Kitabı oku: «Literatur und Mehrsprachigkeit», sayfa 3

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c) Systematische Überlegungen

Die im engeren Sinne wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kulturbegriff setzt spätestens mit dem sehr wirkmächtigen Bestimmungsversuch von Edward B. TylorTylor, Edward B. ein: »Culture, or civilization, taken in its broad, ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« (Tylor, Religion in Primitive Culture, 1) Tylors additiver Kulturbegriff hallt noch heute in zahlreichen Bestimmungen von Kultur in Nachschlagewerken nach. Dies zeigt, dass es schwierig ist, Kultur als Gegenstand auf den Begriff zu bringen. Hinter den von TylorTylor, Edward B. aufgelisteten Bestimmungsmomenten verbergen sich allerdings auch (unterschiedliche) funktionale Beschreibungen von Kultur, und zwar in mindestens zwei Ausprägungen:

1. Kultur als Vorrat gesellschaftlicher Normen: Dieser Kulturbegriff trägt dem Umstand Rechnung, dass man als Kultur etwas bezeichnet, das prägende, zuweilen gar determinierende Wirkung für gesellschaftliche Prozesse hat. Kultur wird zum Inbegriff der einzelnen und auf unterschiedlichen Strukturebenen anzusiedelnden Regeln, die eine Gesellschaft prägen. Dieser Kulturbegriff ist für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit insofern relevant, als er gesellschaftlichen Prozessen eine Art ›Grammatik‹ unterstellt, sie also in Analogie zu sprachlichen Strukturen beschreibt. Es ist insofern kein Zufall, dass dieser Kulturbegriff solchen (Teil-)Disziplinen der Linguistik nahesteht, die sich für die Regularitäten der konkreten Sprachverwendung interessieren, also etwa der Pragmatik und speziell der linguistischen Diskursanalyse. Die durch letztere geprägte Metapher des Skripts, das kulturelle Normen als Vor-Schriften ausweist (vgl. AbelsonAbelson, Robert P., »Script Processing«; SchankSchank, Roger C./AbelsonAbelson, Robert P., Scripts), zeigt dabei schon an, dass dieser Begriff von Kultur mit dem zweiten hier relevanten Kulturbegriff durchaus Gemeinsamkeiten hat.

2. Kultur als Text bzw. als Vorrat gesellschaftlicher Semantiken: Seine bekannteste Ausprägung hat dieser Kulturbegriff in der ethnologischen Theorie von Clifford GeertzGeertz, Clifford erfahren, die Kultur als einen Vorrat an Bedeutungsmustern beschreibt, von deren Entzifferung die Interpretierbarkeit gesellschaftlicher Prozesse abhängt. Ethnologische Darstellungen müssen daher mit ebenso viel Skepsis betrieben und mit ebenso viel Kontextwissen angereichert werden, wie es die texteditorische Entzifferung eines alten Manuskripts erfordert (vgl. GeertzGeertz, Clifford, »Thick description«). Es finden sich allerdings auch viele weitere Beschreibungen von Kultur, die beim Zeichenbegriff ansetzen. Dies gilt beispielsweise für Jurij M. LotmanLotman, Jurij M.s Kultursemiotik, die u.a. zu dem Ergebnis kommt, dass Kultur letztlich immer auch als Mechanismus zur Bereitstellung von interpretatorischer Unbestimmtheit funktioniert und damit die Anpassungsfähigkeit der Gesellschaft absichert (LotmanLotman, Jurij M., »Zum kybernetischen Aspekt der Kultur«). Auch die breit rezipierte wissenssoziologische Theorie von Peter L. BergerBerger, Peter L. und Thomas LuckmannLuckmann, Thomas setzt letztlich beim Zeichen bzw. bei der (vor allem sprachlichen) Konstruktion von Zeichenhaftigkeit an (BergerBerger, Peter L./LuckmannLuckmann, Thomas, Die gesellschaftliche Konstruktion). Noch bei der postkolonialen Kulturtheorie von Homi K. BhabhaBhabha, Homi K. handelt es sich um eine mit dem Zeichenbegriff operierende Dekonstruktion der Vorstellung von Kulturen als Einheiten (vgl. Bhabha, The Location of Culture). Kulturelle Hybridität, wie sie in BhabhasBhabha, Homi K. Beschreibung jeder kulturellen Grenzziehung vorgängig ist, ist nicht zuletzt zeichen- bzw. texttheoretisch gedacht.

