Kitabı oku: «Mensch. Maschine. Kommunikation.», sayfa 8
2 Hintergrundinformationen
2.1 Influencer*innenInfluencer*in
Der Terminus «InfluencerInfluencer*in» wurde bereits im Jahr 1944 durch den Soziologen Paul Lazardsfeld geprägt. Seine Studie «The People’s Choice» handelt von Personen, die die Meinung anderer im Rahmen eines Wahlkampfes prägen, sogenannten «opinion leadersOpinion Leader» (siehe Eror 2018). Das Bestreben, solche «opinion leadersOpinion Leader» für die eigenen Vermarktungszwecke zu verwenden, gibt es demnach schon lange. Und wenn heute beispielsweise die schweizerische Telekomfirma Sunrise eine Plakatwerbungskampagne mit dem Tennisstar Roger Federer startet, nutzt sie ebenfalls Federers Rolle als «opinion leaderOpinion Leader».
Influencer*innenInfluencer*in im heutigen Verständnis beeinflussen die Meinungen und Bedürfnisse ihrer Abonnent*innen. Dies geschieht selten im öffentlichen, physischen Raum, sondern mehrheitlich über virtuellevirtuell Kanäle wie Youtube, TikTok, FacebookFacebook, TwitterTwitter, Reddit oder InstagramInstagram. Modemarken, Feriendestinationen, Festivals, Automarken und viele weitere Unternehmen nutzen die Macht der Influencer*innen, um ihre Produkte anzubieten. Dies gelingt, laut der Onlinemarketing-Firma Advidera, deshalb, weil die Influencer*innenInfluencer*in ein hohes Ansehen bei ihren FollowerFollower*in*innen geniessen, eine bestimmte Zielgruppe vertreten, über eine hohe Glaubwürdigkeit verfügen, eine hohe Aktivität in den Sozialen MedienMedium/Medien aufweisen und viele Abonnent*innen haben (Clement o.J.).
Sucht man nach soziologischen oder linguistischen Forschungstexten zum Phänomen der Influencer*innenInfluencer*in, so wird man kaum fündig. Dagegen häufen sich Marketingtipps für Influencer*innen und für Firmen, die mit ihnen zusammenarbeiten möchten. Der momentane Forschungsfokus liegt klar auf dem ökonomischen Potential dieser (Berufs-)Gruppe. Und dennoch lassen sich keine verlässlichen Zahlen dazu finden, wie gross der Einfluss einer Influencer*in auf den Umsatz einer Firma tatsächlich ist. Aufschluss über den Glauben der Firmen an die ökonomische Macht der Influencer*innen geben jedoch deren Gagen. Eine der berühmtesten deutschen InfluencerinnenInfluencer*in, «Bibisbeautypalace», mit 5,5 Millionen FollowerFollower*in*innen auf InstagramInstagram (siehe Instagram 2020b), kann vermutlich mit einer Gage von 27900 US-Dollar pro Post rechnen (siehe Schär 2018). Mit ihren 2,4 Millionen Abonnent*innen bewegt sich Lil Miquela zwar nicht in dieser Grössenordnung, weist aber bereits ein beträchtliches Umsatzpotential auf.
2.2 InstagramInstagram
Bei InstagramInstagram handelt es sich um eine kostenlose Social-Media-Plattform mit weltweit rund 800 Millionen Benutzer*innen (siehe Instagram 2020c). Instagram wird vor allem über eine Applikation auf dem SmartphoneSmartphone benutzt, mittlerweile existiert aber auch die Möglichkeit, die Plattform über den ComputerComputer zu nutzen. Es gibt normale und verifizierte Instagram-Accounts: Verifizierte Accounts haben ein blaues Häkchen hinter ihrem Benutzernamen, verfügen über eine grosse Anzahl FollowerFollower*in*innen und geniessen mehr Rechte als normale Accounts. Jede*r Benutzer*in kann auf ihrem oder seinem Profil (meist quadratische) Bilder veröffentlichen, das heisst im eigenen ‹Feed› platzieren und anderen Benutzer*innen folgen. Dies führt dazu, dass diese Bilder auf der ‹Timeline› der jeweiligen Benutzer*in auftauchen. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, die eigenen Profile privat zu gestalten. In diesem Fall muss man als Benutzer*in den Anfragenden zuerst Zutritt zum Profil gewähren, damit die eigenen Bilder sichtbar werden. Ähnlich wie bei TwitterTwitter ist es auch auf InstagramInstagram möglich, nach Benutzernamen und Schlagworten, sogenannten ‹Hashtags›, zu suchen und Emojis in die Texte einzubauen. Ebenso müssen die Benutzernamen nicht den Klarnamen der Personen entsprechen.
