinnerungen galt, geraten tatsächliche Erinnerungen unter Verdacht, im Dienste des Widerstands gegen die Übertragungsbeziehung zu stehen.
In der auf Melanie Klein und Winfried Bion zurückgehenden Schule der Objektbeziehungstheorie geht es nahezu ausschließlich um die Beziehungsdynamik in der analytischen Situation: »History is rumor« (Bion). Es verwundert deshalb nicht, dass wir in manchen ihrer Falldarstellungen mehr über die Feinheiten des therapeutischen Mikrokosmos erfahren als über die wirkliche Biografie des Patienten. Und in den narrativen Ansätzen, die sich auf die phänomenologisch-hermeneutischen Traditionen der Philosophie berufen, wird gemeinsam mit dem Patienten bloß noch eine kohärente Geschichte erzeugt, ein Narrativ, das ohne Bezug zur außersprachlichen Wirklichkeit auszukommen meint.
Im amerikanischen Intersubjektivismus wiederum neigt man epistemologisch einem radikalen Konstruktivismus zu, der Subjektivität und Intersubjektivität so stark in den Blick nimmt, dass Objektivität in Gestalt von lebensgeschichtlicher Vergangenheit und äußerer Realität weitgehend ausgeblendet wird. Dabei genügt ein »schwacher« Konstruktivismus (vgl. Cavell 2006), um den seelischen Paradoxien im Sinne Winnicotts erkenntnistheoretisch gerecht zu werden. Was Winnicott als lebenslange Aufgabe des Einzelnen betrachtete, nämlich innere und äußere Realität voneinander getrennt und doch in Verbindung zu halten, gilt auch für die psychoanalytische Situation: Wie der Säugling eine objektive Außenwelt vorfindet, die er subjektiv dennoch erfinden muss, wird die tatsächliche Vergangenheit des Patienten unter Mitwirkung des Therapeuten rekonstruiert und zugleich konstruiert. Es gibt eine biografische Wahrheit, nach der beide am therapeutischen Prozess Beteiligten suchen – und die sie in demselben Prozess gemeinsam neu erschaffen.
Ungeachtet aller Unterschiede hat gerade die Konzentration der Gegenwartspsychoanalyse auf das Beziehungsgeschehen in der analytischen Situation die Kluft zu psychotherapeutischen Verfahren anderer Provenienz verringert. In dem Maße wie die therapeutische Interaktion in den Fokus gerät, ergeben sich Annäherungen an nicht-psychoanalytische Therapieverfahren wie die Gesprächspsychotherapie, die Gestalttherapie oder bestimmte Spielarten der Körperpsychotherapie (vgl. den ausgezeichneten Übersichtsband zum Körpergeschehen in der psychoanalytischen Therapie von Geißler und Heisterkamp, 2007), die dem »Hier und Jetzt« in der therapeutischen Beziehung immer schon Bedeutung zuerkannt haben. Bei allen Unterschieden in klinischer Theorie und therapeutischer Praxis nähert man sich einander an, ohne dass sich schon von einer Konvergenz der Psychotherapieschulen sprechen ließe.
Bestätigt wird diese Entwicklung durch den Zentralbefund der komparativen Psychotherapieforschung. Der entscheidende Faktor für die Wirksamkeit einer Psychotherapie scheint weniger die psychotherapeutische Methode zu sein als vielmehr die Person des Therapeuten und damit die therapeutische Beziehung. Diese Einsicht sollte die gesamte Profession ermuntern, die alten Schlachtfelder zu verlassen und sich in komparativen Studien dem Beziehungsgeschehen in der Psychotherapie zu widmen.
Frank-M. Staemmler
Kontakt als erste Wirklichkeit – Intersubjektivität in der Gestalttherapie1
Eine Person … ist ein Individuum, das wirklich mit dieser Welt lebt …, in echter Wechselbeziehung mit der Welt in allen Berührungspunkten, in denen der Mensch mit der Welt zusammentreffen kann. (Martin Buber in: Rogers & Buber 1992, 201)
Aus heutiger Sicht lässt sich sagen, dass die Gestalttherapie, so wie sie von Perls, Hefferline und Goodman am Anfang der 1950er-Jahre entworfen wurde, nicht nur zur damaligen Zeit innovativ war, sondern bis heute eine prominente Stellung in der zeitgenössischen Avantgarde der Psychotherapie einnimmt. Natürlich gab es eine Vielzahl von Mängeln, die der kritischen Überprüfung bedurften und viele Gestalttherapeuten angeregt haben, zahlreiche Bücher und Artikel zu verfassen, in denen sie die Theorie der Gestalttherapie weiterentwickelten. Doch die bahnbrechenden Grundlagen, die von Perls et al. (1951; dt. 2 Bd.: 2006, 2007) seinerzeit geschaffen wurden, waren aus meiner Sicht die entscheidende Voraussetzung für die nachhaltige Vorreiterrolle der Gestalttherapie auf dem Gebiet der Psychotherapie.
