Kitabı oku: «Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945», sayfa 3

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Für Marcel ist begreiflicherweise Ausgangspunkt seiner Reflexionen das Stundenbuch, und sofort wehrt er sich gegen die literarische Deutung, dass der werdende, von den Werkleuten geschaffene Gott ein Symbol für das zu vollendende Kunstwerk sei. Immerhin hat Rilke sehr früh und sehr konsequent „Gott das älteste und reparaturbedürftigste Kunstwerk“ genannt. Doch Marcel nimmt den Gott des Stundenbuchs ernst, denn er anerkennt den Sockel des Russlanderlebnisses als authentisch „erfahren“, ebenso die Figur des Heiligen Franziskus im Buch von der Armut und vom Tode. Die Abwehr der pur ästhetischen Deutung von Rilkes Dichtung beruht für Marcel auf „großartigen, nahezu unerforschlichen Grundlagen“.28 Er ist sich aber auch bewusst, dass Rilkes Tendenz zur Grenzüberschreitung etwas „Unbegrenztes, ja Unbestimmtes und eben dadurch Ambivalentes“ an sich habe. Doch stimmt er voll und ganz mit Rilkes Formel überein, die Hans Urs von Balthasar zum Zentrum seines Kapitels über Rilke und Heidegger gemacht hatte, nämlich: „Gott und Tod waren nun draußen, waren das Andere“, und als Konsequenz daraus „beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr, der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergaß, daß sie, wie sie sich auch anstellte, durch den Tod und durch Gott von vorneherein und endgültig übertroffen war.“29 Im Stundenbuch holte der Dichter Gott und Tod zurück in die Dichtung. Wie „ambivalent“ es aber dabei zuging, mögen drei radikal divergierende Interpretationen zeigen: die nihilistische Variante Paul de Mans, der in diesen Gedichten nichts sieht als euphonischen Logozentrismus ohne Inhalt, die nazistische Verirrung, hier den deutschen Gott beschworen zu sehen, schließlich den konservativen Aufruf zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Arthur Adamows „Adaptation“ von 1941, in der die priesterliche, soldatische und künstlerische Existenz verherrlicht werden. Im Grunde ist in der Tat fast jede Lektüre inklusive der erotischen (Lou als Gottheit) möglich. Diese Indetermination, die jeder dogmatischen Festlegung entgehen will, hat beim katholischen Interpreten die logische Folge, überall bei Rilke nach Zeichen zu suchen, die seine Dichtung doch noch als Vorhof zum Christentum erscheinen lassen. Und das trotz Rilkes wiederholten extrem heftigen Angriffen auf Christus als Vermittler und trotz der systematischen Bejahung des Hiesigen und seiner sakralsten Form, der Sexualität. Marcel behandelt, obwohl er sich dieser Diesseitsbejahung bewusst ist, die Dichtung als Erfahrung der Transzendenz, von der es nur ein Schritt zum Glauben sei. Auch in diesem Punkt trifft er sich mit Heidegger, der in der poetischen Sakralisierung säkularisiertes, „verunglücktes Christentum“ sah, das gewissermaßen einer therapeutischen Sorge bedürfe, sogar gegen Rilkes bewusste Bekenntnisse gerichtet.

Marcel weiß, dass die Duineser Elegien und die Sonette an Orpheus für seine religiöse Hinterfragung Rilkes bedeutender sind als die Neuen Gedichte oder der Malte-Roman. Lou Andreas-Salomé hat Rilke nach der Abfassung der ersten beiden Elegien darauf hingewiesen, dass die frühen Christus-Visionen und die Elegien denselben religiösen Ur-Grund hatten. (Rilke hat sich nicht gescheut, den Entstehungsort Duino als „mein Patmos“ zu bezeichnen.) In den Sonetten an Orpheus sah Marcel, wie schon erwähnt, hohe Zeugnisse für die Existenz des „Geistes“, der Spiritualität, und im singenden Haupt des getöteten Orpheus eine symbolische Parallele zu Christi Tod und Auferstehung. Es ist hier daran zu erinnern, dass die Vorträge im Jänner und Februar 1944 gehalten wurden und Marcel sich gezwungen sah, Rilkes Dichtung wenigstens indirekt auf die geschichtliche Situation zu beziehen, d.h. auf ein Europa, das eine einzige Wunde geworden war. Der „verlorene Gott“, der durch die reißende Feindschaft „verteilte Gott“ ist zwar für ein christliches Verständnis nichts weiter als das mythologische und deformierende Spiegelbild einer authentischen sakralen Wahrheit, doch, sagt Marcel, „es scheint mir, dass dieses Bild eines zerstreuten Gottes für uns Franzosen und Europäer von 1944 die erschütterndste Bedeutung hat: das Schauspiel einer aus den Fugen geratenen Welt fordert uns auf, das Menschliche und Göttliche wieder zusammenzufügen.“30 Auf Rilkes Erfahrung dieser Zerreißung durch den Ersten Weltkrieg, die sich im Zweiten gesteigert wiederholte, antwortet Marcel mit der heilsgeschichtlichen Hoffnung auf Verwandlung, auf eine nicht nietzscheanische „Morgenröte“ für den Homo Viator.