Als InstagramInstagram-Benutzer*in kann man alle öffentlichen und privaten Bilder, deren Zugang man erhalten hat, liken und kommentieren. Ebenso besteht die Möglichkeit, etwas in die ‹Story› zu posten. Diese Bilder bleiben 24 Stunden zugänglich und sind nachher für andere Betrachter*innen nicht mehr abrufbar. In diesen Storys können auch öffentliche Bilder anderer geteilt werden. Account A könnte also ein Bild von Account B in seiner Story teilen, was Account C dann sehen würde, und dieser Account C könnte sich dann dazu entscheiden, dieses Bild ebenfalls zu teilen und sogar Account B zu folgen. Neben Bildern steht es User*innen auch offen, über das Feature ‹IG TV› [InstagramInstagram TV, MJ] längere Videos von bis zu zehn Minuten hochzuladen (wenn es sich um einen verifizierten Account handelt, sogar bis zu sechzig Minuten lange Videos).
2.3 Lil Miquela
Lil Miquela ist neunzehn Jahre alt (siehe Miquela o.J.). Ihr Account existiert seit 2016 (siehe Shieber 2018), ist verifiziert und öffentlich. Im Gegensatz zu vielen anderen Influencer*innenInfluencer*in handelt es sich bei ihr allerdings, wie bereits erwähnt, nicht um eine reale Person. Dazu ein Beispiel:
Abb. 1:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 28.06.2020
Die Haut wirkt zu makellos und ihr Gesicht ist näher an einer Trickfilmanimation als an der menschlichen Physiognomie. Die Blumen und der Raum hingegen scheinen real zu sein. Dies stellt sich als wiederholendes Muster heraus: Die animierte Lil Miquela befindet sich an einem fotografierten, realen Ort, manchmal interagiert sie auf den Bildern auch mit existierenden Menschen. Als InfluencerinInfluencer*in setzt sie sich für altruistische, notabene real existierende Projekte ein; zurzeit macht sie in ihrer Beschreibung, der sogenannten ‹Bio›, z.B. auf die Black Lives Matter Bewegung aufmerksam. Deshalb bezeichnet sie sich auch als «change-seeking bot». 2018 sorgte sie für Schlagzeilen, als ihr Account von einer anderen InfluencerinInfluencer*in gehackt wurde. Diese nennt sich «Bermudaisbae», ist blond, politisch konservativ ausgerichtet und ebenfalls ein BotBot (siehe Eror 2018). Tagelang postete Bermudaisbae Bilder von sich über den bereits populären Kanal Lil Miquelas. Beendet wurde dies erst durch ein angebliches Treffen der beiden Bots, bei welchem Lil Miquela über die eigene Bot-Natur und jene der Kontrahentin aufgeklärt wurde:
Abb. 2:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 19.04.2018
Abb. 3:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 19.04.2018.
Seit diesem Vorfall geben sich die beiden Accounts als Freundinnen aus (siehe Shieber 2018) und Lil Miquela verbreitet das Narrativ, sie sei eine Laborkreation der Firma Cain Intelligence.1 Nach dem Treffen mit Bermudaisabe habe sie die Skrupellosigkeit ihrer «Mutter»firma erkannt und darauffolgend eine neue Roboterfamilie und eine neue Identität gefunden. Nun verfüge sie über eine brasilianische und spanische Herkunft und versuche sich als Musikerin (siehe Miquela o.J.).