Der andere und das Selbst – Du und Ich
Als einschlägiger Beleg und als besonders wichtiges Beispiel für diese Behauptungen kann die folgende Feststellung gelten, die man bereits im ersten Absatz des Grundlagenwerks der Gestalttherapie findet:
»Der Kontakt selbst ist die erste und unmittelbarste Wirklichkeit« (Perls et al. 2006, 21).
In diesem Satz spiegelt sich ein Verständnis von Psychotherapie im Besonderen und darüber hinaus von Psychologie im Allgemeinen, das zu der Zeit, als es formuliert wurde, revolutionär war.2 Es hatte allerdings zunächst mehr den Charakter einer Hypothese als den einer ausgearbeiteten Theorie. Perls et al. überließen es ihren Nachfolgern, ihren Ansatz detailliert theoretisch auszuarbeiten und mit den Ergebnissen wissenschaftlicher und philosophischer Untersuchungen zu untermauern, etwa mit denen der Säuglingsforschung oder der Phänomenologie. So war es z. B. Lynne Jacobs, die mit Rückgriff auf solche Quellen die ursprüngliche Feststellung paraphrasierte:
Die grundlegende Annahme ist, dass jede Subjektivität intersubjektiv ist, d. h. dass jede Erfahrung ein ko-emergentes Phänomen einander überlagernder Subjektivitäten darstellt. … Es gibt kein Selbst, das der Beziehung vorausgeht, kein Selbst existiert vorgängig zu oder unabhängig von der es umgebenden Umwelt. (2005, 45)
– bzw. unabhängig von einem Anderen, wie man zur Unterstreichung des für den psychotherapeutischen Bereich wesentlichen Punktes hinzufügen könnte. Perls et al. haben es sogar noch radikaler und allgemeiner ausgedrückt, als sie »das ›Selbst‹ als System der Kontakte in jedem Augenblick« (2006, 31) definierten und dabei nicht nur an den zwischenmenschlichen Bereich dachten, sondern auch an den sozialen, biologischen und physikalischen.
Im Folgenden möchte ich mich allerdings auf das personale Selbst konzentrieren (im Unterschied zu dem, was man als »organismisches Selbst« bezeichnen könnte, das jedoch nur einen Teil des Ganzen ausmacht) sowie auf seine Kontakte mit anderen Personen, weil dies der Bereich ist, auf den sich in der Psychotherapie der überwiegende Teil der Aufmerksamkeit richtet. Denn die Kontakte zwischen Menschen sind zweifellos viel mehr als nur physische Kontakte; sie schließen die gegenseitige Anerkennung als Personen ein, d. h. die Würdigung des jeweils Anderen nicht nur als Körper, sondern als »Leib«, der ebenso über eine eigene Perspektive und einen eigenen Geist verfügt wie ich selbst, die Wahrnehmung des jeweils Anderen als eines interdependent Handelnden sowie schließlich die Wertschätzung für seinen eigenständigen Beitrag zur gemeinsamen Schaffung von Bedeutung und Sinn – kurz: Persönliche Kontakte zwischen Menschen sind intersubjektive Ereignisse.
Der Begriff der Intersubjektivität als solcher taucht im Buch »Gestalttherapie« allerdings nicht auf, auch wenn viele der zentralen Gedanken, aus denen sich das Konzept der Intersubjektivität zusammensetzt, bereits darin zu finden sind. In Anspielung auf und im Widerspruch zu Descartes’ berühmt-berüchtigtem Diktum »cogito, ergo sum« könnte man, um Intersubjektivität plakativ zu charakterisieren, mit Altmeyer sagen: »Videor, ergo sum« (2003, 261) – ich werde gesehen, also bin ich. Das Selbst entsteht in den Augen des Anderen; es ist sowohl entwicklungspsychologisch als auch prinzipiell immer sekundär; der Andere ist primär: »Der Mensch wird am Du zum Ich«, hat Buber (1936, 36) kurz und knapp festgestellt; der Andere ist schon immer im Selbst enthalten.3
Durch die Blicke des Du, der anderen Person, die mich anblickt und anspricht, werde ich mir meiner selbst als ein erlebendes Subjekt bewusst.