Anmerkungen

1 Joachim Schondorff (Hg.): Französisches Theater des XX. Jahrhunderts. München: Langen-Müller 1960.

2 Zit. in: Richard Wisser: Vom Weg-Charakter philosophischen Denkens. Geschichtliche Kontexte und menschliche Kontakte. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, 457. Übersetzung vom Verf.

3 Gabriel Marcel: La dimension Florestan. Comédie en trois actes avec une postface de l‘auteur suivi d’un essai ‚Le crépuscule du sens commun.‘ Paris: Plon 1958. Zitate übersetzt vom Verf.

4 Gabriel Marcel: Der Untergang der Weisheit. Die Verfinsterung des Verstandes. Heidelberg: Kerle 1960 (ohne die Komödie).

5 Gabriel Marcel: Homo Viator. Prolégomènes à une métaphysique de l’espérance. Paris: Aubier 1944. Neuausgaben Aubier 1963 (mit einem Vorwort) und 1998 (besorgt von der Association Présence de Gabriel Marcel). Zitiert nach dieser Ausgabe, 281–344. Übersetzungen vom Verf. Eine deutsche Ausgabe ist 1949 im Bastion-Verlag Düsseldorf erschienen, eine Neuausgabe unter dem Titel Philosophie der Hoffnung 1964 bei List, München. Im Text zitiert als HV.

6 Jacques Bouveresse: Heidegger und Kraus. Vortrag im Österreichischen Kulturinstitut Paris 1991.

7 Robert Minder: Huit portraits d’Allemands. Commentaires critiques. Karl Kraus: ‚Beim Wort genommen‘. In: Allemagne d’aujourd’hui 7/3 (1956), 115.

8 Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen: Neske 1988, 107–108.

9 Ruth Horwitz an Ludwig von Ficker, 27.2.1953. In: Ludwig von Ficker: Briefwechsel 1940–1967. Hg. von Martin Alber, Walter Methlagl, Anton Unterkircher, Franz Seyr, Ignaz Zangerle. Innsbruck: Haymon 1996, 243–244.

10 Ebenda, 533–534.

11 Jean-François Angelloz: Rainer Maria Rilke. L’évolution spirituelle du poète. Paris: Hartmann 1936, 322 und 335.

12 Hans Urs von Balthasar: Apokalypse der deutschen Seele. Band 3: Vergöttlichung des Todes. Freiburg: Johannes 1998, 193–315.

13 Martin Heidegger: Gesamtausgabe. Abteilung II, Band 53: Hölderlins Hymne ‚Der Ister‘. Frankfurt am Main: Klostermann 1984, 113.

14 Ebenda, Abteilung II, Band 54: Parmenides. Frankfurt am Main: Klostermann 1982, 236.

15 Karl Rahner: „Priester und Dichter“. In: Zeit und Stunde. Ludwig von Ficker zum 75. Geburtstag gewidmet. Salzburg: Otto Müller 1955, 59.

16 Romano Guardini: Rainer Maria Rilkes Deutung des Daseins. Eine Interpretation der „Duineser Elegien“. Mainz-Paderborn: Grünewald-Schöningh 1996, 373.