Neben Bermudaisbae und Lil Miquela existieren mittlerweile noch weitere, auf diese Weise animierte Influencer*innenInfluencer*in, die untereinander und nach aussen interagieren. Kreiert wurden sie von der in Los Angeles basierten Startup-Firma brud, die Lil Miquela als ihre neue Roboterfamilie bezeichnet (siehe Shieber 2018). brud wurde unter anderem von Trevor McFedries gegründet, der bereits mit Musiker*innen wie Ke$ha, Katy Perry und BANKS zusammenarbeitete. Sein Team und er orchestrierten auch das oben erwähnte Accounthacking-Melodrama, selbst wenn sie zunächst verlauten liessen, eine weitere Firma sei darin involviert gewesen (siehe Shieber 2018).
Über die Firma brud und ihre Intentionen ist wenig bekannt. Die Webseite besteht aus einem öffentlich zugänglichen Google-Drive-Dokument, das mit folgenden Zeilen beginnt: «Brud is reading War of the Worlds on the radio a transmedia studio that creates digital character driven story worlds» (brud o.J.). Die durchgestrichene Aussage referiert auf eine Begebenheit aus dem Jahre 1938. Damals wurde die Hörspielumsetzung von Orson Welles Roman «War of the Worlds» vom US-amerikanischen Radiosender CBS übertragen. Daraufhin gerieten einige Zuhörer*innen in Panik, da sie nicht differenzieren konnten, ob es sich beim Gehörten um Realität oder Fiktion handelte, und sie befürchteten, Aliens griffen nun die Erde an (siehe Schwartz 2015). Nach diesem kurzen Satz folgt auf der brud-Webseite eine knappe Frage und eine Antwort-Sektion. Unter anderem ist Folgendes zu lesen: «Is Miquela real? – As real as Rihanna» (brud o.J.). Bereits durch diese kurze Frage-Antwort-Sequenz deutet sich die Absichten der Firma an, sofern ihrer Webseite Glauben geschenkt werden darf: Getestet werden soll die Grenze zwischen dem, was als Realität wahrgenommen, und dem was, als Fiktion klassifiziert wird. Kann die Social-Media-Präsenz des Popstars Rihanna überhaupt noch als real bezeichnet werden, wenn klar ist, dass jedes Foto gestellt ist und Bildbearbeitungen unterlief? Es wird versucht, die Kategorien gegeneinander auszuspielen. Eine Orientierung bietet Welles Radiosendung. So schien die Situation einer Invasion durch Aliens 1938 höchst absurd und doch gelang es, einen Teil der Hörer*innenschaft zu überzeugen. Derselbe Effekt lässt sich bei Lil Miquela beobachten: Trotz ihrer offensichtlichen Künstlichkeit schenken ihre FollowerFollower*in*innen ihr Aufmerksamkeit, sogar VertrauenVertrauen. Dies ist wohl auch ein Effekt ihrer altruistisch inszenierten Persönlichkeit.
3 Analyse
In der folgenden Analyse stehen, wie angekündigt, vier Posts von Lil Miquela im Fokus. Die Auswahl soll einen Überblick über die verschiedenen Arten ihrer InstagramInstagram-Aktivität geben und dazu dienen, herauszufinden, weshalb Lil Miquela von vielen ihrer FollowerFollower*in*innen als menschlich wahrgenommen wird.
3.1 Das SpiegelselfieSelfie
Bei diesem Post handelt es sich um den bereits weiter oben gezeigten Post Lil Miquelas:
Abb. 4:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 28.06.2020
Das Bild sagt zunächst wenig über die Umstände oder die Gründe für diesen Post aus, weshalb die Leser*innen zum Text wechseln müssen, um ihn zu verstehen: «2020 has proven that Ariana Grande’s ‹No Tears Left to Cry› ain’t my song … evidently I’ve got more». 2020 verweist einerseits auf den Zeitpunkt der Aufnahme. Andererseits kann das Jahr 2020 – aufgrund der Covid-19-Pandemie und deren Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialleben – auch als Symbol für eine Zeit gelesen werden, die alle Pläne sabotiert und alle Vorstellungen von Normalität aus den Angeln hebt. Lil Miquelas Reaktion darauf drückt sie mit dem Liedtitel «No Tears Left to Cry» aus. Diese Liedauswahl, in Kombination mit der Nennung der Sängerin Ariana Grande, referiert auf folgende Begebenheit: 2017 kam es an einem Konzert Ariana Grandes in Manchester zu einem terroristischen Anschlag. Danach wurde es länger ruhig um die Sängerin, bis sie sich mit diesem Lied zurückmeldete. Wenn Grande über die fehlenden Tränen singt, dann referiert sie darauf, Positivität und Liebe in der Welt verbreiten zu wollen, anstatt Trauer und Hass (siehe LeDonne 2018). Dieses Musikstück verweist demnach auch auf die Überwindung einer Phase unverschuldeter Trauer. Lil Miquela aber scheitert daran, ihre Trauer hinter sich zu lassen.