In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich meiner nicht nur als eines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft. (Habermas 2005, 19)
Dazu gehört notwendigerweise auch, dass ich sehe, wie ich angeschaut werde. »Das Blickverhalten ist in seiner spezifischen Wechselseitigkeit (mutualité) für die Entwicklung der menschlichen Kommunikation und Persönlichkeit von zentraler Bedeutung. … Weil menschliche Augen ›sprechen‹ können und sie dem Gegenüber ein fundamentales Erkennen vermitteln – ›Das bist Du!‹« (Petzold 1995, 442 – Hervorhebung im Original).
Ein Selbst zu sein, d. h. Subjektivität, beruht auf der Bezogenheit auf Andere und entwickelt sich im Kontakt mit ihnen. Die Anderen, die von ihrer eigenen Perspektive aus gesehen gleichfalls Selbste sind, werden vice versa auch ihrerseits nur durch den Kontakt mit Anderen zu dem, was sie jeweils sind. Das Selbst und der Andere können nur in Gegenseitigkeit existieren; ihr Wesen ist durch und durch intersubjektiv. Manche Philosophen und Wissenschaftler nehmen sogar an, dass Bewusstsein im Allgemeinen auf Intersubjektivität beruht: »Der Kern allen menschlichen Bewusstseins scheint in einem unmittelbaren, nicht-rationalen, nicht-sprachlichen, völlig untheoretischen Potenzial für den Rapport des Selbst mit der Psyche eines Anderen zu bestehen« (Trevarthen 1993, 121).
Trevarthen, der hauptsächlich Entwicklungspsychologe ist, hat bei dieser Feststellung die ersten Lebensjahre im Auge. Die intersubjektive Dimension des Bewusstseins geht jedoch auch im Erwachsenenleben nicht verloren. Wie ein östlicher Philosoph, der Intersubjektivität als »Zwischen-Sein« bezeichnet, sagt,
sind unsere bewussten Akte nicht ausschließlich von uns selbst bestimmt, sondern auch von den Anderen. Das bedeutet keineswegs, dass es sich um einen ›Austausch‹ von ansonsten einseitigen intentionalen Handlungen drehte, die zwischen Menschen hin- und hergehen. Vielmehr gibt es nur eine ›Verbindung‹, die von beiden Beteiligten bestimmt wird. Innerhalb einer Beziehung des ›Zwischen-Seins‹ durchdringen darum die jeweiligen bewussten Erfahrungen der Beteiligten einander. (Watsuji 1934, zitiert nach Arisaka 2001, 200 – Hervorhebungen von mir)
Mit westlicher Sprache gesagt, kann man
… sich Bewusstsein … denken … als sozialen Akt: Ich habe ein Erlebnis, aber auf intersubjektivem Weg erfasse ich intuitiv, wie der andere mein Erleben sieht. Nun gibt es zwei Perspektiven in Bezug auf mein Erleben, und ich erlange ein Bewusstsein anderer Art, das ich intersubjektives Bewusstsein nennen möchte. Bewusstsein ist somit nicht unbedingt das Werk meines eigenen Gehirns; es kann die Leistung meines und jemandes anderen Gehirns sein. Das gehört zum Leben in einer intersubjektiven Matrix dazu, welche eine implizite Erfahrung bewusst werden lässt, weil sie öffentlich ist und reflektiert werden kann. Aber diese Art Bewusstwerdung ist anders als die übliche. (Stern et al. 2006, 38 f. – Hervorhebung von mir)
So unüblich diese Form der Bewusstwerdung im Alltagsleben auch sein mag (ich meine allerdings, sie ist gar nicht so selten) – innerhalb der intersubjektiven Matrix mit ihren Therapeuten dürfte sie die häufigste Art für Klienten darstellen, sich bislang impliziter Dimensionen ihres Erlebens bewusst zu werden.
Kontakt als primordiale, verkörperte Bedingung des Menschseins
Daniel Sterns Einsichten können noch einige weitere, speziell anthropologische Aspekte des Kontaktgeschehens zwischen Menschen beleuchten, die Perls et al. als »erste Wirklichkeit« bezeichnet haben: Stern versteht Intersubjektivität nämlich als eine »Bedingung des Menschseins« und vertritt
die Ansicht, dass sie zudem ein angeborenes, primäres Motivationssystem darstellt,das für das Überleben der Art unverzichtbar ist und einen ähnlichen Status besitzt wie die Sexualität oder die Bindung.