17 Ficker, Briefwechsel (Anm. 9), 604.

18 Homo Viator (Anm. 5), 280.

19 Ebenda, 544–545.

20 Ebenda, 11–12.

21 Ebenda, 331–332.

22 Ebenda, Anmerkung 12, 235–239.

23 Ebenda, 331.

24 Ebenda, Anmerkung 12, 226.

25 Rainer Maria Rilke und Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Frankfurt am Main: Insel 1975. Brief vom 13. Mai 1897.

26 Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. vom Rilke-Archiv in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt am Main: Insel 1959, Band 3, 157–158.

27 Ebenda, Band 1, 493.

28 Homo Viator (Anm. 5), 310–311.

29 Balthasar (Anm. 12), 196; Rainer Maria Rilke: Briefe aus den Jahren 1914 bis 1921. Hg. von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Leipzig: Insel 1937, 90.

30 Homo Viator (Anm. 5), 343.

„Auctor Austriae“? Ludwig von Ficker als Vermittler- und Projektionsfigur nach 1945
von Ingrid Fürhapter (Innsbruck/Bregenz)

In der Dezembernummer 1945 brachte die Monatszeitschrift Die Wiener Bühne einen „kurzen Hinweis“ auf das „verdienstvolle Werk“ Ludwig von Fickers. Der Herausgeber der in Innsbruck erscheinenden Kulturzeitschrift Der Brenner (1910– 1954) habe sich im „Reiche der bösen Geister, zu dem unser Kontinent, die halbe Erde bald, in den letzten Dezennien sich verwandeln sollte“, beständig als Hüter eines „innerlich konsequenten christlichen Humanismus bewährt“.1 Mit Formulierungen wie „künstlerische[r] Anwal[t] des christlichen Geistes“,2 „literarischer Obhut“3 und „geistige[r] Wächterschaft“,4 die Glaube und Literatur eng verknüpften, wurde Ficker fortan des Öfteren bedacht.5

Parallel wurde in den Medien das Porträt eines opferbereiten Idealisten ohne Eigennutz skizziert, der „nicht nur sein Vermögen“, sondern sein „Herzblut“ für den Brenner hingegeben habe.6 Ficker habe „Gott & nicht dem literarischen Kommerz zu dienen gesucht“, hieß es.7 Hans Kestranek schlug 1949 eine „gross[e] ‚Apologie‘“ in Form einer Geschichte des Brenner vor, um das Bild eines Verlegers zu zeichnen, der nie daran gedacht habe, „aus der Literatur ein Geschäft zu machen“.8 Ficker dagegen fürchtete zu diesem Zeitpunkt im Hinblick auf das „Grabesschweigen, das sich um den ‚Brenner‘ auftürmt, und die Verlegenheit, der sein konsequent festgehaltenes Konzept begegnet“,9 als „Verleger-Dilettant, der sein Vehikel geschäftlich nie recht aufzäumen konnte, abdanken zu müssen“.10 Schon 1935 hatte er resigniert festgestellt: „ohnmächtiger hat noch kein Herausgeber eine Zeitschrift besorgt“.11

Das Jahr 1950 bildete einen ersten Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung Fickers, der seinen 70. Geburtstag feierte und zugleich den 40. Jahrestag der Brenner-Gründung.12 Hier nur einige Schlagworte, mit denen versucht wurde, seine Persönlichkeit zu fassen, vor allem seine moralische Integrität und Unbestechlichkeit im literarischen Urteil: „Stimme der lauteren Menschlichkeit und eines unbestechlichen Gewissens“,13 „Diener am Wort“,14 „Vorkämpfer für Geistesfreiheit und Religiosität“,15 „Vermittler und Erreger religiöser Unruhe und religiösen Dranges“.16 In der privaten Glückwunschkorrespondenz, bei deren Auswertung zu bedenken ist, dass dem Andenken des Betreffenden Schadendes meist ausgeklammert und Positives besonders hervorgehoben wird, fallen verstärkt Äußerungen auf, die Ficker zum Führer in orientierungsloser Zeit stilisieren. So ist etwa Franz Theodor Csokor, Präsident des Österreichischen P.E.N.-Clubs, „stolz“ darauf, in ihm einen Mann von „Klarheit und Haltung in dieser verworrenen Zeit bei uns in Oesterreich zu besitzen“.17 Für Otto Basil war der Herausgeber des Brenner „ein charakterliches und literarisches“ Vorbild.18 1955, im Jahr des Abzugs der alliierten Besatzungsmächte, häuften sich zum 75. Geburtstag Fickers die Einreihungen seiner Person in die österreichische Geistesgeschichte. Unterrichtsminister Heinrich Drimmel dankte für Fickers „Wirken“, durch das er „eine der überzeugendsten Verkörperungen österreichischer Geistigkeit in unserem Jahrhundert“ geworden sei.19 Csokor fasste Fickers Stellenwert für seine Generation unter dem Begriff des sittlichen Vorbilds, das er „einem durch zwei Weltkriege geprüften Geschlecht“ bedeute, zusammen, dessen „strahlende Weisheit“ „über alle Verwandlung hinaus“ „unveränderlich“ bleibe, wie bei den „Schneehäupter[n] der Berge“ um Innsbruck.20 Dieser Wunsch nach Beständigkeit im Wandel wird auch später immer wieder sichtbar, z.B. in Aussagen wie: Ficker sei „ein echtes Zeugnis der Dauer im Wechsel“.21