Die drei Punkte in der Bildbeschreibung symbolisieren eine Denkpause. Diese löst bei den Leser*innen gleich mehrere Reaktionen aus. Einerseits wirkt es so, als legte auch Lil Miquela beim Schreiben eine Pause ein, um sodann zuzugeben, dass sie weint. Andererseits lässt die Pause den FollowerFollower*in*innen auch Zeit, die Verweise zu verstehen, damit der letzte Teil des Satzes «evidently I’ve got more» [offensichtlich habe ich noch mehr Tränen übrig, MJ] als Umkehrschluss verstanden werden kann. Dieser letzte Teil weist implizit auf das Bild. Der Blick wird durch den Text also auf das Bild zurückgelenkt. Allerdings sind da auf den ersten Blick keine Trauer oder Tränen erkennbar. Das Fehlen der als angekündigten Kohärenz irritiert. Diese stellt sich erst ein, wenn man das Genre des Bildes, ein Selbstportrait mittels Handykamera im Spiegel, genannt ‹Spiegelselfie›, betrachtet. Ein SelfieSelfie ist immer eine Momentaufnahme von sich selbst zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der Text weist indexikalisch darauf hin, dass Trauer das überwiegende Thema dieses Augenblicks ist. Interessant ist auch die Rolle des Spiegels, der als Symbol der Selbstbetrachtung und Selbstreflexion gelesen werden kann. Lil Miquela wird hier als denkendes und fühlendes Wesen dargestellt; sie wirkt durch das Mitteilen ihrer Gefühle ehrlich, ja authentisch.
Der Einsatz des Spiegels ist aber auch ein Metakommentar zur Plattform InstagramInstagram und ihren NutzerNutzer*in*innen. Ein Spiegel macht aus der Realität immer eine Abbildung. Vor einem Spiegel betrachtet man sich und posiert automatisch auf jene Art und Weise, wie man sich selbst sehen möchte. Auch Lil Miquela nimmt eine derartige Pose ein. Das Abgebildete nähert sich deshalb eher einer Vorstellung, einem unmittelbaren Objekt oder einem Ikon der Person als der Wirklichkeit an. Dieses Entfernen von der Realität wird durch die zusätzliche Künstlichkeit Lil Miquelas unterstrichen. Sie wird selber zum Hinweis des Kalküls, mit welchem Inhalte auf der Plattform Instagram, wo die meisten Fotos der Influencer*innenInfluencer*in geschönt sind, publiziert werden. Die Fotografie des Spiegelbildes verdoppelt die Künstlichkeit und verstärkt die Aussage über die idealisierte Bildwelt auf InstagramInstagram.
Durch den Spiegel und die Aktivität, sich selbst fotografieren zu können, gleicht Lil Miquela einer tatsächlich Lebenden. Dies wird durch die Anwesenheit der vielen Pflanzen im Raum verstärkt. Indem sich Lil Miquela mit diesen umgibt, fügt sie sich in die Realität, in die Natur ein und überträgt deren Lebendigkeit auf ihre eigene Existenz – auch, weil Pflanzen gepflegt werden müssen und das kaum durch eine künstliche Entität vollbracht werden kann. Die Flora braucht Wasser und Zuneigung, um zu wachsen und zu blühen, wie es die Orchideen im Vordergrund tun. Das Wachsen und Blühen wird in das Bild gebracht und kann auf Lil Miquela übertragen werden. Stellt der geschriebene Text fest, dass sie traurig ist, obwohl sie dachte, dies überwunden zu haben, so verweist das Bild proleptisch darauf hin, dass sie an dieser Situation wachsen wird. Bild und Text haben bei diesem Post also eine Relais-Funktion.