Das Bedürfnis nach Intersubjektivität ist einer der wichtigsten Motivatoren, die eine Psychotherapie vorantreiben. Patienten möchten vom Therapeuten wahrgenommen werden und ihn wissen lassen, wie sie sich in ihrer Haut fühlen. (Stern 2005, 109)
Wie der Begriff der Intersubjektivität schon sagt, geht es dabei nicht um eine Einbahnstraße. Im Englischen gibt es das Sprichwort: »It takes one to know one«, was man etwa so übersetzen kann: »Man muss selber so beschaffen sein wie der, den man erkennen will.« Beide, Klienten und Therapeuten, »bilden gemeinsam ein intersubjektives System reziproker, gegenseitiger Einflussnahme« (Stolorow et al. 1996, 65). Wenn Klienten von ihren Therapeuten erkannt und verstanden werden wollen, müssen sie ihre Therapeuten auch erkennen und verstehen – jedenfalls in einem gewissen Maß. Wie sollten sie sonst in der Lage sein zu wissen, dass sie erkannt und verstanden werden? Damit
führen Intersubjektivität und ihre empathische Basis weg von dem simplen cartesianischen Bild eines isolierten individuellen Bewusstseins, das die Existenz des anderen durch Analogiebildung hochrechnen muss, und hin zu einer Vorstellung, in der subjektive Erfahrungsbereiche einander gegenseitig durchdringen – mit der Folge, dass Identität und Individualität eher relative als absolute Gegebenheiten sind. (Midgley 2006, 104)
Was Midgley hier »gegenseitige Durchdringung« nennt, was Stolorow et al. oben als »reziproke gegenseitige Einflußnahme« bezeichnen und was Perls et al. als »gesunde Konfluenz«4 charakterisieren, lässt jene »Begegnungsmomente« möglich werden, über die Stern so eloquent schreibt. Er gibt auch ein schönes Beispiel:
Denken wir zum Beispiel an die Patientin, die sich plötzlich aufsetzte, um ihre Therapeutin anzusehen. Unmittelbar nach dieser überraschenden Aktion starrten beide einander durchdringend an. Es herrschte Schweigen. Zwar wusste die Therapeutin nicht genau, was sie tun würde, aber ihr Gesichtsausdruck entspannte sich langsam, bis die Andeutung eines Lächelns ihren Mund umspielte. Dann beugte sie den Kopf ein wenig nach vorn und sagte: »Hallo!« Die Patientin blickte sie weiterhin an. Mehrere Sekunden lang blieben sie in diesem Blickkontakt gefangen. Einen Moment später legte sich die Patientin wieder hin und setzte ihre Arbeit auf der Couch fort; aber nun arbeitete sie intensiver und auf eine bislang unbekannte Weise, die neues Material zutage treten ließ. Die gemeinsame therapeutische Arbeit wurde dadurch drastisch verändert.
Das »Hallo« (in Verbindung mit Gesichtsausdruck und Kopfb ewegung) konstituierte einen »Moment der Begegnung«, in dem die Therapeutin eine authentische persönliche Reaktion zeigte, die der unmittelbaren Situation (dem Jetzt-Moment) auf eine vollkommene Weise angepasst war. Die Reaktion bewirkte einen deutlichen Wandel der Therapie. Sie bildete einen Drehpunkt, an dem eine Quantenveränderung des intersubjektiven Feldes stattfand. (Stern 2005, 175 f.)