Ficker war übrigens 1950 unter dem Vorbehalt als Juror für den Österreichischen Staatspreis vorgeschlagen worden, dass er wohl „in Anbetracht seines Alters und der Beschwerlichkeit mehrmaliger Reisen nach Wien“ ablehnen würde: „Wegen des ehrenden Charakters der Berufung wäre jedoch an ihn heranzutreten“,22 heißt es in der Akte der Republik zur Ernennung des Preisrichterkollegiums. 1954 wurde Ficker dann von Seiten des Bundesministeriums für Unterricht ein „untrügliches Urteil in literarischen Fragen“ bescheinigt.23 Sichtbarer Ausdruck für diese Wertschätzung war seine Berufung als Juror des Trakl-Preises.

Wie reagierte Ficker auf die Huldigungen? Das Lob fand er als „zu hoch gegriffen“, er rechtfertigte seine Leistung mit der „Konjunktur gewisser Glücksfälle“,24 spielte seine Herausgeberrolle herunter und berief sich auf „Gott“, der die Mitarbeiter des Brenner „erleuchtet“ habe.25 Insgesamt war er, Eigenaussagen zufolge, „in Grund und Boden hinein überrascht“ von dem Ausmaß „öffentlicher wie privater Zuneigung und Beachtung“. Die Ehrungen hätten ihn „in einen Abgrund von Beschämung“ gestürzt.26 Er empfand sich „als eine Verlegenheitsfigur“, „die nicht recht weiß, wie sie der Beachtung […] angemessen begegnen soll.“27 Über die Verleihung des Goldenen Ehrenrings der Stadt Innsbruck zeigte er sich „ganz erstaunt“, sei er doch immer darauf bedacht gewesen, „kein Aufhebens“ von sich zu machen.28 Die Verleihung des Titels „Professor h.c.“ bereitete ihm „mehr oder weniger nur eine Verlegenheit“.29 An Paula Schlier schrieb er: „das hat mir noch gefehlt! Schrecklich!“30

Und Rudolf Henz gegenüber bekannte er, dass er wegen der Nachricht über die „Auszeichnung“, die ihm der Bundespräsident soeben verliehen habe, „einigermaßen erstaunt und erschrocken“ sei, er „die Nachricht selbst erst aus der Zeitung erfahren“ habe:

Denn ich bin jetzt in der fatalen Lage, Ehrungen für mich einzuheimsen, die eigentlich meinen verewigten Mitarbeitern gebühren. Aber auch das dient schließlich der Selbstbescheidung, und so darf ich mir erlauben, in Ihrer gütigen Aufmerksamkeit ein Zeichen zu sehen, das, entsprechend beherzigt, uns kenntlich macht für alle, die eines guten Willens sind.31

Fickers Kommentar zur Verleihung der Würde eines Ehrensenators der Universität Innsbruck 1965 war ambivalent: „so ziemlich das Groteskeste, das mir in meinen alten Tagen passieren konnte!“32 Er registrierte selbstironisch seine beginnende Ähnlichkeit mit „einem verlegen lächelnden pastoralen Mummelgreis“,33 während andere wie Alfred Eichholz am Idealbild Fickers als „unvergleichliche[m] Führer in der Welt des Geistes“34 festhielten.