Der Grund von Lil Miquelas Trauer wird, ebenfalls als komplementärer Teil, durch den Kommentar ihrer Freundin Bermudaisbae angedeutet. Diese schreibt: «omg – if he makes you cry one more time». Wer mit «he» gemeint ist, bleibt beim Betrachten dieses Posts unklar. Der Hinweis auf Tränen und die Erwähnung eines männlichen Konterparts referieren vermutlich auf einen früheren Post, der Lil Miquela weinend zeigt. In diesem schreibt sie über das schwierige Verhältnis mit einem Jungen, den sie «angel boi» nennt:
Abb. 5:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 19.09.2019
Das Bild zeigt Lil Miquela mit verschmierten Schminkspuren auf den Wangen und traurig, aber direkt in die Kamera blickend. Die Spuren stehen indexikalisch dafür, dass Lil Miquela geweint hat und überhaupt Tränen vergiessen kann. Das Bild ist in seiner Gänze ein Symbolbild, das ungemachte Bett im Hintergrund und die Mascara-Spuren auf der Wange erinnern an typische Szenen aus Coming-of-Age-Filmen, in denen Teenager*innen vor Liebeskummer weinend auf dem Bett liegen. Als Symbolbild kann es betrachtet werden, weil es näher am Ideal als an der Realität einer weinenden Person ist. Der Lipgloss wirkt frisch aufgetragen, die Augen sind weder verquollen, noch ist die Nase gerötet und das Make-Up rund um die Augen sitzt weiterhin perfekt. Diese Widersprüchlichkeit zwischen dem Ausdruck der eigenen Traurigkeit und der gleichzeitigen nahezu perfekten Fotogenität kann als Index für die performative Kommunikation auf InstagramInstagram gelesen werden. Sogar der intimste Moment der psychischen Verletztheit wird zu einer Darstellung der eigenen Person. Dieser performative Aspekt wird durch den bereits erwähnten, direkten Blick in die Kamera unterstrichen. Lil Miquela zieht sich in ihrer Trauer nicht zurück, sondern lässt alle daran teilhaben. Der direkte Blick in die Kameralinse weist hier indexikalisch darauf hin, dass Lil Miquela vor ihren FollowerFollower*in*innen nichts zu verbergen hat und ehrlich mit ihrem Publikum umgeht. Es ist ein vertrauensstiftendes Element. Bei diesem Post stehen Geschriebenes und Bild in einem Verankerungsverhältnis: Die im Kommentar angekündigten Tränen sind auch auf dem Bild zu finden. Der Blick wird vor allem auf den Gemütszustand Lil Miquelas gelenkt und die Umgebung grösstenteils ausgeblendet.
3.2 Lil Miquela und Ashley O.
Lil Miquela nimmt die Rezipierenden aber nicht nur in ihre Gefühlswelt mit oder inszeniert ihre Beziehungen zu anderen Bots und Menschen, sie kommentiert ihre eigene Identität des Öfteren auch selber. Ein mehrschichtiges Beispiel ist folgender Post vom 11. Dezember 2019:
Abb. 6:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 11.12.2019
Im Text geht Lil Miquela auf die Umstände und ihre Befindlichkeit auf diesem Foto ein. Das Smiley mit den hängenden Mundwinkeln ist ein geläufiges Symbol für schlechte Stimmung. Die InfluencerinInfluencer*in scheint aufgrund ihrer Schreibblockade unglücklich zu sein. Im nächsten Teil der Aussage erzählt sie, was sie dagegen unternimmt. Dabei verwendet sie die Lexeme «inspo» und «cosplay». Beide Begriffe deuten ihre Expertise als InfluencerinInfluencer*in im virtuellenvirtuell Raum an. «inspo», kurz für «inspirational», wird seit Längerem als InstagramInstagram-Hashtag für verschiedene Bilder verwendet, sei es um Motivationsposts für Diäten, einen gesunden Lebensstil oder besseres Studieren zu kategorisieren. Dabei verweist das Wort auf eine tiefere Bedeutung des beigefügten Bilds. Es ist nicht bloss pittoresk anzuschauen, sondern soll die Benutzer*innen dazu inspirieren, ihr Leben möglichst erfolgreich zu gestalten (siehe Stadler 2016). «cosplay» bezeichnet eine ursprünglich im ostasiatischen Raum entstandene Art des Verkleidens, bei dem man sich eine Figur der Popkultur aussucht und diese dann portraitiert. Weltweit gibt es mittlerweile jährlich hunderte von CosplayCosplay-Zusammenkünften.Instagramsoziales Netzwerk1 In ihrer schriftlichen Äusserung lässt Lil Miquela mittels drei Punkten eine Lücke für den Namen der Figur, die sie durch das Cosplay darstellen möchte. Diese Leerstelle fordert die Betrachtenden auf, die Antwort an einem anderen Ort des Textes zu finden.