Die Fähigkeit zur intersubjektiven Bezogenheit, das grundlegende »Mitsein« (Heidegger 1953, 113 ff.), das die Art und Weise von Menschen, in der Welt zu sein, prägt, das »eingeborene Du« (Buber 1936, 355) scheint primordial zu sein. Natürlich entwickelt es sich in Kindheit und Jugend weiter und nimmt im Laufe des Lebens zunehmend differenzierte Formen an, die sich auf der Basis wiederholter und vielseitiger Erfahrungen gegenseitiger Empathie herausbilden, wie ich in meinem kürzlich erschienenen Buch »Das Geheimnis des Anderen« vielfach belegt habe (vgl. Staemmler 2009) – aber es beginnt nicht erst dann; im Keim war es immer vorhanden, wie Heidegger betont: Das »fürsorgende Erschließen des Anderen [erwächst] … nur aus dem primären Mitsein mit ihm …. ›Einfühlung‹ konstituiert nicht erst das Mitsein, sondern ist auf dessen Grunde erst möglich« (1953, 124 f.). Um diesen Sachverhalt zu beschreiben, hat der Säuglingsforscher Stein Braten (2007) den Begriff der »altero-zentrierten Partizipation« geprägt. Stern fasst prägnant zusammen, was Braten damit meint, nämlich
die angeborene Fähigkeit, das, was der Andere erlebt, ebenfalls zu erleben (gewöhnlich außerhalb des Gewahrseins). Sie ist ein unwillkürlicher Akt des Erlebens, in dessen Prozess das Zentrum der eigenen Orientierung und Perspektive im Anderen verortet zu sein scheint. Sie ist kein Wissen über den Anderen, sondern eine Teilnahme an seinem Erleben. Altero-zentrierte Partizipation ist die basale intersubjektive Fähigkeit, durch die Nachahmung, Empathie, Mitleid, emotionale Ansteckung und Identifizierung ermöglicht werden. Wiewohl angeboren, wird diese Fähigkeit im Laufe der Entwicklung erweitert und verbessert. (Stern 2005, 247)
Diese primordiale Fähigkeit zur intersubjektiven Bezogenheit ist auch auf der neuronalen Ebene fest verankert, z. B. in der Form der sogenannten »Spiegelneurone«, die in den frühen 1990er-Jahren entdeckt wurden6 und in denen einer ihrer Entdecker, Vittorio Gallese, nichts Geringeres als die »neuronale Basis der Intersubjektivität« (2003) sieht. Weil wir von Beginn unserer Existenz an so ausgerüstet sind, verfügen wir schon lange, bevor wir sprechen können und
bevor wir in der Lage sind, das Verhalten Anderer zu erklären oder vorherzusagen, über die Fähigkeit, mit Anderen zu interagieren und sie auf der Ebene ihrer Gesten, Intentionen und Emotionen … sowie auf Basis dessen zu verstehen, wie sie sich gegenüber uns und Anderen in pragmatischen … Alltagsaktivitäten verhalten. (Gallagher 2005, 230)
Und weil alle Menschen über diese neuronale Begabung verfügen, sind sie zugleich mit einem »überindividuellen neuronalen Format« (Bauer 2005, 166 – Hervorhebung im Original) versehen. Es bildet die neuronale Voraussetzung, die sie – zusammen mit den Voraussetzungen, die von Kultur und Sprache geschaffen werden – in die Lage versetzt, in einen »gemeinsamen zwischenmenschlichen Bedeutungsraum« (a. a. O. – Hervorhebung im Original) hineinzuwachsen und diesen mitzugestalten.
Diese Ausstattung zeigt eine nahezu permanente Aktivität, die »offenbar Teil des Normalzustands des Gehirns ist; ohne Anstrengung oder Absicht evaluiert und analysiert es ständig vergangene, gegenwärtige oder mögliche zukünftige soziale Beziehungen, wann immer nicht-soziale Fragestellungen nicht die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen« (Iacoboni et al. 2004, 1171). Mit anderen Worten: Zusätzlich zu ihren unmittelbaren Kontakten mit Anderen sind Menschen mit virtuellen Kontakten beschäftigt, wann immer ihre aktuelle Situation es ihnen erlaubt. Wir sind nie allein; selbst wenn wir es aus der Sicht eines Beobachters zu sein scheinen, sind wir mit den Anderen durch das Erleben von ihrer Abwesenheit verbunden. Selbst dann bleibt der Kontakt unsere erste Wirklichkeit – der allgegenwärtige Hintergrund, vor dem das Alleinsein zur Figur wird.7
Die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse zur Intersubjektivität entstammen der Beobachterperspektive. Sie stellen damit nur eine von mehreren Perspektiven dar, unter denen man Intersubjektivität untersuchen und feststellen kann, dass sie verkörpert ist. Aus der phänomenologischen Perspektive (der ersten Person) gesehen, die von Gestalttherapeuten bevorzugt eingenommen wird, begegnet man im unmittelbaren Kontakt mit der anderen Person jedoch »nicht einem reinen Körper mit einer versteckten Seele, sondern einem einheitlichen Ganzen« (Zahavi 2005, 150). Daher bestand Merleau-Ponty darauf: »Die Intersubjektivität ist eine Interleiblichkeit« (1972, 248), die sich in einer Vielzahl von unmittelbar erfahrbaren Phänomenen manifestiert; ich habe das an anderer Stelle (Staemmler 2009, 97 ff.) ausführlich dargestellt und möchte diesen Punkt hier nur kurz mit Varela zusammenfassen:
Ich verstehe den Anderen nicht als ein Ding, sondern als eine Subjektivität, die der meinen als ein alter ego ähnlich ist. Durch seinen Leib bin ich mit dem Anderen verbunden, zunächst als mit einem Organismus, der dem meinen ähnelt, aber auch als mit einer wahrgenommenen verkörperten Präsenz … in meinem Erfahrungsfeld. (Varela 1999, 81)