1960 wurde Ficker der Große Österreichische Staatspreis verliehen, anlässlich seines 80. Geburtstags zudem das Ehrendoktorat der Freien Universität Berlin. Felix Braun kürte in einem Brief Ficker zur „einzige[n] Instanz im Literarischen [in Österreich], von der approbiert zu werden, genügt.“35 Csokor und Carry Hauser gratulierten im Namen des P.E.N.-Clubs dem „Nestor und getreuen Eckart des schöpferischen Geistes in Österreich“.36 Auch andere bedienten sich der Ehrenbezeichnung eines Altmeisters bzw. Begründers: „Nestor der Literaturkritik“,37 „Nestor einer freien und frommen, christlich inspirierten Hütung und Kritik des dichterischen Wortes“.38 Fickers Name wurde zum Symbol für „den umfassenden Horizont des alten und zugleich zeitlosen Österreich, das durch keine Grenzen oder politischen Zufälligkeiten bestimmt“ sei.39

In den Medien wurde zum einen weiterhin Fickers Pionierrolle als „unbeugsame[r] Wegweiser unseres Wortes“,40 „Wegbereiter auch für Unerkannte und Verkannte“, als „Entdecker und Förderer großer Talente“,41 primär natürlich Georg Trakls, betont: Vieles sei von dem „Prophet[en] aus Innsbruck“ und „liebreiche[n] geistige[n] Richter“42 als Erstem „erkannt, gefördert und erkämpft“ worden.43 Zum andern wurde er als vorausschauender Retter bewertet, der „kostbares Geistesgut über den Abgrund hinübergerettet“ habe, „der die Menschheit zu verschlingen drohte“.44 Fazit: Man war sich einig, dass Fickers Name „leuchtend in der Kultur- und Geistesgeschichte unserer Zeit verzeichnet bleiben“ werde.45 In den Tiroler Medien wurde vor allem auf Fickers Zugehörigkeit zum Tiroler Geistesleben hingewiesen.46

Die Würdigungen 1965 zur Vollendung des 85. Lebensjahres Fickers weichen kaum von den bisherigen Einschätzungen ab. Lotte Tobisch bezeichnete Ficker in der Furche als „de[n] letzte[n] Überlebende[n]“ unter den einsamen Publizisten der Jahrhundertwende und rechnet ihn „jener inneren Emigration, die für so viele ‚Spannungsmenschen‘ zwischen 1870 und 1930 symptomatisch war“, zu.47 Hilde Spiel zählte ihn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu den „großen und reinen Geistern des Katholizismus“.48 Oskar Kokoschka bewertete ihn in einem privaten Schreiben als „großen Förderer der Kultur in Österreich in den schwersten Zeiten“.49 Und Friedrich Hansen-Löve krönte Ficker schließlich im Forum zum „Auctor Austriae“.50

Von wem die Bestrebungen zu den stark stilisierten Würdigungen ausgingen, bleibt unklar. Höchstwahrscheinlich hat Ignaz Zangerle von Anfang an im Hintergrund als Drahtzieher im kulturellen Feld agiert. Zumindest deutet eine Stelle aus einem Briefentwurf Fickers 1962 in diese Richtung. Ficker verwahrte sich darin dagegen, dass Zangerle „und mit ihm alle, die auf ihn schwören“, ihn partout zu einer „Geistesfigur“ machen wollten.51 Auffallend sind erste Versuche, die mythisierende Fremdwahrnehmung Fickers leicht zu korrigieren: Die Neue Zürcher Zeitung stellte fest, dass dieser selbst sich „stets entschieden gegen die Zumutung einer derartigen „‚Führerrolle‘ gewehrt“ habe.52 Das Forum versuchte den Gefahren „der romantischen Verklärung“ und jener „einer abstrakten Analyse“ zu entgehen. Ficker sei „bei aller Güte geistig ein harter Mensch“, aber „nie dogmatisch“.53 Die Welt berichtigte das einseitige Bild vom „gütige[n] Helfer“ und aufmerksamen Zuhörer hin zu jenem vom „gerechte[n] Mahner“ und betonte, dass Ficker „für das ziemlich unordentliche österreichische Kulturleben“ wohl „eine unbequeme Erscheinung“ gewesen sei, was sich in der „Mißachtung“ gezeigt habe, die er zu „erleiden“ gehabt hätte.54 Auch Friedrich Heer äußerte sich in der Furche kritisch zu den verspäteten, offiziellen Ehrungen durch den österreichischen Staat: „sein Geist ist ihm so fremd, daß e[r] sich dies billig leisten kann.“55