Auch wenn moderne Beschreibungen von Kultur beider Richtungen in je unterschiedlicher Weise auf Sprache bezogen sind, misst die Systemlinguistik dem Faktor Kultur in der Regel einen nur marginalen Stellenwert zu. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass sich die Linguistik in der Nachfolge Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand des (dem damit teilweise Unrecht getan wird) als erklärende und nicht als interpretierende Wissenschaft versteht. Damit aber fällt Kultur als zu interpretierender Sachverhalt aus ihrem Gegenstandsbereich heraus. Dem widerspricht aktuell der Vorschlag der kulturanalytischen Linguistik, die auf unterschiedlichen Ebenen der Sprachstruktur Verfahren der Mustererkennung beschreibt und mit kultur-, sozial- und medienhistorischen Kontexten in Verbindung bringt (vgl. LinkeLinke, Angelika, »Signifikante Muster«). Auch die Rezeption der Diskursanalyse Michel FoucaultFoucault, Michels durch die Linguistik führt teilweise zu einer Neuentdeckung von Kultur als Rahmenbedingung von Sprache, wenn auch in erster Linie (funktional ausdifferenzierte) Einzeldiskurse in den Blick geraten und gerade nicht das diffuse Bündel dessen, was anderenorts als Kultur beschrieben wird (vgl. KußeKuße, Holger, Kulturwissenschaftliche Linguistik). Eine gewichtige Ausnahme bildet hier die Interdiskursanalyse, die sich für die Regularitäten von Aussageweisen interessiert, die in Spezial- wie auch verbindenden Interdiskursen anzutreffen sind. Im Mittelpunkt des Interesses stehen hier u.a. »[k]ulturspezifische synchrone Systeme von Kollektivsym­bolen« (LinkLink, Jürgen, »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse«, 297), die als diskursverbindende Elemente, d.h. als der kulturelle Kitt moderner Gesellschaften und ihrer ausdifferenzierten Spezialdiskurse fungieren (siehe für einen daraus zu entwickelnden Kulturbegriff LinkLink, Jürgen, »Zur Frage«).

Von den großen Theorievorschlägen aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts hat die soziologische Systemtheorie erstaunlich wenig zum Kulturbegriff beigetragen, zumindest nicht bei Niklas LuhmannLuhmann, Niklas selbst, der Kultur u.a. als semantisches Gedächtnis beschrieben hat (LuhmannLuhmann, Niklas, »Kultur als historischer Begriff«). In Dirk BaeckerBaecker, Dirks ausführlicher Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff wird Kultur demgegenüber als Korrelat einer (historischen) Praxis des Vergleichs beschrieben und sodann systematisch als eine Form der mitlaufenden Beobachtung bestimmt, die Doppelwertigkeit erzeugt und dazu in der Lage ist, gegenüber zweiwertigen Unterscheidungen dritte Alternativen einzubringen (BaeckerBaecker, Dirk, Wozu Kultur?). Auf der Basis des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs und dessen philologischer Präzisierung (StanitzekStanitzek, Georg, »Was ist Kommunikation?«; BaßlerBaßler, Moritz, Die kulturpoetische Funktion) ist schließlich vorgeschlagen worden, grundsätzlich davon auszugehen, dass Kommunikation, um sich als Rekursion (ereignishaft) entfalten zu können, auf vorgängige Kommunikation zurückgreifen können muss, die wiederum in quasi-textueller Form vorliegen muss (sei es im individuellen Gedächtnis von Menschen, sei es in Textform). Dabei erfolgt der Rückgriff letztlich durch die ›Entzifferung‹ von bedeutungsunterschei­denden Einheiten. Kultur ist systematisch an dieser Stelle zu verorten: Sie sorgt dafür, dass Kommunikation als Ereignis auf ihr quasi-textuelles Substrat zugreifen kann (vgl. Dembeck, »Reading Ornament«). Aus dieser Funktion von Kultur ergibt sich die Möglichkeit, sie (mindestens) in einer doppelten Perspektive wahrzunehmen: Einerseits ist der Vorrat von Semantiken, der Gesellschaft zur Verfügung steht, nicht denkbar, wenn keine bedeutungsunterscheidenden Merkmale ausgemacht werden können. Insofern hat Kultur unmittelbar etwas mit Textualität zu tun, auch wenn sie nicht mit Textualität gleichgesetzt werden kann. Denn Kultur besteht eben andererseits aus Mechanismen, die sich rekursiv erhalten, stabilisieren, aber auch verändern, wodurch der zutreffende Eindruck entsteht, dass Kultur an entscheidender Stelle an der Konstitution gesellschaftlicher Regeln Teil hat.

Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit ist diese Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs von besonderem Interesse: Als Kulturdifferenzen verweisen Sprachdifferenzen einerseits auf unterschiedliche etablierte Arten und Weisen der Interpretation gesellschaftlicher und anderer Strukturen und Prozesse. Andererseits aber sind Sprachdifferenzen immer auch Anzeichen von potentiellen Konflikten darüber, wie gesellschaftlich Signifikanz konstituiert werden soll. Sie haben in diesem Sinne ein kulturpolitisches Potential. Die Untersuchung von Sprachdifferenzen im literarischen Text erlaubt Rückschlüsse auf beides. Damit wird insbesondere die (kultur-)politische ›Agency‹ von Literatur beschreibbar. Das Interesse für kulturpolitisch engagierte Formen der Literaturwissenschaft (insbesondere mit postkolonialem Hintergrund) für Mehrsprachigkeit rührt wahrscheinlich auch daher.

Literatur

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2. Sprachliche und kulturelle Identität

Till Dembeck

a) Begriffsbestimmung

Die sprachliche und damit auch kulturelle Bildung von Einheiten und ihre Konturierung durch Grenzziehung einerseits und die Subversion sprachlicher und kultureller Grenzen andererseits sind Grundoperationen von Literatur, deren Untersuchung unmittelbar Aufschluss über den kulturpolitischen Stellenwert von literarischer Mehrsprachigkeit verspricht. Diskutiert wird dies unter dem Schlagwort der Identität.

In die Kulturtheorie ist der Identitätsbegriff in erster Linie durch die Übertragung aus psychologischen Diskussionszusammenhängen eingegangen. Entscheidend ist hierbei die Auffassung, dass sich Identität nur durch Abgrenzung erzeugen lässt, so dass dem jeweils Ausgeschlossenen eine konstitutive Bedeutung für das Selbst zukommt. Diese Operation wird auch auf Gruppen bezogen und dann als Mechanismus der Konstruktion kultureller Identität bzw. Alterität beschrieben. BatesonBateson, Gregory spricht in diesem Zusammenhang von »Schismogenesis« (BatesonBateson, Gregory, »Culture Contact and Schismogenesis«). Die Zuschreibung von Andersartigkeit (›Othering‹) wird so zum Mechanismus der Stabilisierung von kultureller oder Gruppen-Identität.

Das wahrscheinlich wirkmächtigste Werkzeug zur Normierung und Kodifizierung von Einzelsprachen und damit zur Konstitution der Identität von Sprachen ist die Identifikation von Fehlern. Diese Operation ist unmittelbar mit Mechanismen der kulturellen Identitätsbildung verbunden. Sprachkompetenz ist in der europäischen Geschichte seit jeher Ausweis kultureller Zugehörigkeit. Mit Blick auf die Geschichte der Grammatik lässt sich behaupten: »Zur Grammatik gehört wesentlich eine Migrations- und Integrationspolitik« (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 318), die regelt, wer und was der jeweiligen Sprache zugehörig ist und wo demnach die Grenzen dieser Sprache zu anderen Idiomen verlaufen.

Gerade der Begriff der (Sprach-)Kompetenz verweist allerdings auch auf die Grenzen eines Begriffs von kultureller Identität, der auf der Operation der »Schismogenesis« aufbaut. Denn Sprachkompetenz muss in jedem Einzelfall als komplexes Gefüge von Fähigkeiten angesehen werden, die sich auf unterschiedliche Strukturebenen der Sprache und auf unterschiedliche Einzelsprachen beziehen können. Auch Kulturkompetenz umfasst im Einzelfall dann sehr divergente, nach Rollen und Gesellschaftsbereichen ausdifferenzierte Fertigkeiten. Daher wird im Folgenden vorgeschlagen, kulturelle Identitäten als je unterschiedlich definierte Bündel kultureller Fähigkeiten zu bestimmen, also als Bündel von Fähigkeiten, bedeutungsunterscheidende Differenzen erkennen und einsetzen zu können, insbesondere auch sprachliche.

b) Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identität

Der Geschichte des Kulturbegriffs ist von Beginn an eine Semantik der Gruppenidentität eingeschrieben. Die Wirkmächtigkeit von Unterscheidungen wie Hellenen/Barbaren, Christen/Heiden und Menschen/Unmenschen legt davon Zeugnis ab. Von Beginn an dienen dabei auch sprachliche Merkmale zur Identifikation von Gruppenzugehörigkeit. So besagt eine in der Antike und nachmals populäre Semantik des Begriffs ›Solözismus‹, er beziehe sich ursprünglich auf das durch Sprachmischung unsauber gewordene Griechisch der Anhänger des Solon im kilikischen Soloi (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 960) – so dass der Solözismus als Fehler gilt, an dem man zumindest die Abschwächung der kulturellen Zugehörigkeit ablesen kann. Eine prominentere Parallelgeschichte hierzu findet sich im Buch der Richter (12, 5f.), das von der Ermordung der Ephraimiter erzählt, die man daran erkannte, dass sie das Wort ›Schibboleth‹ nur als ›Sibboleth‹ aussprechen konnten – wobei beide Varianten eigentlich als phonematisch identisch gelten (siehe DerridaDerrida, Jacques, Schibboleth, 59). Als ›Schibboleth‹ gilt noch heute jede lautliche Markierung kultureller Differenz.

Historisch betrachtet sind sehr unterschiedliche Kopplungen sprachlicher und kultu­reller Identitätsbildung zu beobachten. So ist es keineswegs zwingend, bereits dem antiken Griechenland die Konzeption von Sprache als Idiom, also als abgrenzbarer Einheit, zu unterstellen, so dass ein ›Solözismus‹ durchaus nicht notwendig kulturelle Fremdheit signa­lisiert, sondern eher eine territoriale Zugehörigkeit markiert. Dementsprechend offen zeigt sich AristotelesAristoteles für Abweichungen vom herrschenden Sprachgebrauch. ›Fremde‹, d.h., aus anderen dialektalen Zusammenhängen stammende Wörter, γλῶττα, werden analog zu Metaphern als Ergebnisse eines Übertragungsvorgangs angesehen (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 303–308).

Demgegenüber verleiht die Zweisprachigkeit des antiken Rom, die lange vor der Zeitenwende u.a. das Bedürfnis erzeugt, das Lateinische als Kultursprache aufzuwerten, der Kategorie der Sprachrichtigkeit eine neue Dimension (KrausKraus, Manfred, »Sprachrichtigkeit«, 1121). Anders als in der griechischen Antike kommt es daher spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus zu einer Kodifizierung und Fixierung der Sprache (LeonhardtLeonhardt, Jürgen, Latein, 61–74) – und zugleich zu einem genaueren Bewusstsein für die Fremdheit anderer Idiome. Vergleicht bereits AristotelesAristoteles den Umgang mit Wörtern aus der Fremde mit Prozessen der Einbürgerung, so wird diese Metaphorik von Marcus Fabius QuintilianQuintilian, Marcus Fabius ausgebaut, der wörtlich von migrierenden Wörtern, verba peregrina, spricht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 307f., 317–322). Im Detail wird nun diskutiert, wie fremde Wörter zu flektieren seien und inwiefern beispielsweise im Interesse der metrischen Form Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die latinitas, gerechtfertigt sein können. QuintilianQuintilian, Marcus Fabius, dessen Institutio Oratoria wirkmächtig die Vergleichbarkeit von (immer ›verfremdenden‹) rhetorischen Figuren und grammatischen Fehlern herausstellt (und im selben Atemzug durch die strikte Trennung von Rhetorik und Grammatik wieder zu kassieren sucht), bemüht sich ausführlich um eine Klassifizierung der Barbarismen, die sich im Übrigen als identisch erweist mit derjenigen, die er für Figuren der Rede vorsieht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 313–316). Die Problematik der Unterscheidung von Figur und Fehler lässt so den Status des sprachlich Fremden selbst unsicher werden: die gute Rede ist auf fremde Strukturen angewiesen, obwohl diese zugleich die Einheit des Idioms gefährden.