Paul Noack, damals stellvertretender Chefredakteur des Münchner Merkurs, äußerte 1964 aufgrund des späten Ruhms, mit dem Ficker bedacht worden war, in der Berliner Zeitschrift Monat die Mutmaßung: „Es scheint, als wolle das offizielle Österreich seit dem letzten Krieg das gutmachen, was es dreißig und mehr Jahre lang an ihm versäumte.“56 Ein Verdacht, den Karl Thieme schon 1953 geäußert hatte: „1950 hat das offizielle Österreich – hoffentlich nicht nur, um sich ein Alibi für April 1938 zu verschaffen – Ludwig von Ficker zu seinem 70. Geburtstag überraschend gefeiert. An der tödlichen Stille hat sich dadurch nichts geändert, in welcher die Auguren der Literatur den Brenner zu begraben entschlossen sind.“57 Als Beleg zitierte Noack Ficker: „In Innsbruck hat man mich immer belächelt, mich immer für einen Außenseiter gehalten. Es gab Innsbrucker Bürgermeister nach 1945, die wurden in den Vereinigten Staaten auf meinen Namen hin angesprochen. Sie wußten aber gar nicht, daß Der Brenner und ich unter ihnen lebte und lebe.“58 Zwanzig Jahre später schaute die Sache anders aus. Der Landeshauptmann von Tirol, Eduard Wallnöfer, bewertete es 1966 als Fickers persönliches Verdienst, „[w]enn für alle Zukunft der Name des Brennerkreises und damit auch der Name unserer Heimat in den Annalen der europäischen Geistesgeschichte fest verankert bleibt“.59 Schon 1960 hatte Hans Neuwirth den Brenner „in die Weltliteratur eingerückt“ gesehen.60 Und 1965 – aus Anlass seines 85. Geburtstags – wird Ficker von Fritz Hochwälder zum „bedeutendsten Mann des heutigen Österreich“ auserkoren.61

Auch in den Nachrufen auf Ludwig von Ficker wirkt das nach 1945 konstruierte Bild fort. Hier zeigt sich die „Macht der Nekrologisten“,62 die auf eine „möglichst dauerhafte Memorialisierung des jeweiligen Toten und seiner Leistungen oder Werke im kulturellen Gedächtnis“63 abzielt, besonders deutlich.

In der Tiroler Kulturzeitschrift Das Fenster, herausgegeben vom Amt der Tiroler Landesregierung, wurde die nachrufende Beurteilung Fickers, so der Redakteur Wolfgang Pfaundler, nicht „altfade[n]“ Literaturhistorikern übergeben, die „sich in geläufige Auslegungen ergehen“, sondern an „zwei junge Tiroler“, die „seine Bedeutung für uns klarmachen“.64 Unter dem Übertitel Ludwig von Ficker gehört der Gegenwart wurde Ficker als „der letzt[e] geistige und menschliche Stützpunkt“ für zahlreiche Einzelgänger bezeichnet. Für die Literaturhistoriker hingegen sei er seit dem Ende des Brenner „tot“.65 Der Maler Wilfried Kirschl wehrte sich gegen eine Vereinnahmung Fickers als „eine[n] der Unsern“, zumal der Brenner immer noch „ein Fremdkörper im geistigen und kulturellen Milieu des Landes“ sei.66 Pfaundler selbst nahm direkt Anleihe bei Hochwälder, wenn er in einem ersten Konzept der Zeitschrift für das Land Tirol in Bezug auf Ficker vom „Tod des bedeutendsten Mannes auf dem kulturellen Sektor Tirols im 20. Jahrhundert“ schreibt.67