Die christliche Aneignung des Lateinischen (und seiner Schrifttradition) in der Spätantike und im Mittelalter schreibt zwar einerseits die Semantik der latinitas und der Barbarismen fort, zeigt aber andererseits eine gewisse Toleranz gegenüber abweichenden Sprachformen im Lateinischen. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass schon AugustinusAugustinus von Hippo die perspicuitas, also die Transparenz des sprachlichen Ausdrucks, vor allem auf die sprachunabhängige Botschaft des Glaubens hin, höher wertet als seine puritas, also die Reinheit (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 970). In der hierin zum Ausdruck kommenden Sprachtheorie mag der Grund dafür liegen, dass im Mittelalter das Interesse an einer Systematisierung sprachlicher Fehler und Abweichungen gegenüber der römischen Antike stark abnimmt – eine Tendenz, die sich in der Neuzeit weiter fortsetzt (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 974). Gleichwohl ist das Lateinische als Sprache des Glaubens entscheidender Identifikationsfaktor des mittelalterlichen Abendlandes, und der Erhalt der Sprache in ihrer standardisierten Form (etwa durch die karolingischeKarl der Große Bildungsreform) oder ihre Weiterentwicklung im Sinne der christlichen Theologie (etwa durch die Scholastik) hat auch die Funktion, kulturelle Einheitlichkeit zu gewährleisten.

Ein neuer Impetus zur Befestigung sprachlich-kultureller Grenzziehungen ist ab dem Spätmittelalter festzustellen, und zwar sowohl mit Blick auf das Lateinische als auch mit Blick auf die Volkssprachen, deren Emanzipation ja – schon nach dem Programm ihres Vordenkers Dante AlighieriDante Alighieri – in erster Linie Standardisierung zum Ziel hat. Die durch den Humanismus, etwa durch Lorenzo VallaValla, Lorenzo und Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam, propagierte Rückbindung des Lateinischen an die antiken Vorbilder ist dabei nicht nur als sprachliche, sondern auch als kulturelle Reinigung aufzufassen. Sie umfasst weniger die im engeren Sinne grammatische, als vielmehr die idiomatische Seite der Sprache und steht letztlich im Zeichen einer abendländischen Identitätspolitik, die sich aus dem fremd gewordenen Ursprung in der Antike speist.

Im Zuge der Standardisierung der Volkssprachen kommt es insbesondere zu einer Systematisierung der Begrifflichkeit, mit der unterschiedliche Idiome kategorisiert werden können. Genauer verfestigt sich die Differenz zwischen Sprachen und Dialekten, wobei den Dialekten all jene Eigenschaften der Volkssprachen zugerechnet werden, die die Heiligen Sprachen überwunden hatten: Dialekte gelten als tendenziell regellos, schwer fixierbar, kontinuierlich ineinander übergehend. Zunehmend national definierte (Standard-)Sprachen hingegen können eine Grenze für sich beanspruchen, die sie von anderen nationalen Sprachen unterscheidet. Sprachen gelten als zählbar, Dialekte als zahllos, aber immerhin einer (und zwar genau einer) Sprache zugehörig, in der sie aufgehoben sind (vgl. BonfiglioBonfiglio, Thomas Paul, Mother Tongues and Nations, 63–121). Die klare Differenzierung zwischen Sprache und Dialekt ist klar kulturpolitisch motiviert: Spracheinheit ist nur denkbar, wenn die dialektale Entgrenzung eingehegt wird.

Als Folge der Kolonialisierungspolitik vieler europäischer Staaten steigt im 18. und 19. Jahrhundert die Zahl der in Europa bekannten Sprachen und es ergeben sich identitätspolitisch folgenreiche weitere Differenzierungen: zum einen zwischen den europäischen Kultursprachen und den angeblich ›ursprünglicheren‹ Sprachen vieler kolonisierter Völker; zum anderen zwischen unterschiedlichen Formen des Standardisierungsdrucks. Ist es für die europäischen Volkssprachen entscheidend, die interne dialektale Zerstreuung zu überwinden, so müssen die Sprachen beispielsweise der neuen Welt erst passfertig gemacht werden, um mit den Mitteln der europäischen, grundsätzlich an das Lateinische angelehnten Grammatik kontrolliert werden zu können. Die Erforschung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft im 19. Jahrhundert gibt der europäischen Kulturpolitik nicht nur Gelegenheit, sich als ganze gegen die Sprachen der Welt zu profilieren, sondern stimuliert auch einen internen Wettbewerb mit Blick auf die Nähe der jeweiligen Nationalsprachen zu den hypothetischen Ursprüngen des Indoeuropäischen. In diesem Sinne ist beispielsweise Jacob GrimmGrimm, Jacobs Deutsche Grammatik (1819–1840) geschrieben. Insgesamt herrscht im 19. und 20. Jahrhundert in Europa klar die Tendenz vor, die Einheit der Standardsprachen an die Einheit von Nation und Kultur zu binden und zugleich (siehe I.1) als Natur auszugeben.

Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts findet mit der de SaussureSaussure, Ferdinand de’schen Differenzierung zwischen langue und parole die Möglichkeit, Spracheinheiten systematisch zu isolieren und als voneinander zu unterscheidende, in sich geschlossene Regelsysteme zu denken, die es jeweils ermöglichen, potentiell unendlich viele unterschiedliche grammatisch korrekte Sätze zu generieren. Zahllose Arbeiten der synchronen Sprachwissenschaft haben sich der Beschreibung der so greifbar gemachten langues der Welt gewidmet und damit indirekt auch sprachliche Identitätspolitik betrieben. Auch hier spielen Zusammenhänge mit den Prozessen der Kolonialisierung und der Dekolonialisierung eine gewichtige Rolle. Die nicht zuletzt linguistisch begründete Macht über Sprache(n) ist Werkzeug sowohl kolonialer Herrschaft als auch der Befreiung und der Re-Etablierung neuer Herrschaftsformen (vgl. MakoniMakoni, Sinfree/PennycookPennycook, Alastair, »Disinventing and (Re)Constituting Languages«).

Die Engführung sprachlicher, kultureller und nationaler Identität entfaltet in der Neuzeit eine so große Wirkmächtigkeit, dass sie in der Forschung nicht ganz zu Unrecht als »monolingual paradigm« (YildizYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue, 2) bezeichnet worden ist. Dennoch stellt sie nicht die einzige Form der sprachlichen und kulturellen Identitätspolitik in Europa dar. In der Sprachursprungstheorie HerderHerder, Johann Gottfrieds, die mit der Beschreibung eines sprachlich-kulturellen Identifikationsmechanismus’ einsetzt, werden Argumente artikuliert, die Zweifel an der Zählbarkeit, also an der Identifizierbarkeit aller Arten von Idiomen ins Spiel bringen. Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm vons sprachhistorisches Werk verweigert sich ebenfalls weitgehend der vorherrschenden Tendenz, aus Beschreibungen des Baus unterschiedlicher Sprachen weiter reichende kulturpolitische Wertungen abzuleiten, ähnlich später die Arbeiten Hugo SchuchardtSchuchardt, Hugos (vgl. TrabantTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken, 260–269; StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 344–348). Die durch Graziadio I. AscoliAscoli, Graziadio I. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete Substratlinguistik erklärt die Differenz zwischen den unterschiedlichen Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie durch Migration und die darauf folgende Verschmelzung indoeuropäischer mit anderen, heute nicht mehr existierenden Sprachen. Gegen die Vorstellung der zeitgenössischen indoeuropäischen Sprachforschung, welche die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Sprachen als organische Fortentwicklung versteht, behauptet AscoliAscoli, Graziadio I. so die grundlegende Hybridität dieser Sprachen (ArensArens, Hans, Sprachwissenschaft, 369f., 473f.). Ähnliche Argumente lassen sich aus den Ergebnissen der späteren linguistischen Kreolforschung ableiten.

In der spätestens um 1900 sich etablierenden Disziplin der Ethnologie artikulieren sich Zweifel an den Voraussetzungen des Einsprachigkeitsparadigmas in erster Linie als Beobachtungsprobleme. Die Annahme, dass kulturelle und sprachliche Prägungen determinieren, was wir als bedeutsam wahrnehmen, führt in Verbindung mit der Vorstellung, es gebe sprachliche und kulturelle Grenzen, zu der generelleren Frage, wie sich andere Kulturen überhaupt beschreiben lassen. Bronislaw MalinowskiMalinowski, Bronislaws Forderung nach ›teilneh­mender Beobachtung‹ hat dieses Problem, das sich ohnedies für jeden hermeneutischen Prozess stellt, allenfalls verschoben. Diese hermeneutische Dimension der ethnologischen Diskussion ist schließlich zum Anlass geworden, das ethnologische Beschreibungsinteresse selbst zu dekonstruieren. Dies geschieht beispielsweise in Edward SaidSaid, Edwards Analysen des Phänomens ›Orientalismus‹ (Said, Orientalism). Die sich damit andeutende ›Identitätsfalle‹, dass es kein Entkommen aus der Eingrenzung in das ›Eigene‹ gibt, man ihm aber entkommen muss, um dem ›Anderen‹ gerecht zu werden, prägt bis heute viele Debatten um kulturelle Identität.

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971 s. 3 illüstrasyon
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