Dass neben den beiden jungen Tirolern Kirschl und Pfaundler doch auch ein Nachruf von Friedrich Torberg im Fenster erschien, begründete Pfaundler wie folgt: „Diese Verbeugung war wohl sehr angebracht, da sie ja nicht der Person Torbergs gilt, sondern der einzigen kulturellen bedeutungsvollen Zeitschrift Österreichs, dem Forum, dessen Gründer Torberg ist.“68 Torberg bescheinigte Ficker „Einklang von […] Wort und Tat“.69 Allein „durch seine bloße Existenz“ habe er ein „Schamgefühl“ hervorgerufen.70

Detail am Rande: Martin Heidegger, den Ficker 1952 anlässlich einer Gedenkfeier auf der Bühlerhöhe in Baden-Baden kennen gelernt hatte, kam trotz Aufforderung seitens Pfaundlers dem „Wunsch nach einem Nachruf “ für den von ihm „so hochverehrten Herrn v. Ficker“ nicht nach: „Ich bin gerade von Athen, wo ich einen Vortrag zu halten hatte, zurückgekehrt und muss in der nächsten Woche zu einem festgelegten Arbeitstermin in Zürich sein.“71

Im Großen und Ganzen wurde Ficker in den Nachrufen zur prophetischen Führergestalt stilisiert. Dies geschah vor allem in jenen Beiträgen, die in der katholischen Presse erschienen und Ficker und den Brenner – bei gleichzeitigem Ausblenden kirchenkritischer Tendenzen, wie sie sich u.a. in den Beiträgen Theodor Haeckers manifestierten – für den Katholizismus vereinnahmten. Dies belegen Zuschreibungen wie „Pionier, Prophet und Bewahrer in Personalunion“, „Fährtenleger in ein Neuland des –Geistes“,72 „Seher und Kritiker des Christentums“,73 „Führer einer geistig-literarischen Erneuerungsbewegung in christlich-existentiellem Geist“74 und „Leuchtturm auf Felsengrund im Strudel der politischen und kulturellen Umwälzungen“75 deutlich. Immer wieder wird auf Heers Formulierung „Hüter des frommen und freien Geistes“76 rekurriert. Auffallend sind auch die biblischen Bezugspunkte. So sah Franz Seyr die Funktion Fickers in jener „des Wegbereiters zu einer wahren Christophorusgestalt“.77 Heer erhob Fickers Leben zur „Karfreitags-Existenz“.78 Für Edgar Traugott war dessen Mühlauer Wohnhaus „ein Kreuzweg und Umschlagplatz des europäischen Geistes“.79 Gräfin Maria Strachwitz-Trapp schließlich brachte die Tendenzen zur ‚Heiligsprechung‘ Fickers in den aus heutiger Sicht sehr pathetischen Nachrufen in einem Schreiben an Torberg auf den Punkt, wo sie auf dessen Nachruf im Fenster Bezug nahm:

Vor allem hat es mich gefreut, dass dieser Nachruf ohne Phrasen und ohne Pathos geschrieben ist, wie das sonst so oft der Fall ist, und was so gar nicht zu ihm gepasst hätte. Sie haben es getroffen, ihn derart „richtig“ darzustellen, dass er mir lebendig vor Augen gestanden ist. Genau so war er – und auch für mich war er das, was ich mir unter einem Heiligen vorstelle.80

Die unhinterfragte Vermutung, dass Fickers Rang in der österreichischen Literatur- und Kulturgeschichte nun tatsächlich im Bewusstsein der Allgemeinheit verankert wäre, wie es die offiziellen Würdigungen nach seinem Tod nahe legten – in Wien galt Fickers Wort angeblich alles („H. v. F. kommt dort gleich nach dem lieben Gott!“)81 –, wurde kurz nach Fickers Tod jedoch durch das laut Hans Rochelt „[b]eschämende Desinteresse“ widerlegt, das dem Buch Denkzettel und Danksagungen, das Aufsätze und Reden Fickers enthält und im Kösel-Verlag erschien, entgegengebracht wurde. Rochelts enttäuschte Diagnose, die einen Warnruf an alle Wissenschaftler beinhaltet, lautet wie folgt: „Die Geborgenheit, die immer noch alle mit dem ‚Brenner‘ und seinen Autoren Befaßten umschließt, mag ihnen den Blick für die Realität getrübt haben.“82

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