Der Blick schweift deshalb zum Bild; das Geschriebene und die Abbildung stehen auch hier in einem Relaisverhältnis. Dazu muss man Folgendes wissen: Mitte 2019 veröffentlichte der Film- und Serienstreamingdienst NetflixNetflix neue Folgen der dystopischen Serie Black Mirror (s.a. den Beitrag von Seebass i.d.B.). Die Serie portraitiert eine Gesellschaft in unserer nahen Zukunft, in welcher aufgrund der Technologisierung und Digitalisierung immer wieder Katastrophen geschehen. In der Folge «Rachel, Jack and Ashley, Too», die am 5. Juni 2019 freigeschaltet wurde, spielt die US-amerikanische Sängerin Miley Cyrus den Popstar ‹Ashley O.›. Auf der Bühne trägt diese Figur einen violetten Bob als Perücke, wie Lil Miquela es auf dem Foto tut. Ashley O. verkauft elektrische, redende Spielzeugpuppen, genannt ‹Ashley Too› (vergleichbar mit Sprachassistent*innenSprachassistenz wie AlexaAlexa oder SiriSiri). Spricht man mit Ashley Too, kann sie akkurat reagieren. Im Verlauf der Serienfolge wird immer offensichtlicher, dass Ashley Too nicht nur eine Spielerei ist, sondern eigene Gedanken entwickeln und Kinder manipulieren kann (siehe Hibberd 2019). Trägt nun Lil Miquela eine solche Perücke, dann zeigt dies gleich mehrere Sachverhalte an. Einerseits stellt sie sich in eine Linie mit einer erfolgreichen Sängerin, andererseits verweist sie auf den unheimlichen Aspekt dieser Black Mirror-Folge. Auch die künstliche Lil Miquela behauptet in ihren Posts, eigene Gedanken und Gefühle zu haben. Diese Verselbstständigung eines Bots und die Manipulierung ihres Publikums schwingt durch das Tragen der Perücke mit. Und wie Ashley O. besitzt auch Lil Miquela die Möglichkeit, ihre FollowerFollower*in*innen zu beeinflussen. Sie trägt Markenkleider und preist sie im Text an:
Abb. 7:
InstagrampostInstagram von Lil Miquela, 20.03.2020
Des Weiteren nimmt die Verwendung der Perücke Bezug auf die Realität, denn selbst wenn Ashley O. fiktiver Charakter einer Fernsehserie ist, landete sie 2019 mit ihrem Lied «On a Roll» in der realen Welt einen Hit (siehe Billboard 2019). Lil Miquela verweist mit dem Tragen der Perücke und den eigenen Schwierigkeiten, ein Lied zu komponieren, auf diese Begebenheit. Gleichzeitig kann «On a Roll» für die Möglichkeit stehen, dass reale Sänger*innen für erfolgreichen Lieder keine Voraussetzung mehr sind, sondern dieser Erfolg auch Lil Miquela und anderen künstlichen Charakteren offen steht. Andererseits schreibt Lil Miquela weiter oben (siehe Abbildung 5) «NOT me.». Das Schreiben in Majuskeln ist ein Symbol für die Wichtigkeit der Aussage. Sie möchte explizit nicht mit diesem Charakter verwechselt zu werden, obwohl Parallelen bestehen. Dies beweist, dass ihr sehr wohl bewusst ist, wer Ashley O. ist. Das ist ein Index dafür, dass sie, trotz ihres BotBot-Daseins, sehr wohl mit derzeitigen popkulturellen Entwicklungen vertraut ist. Lil Miquelas Aussage endet damit, ihre FollowerFollower*in*innen zu fragen: «What should I do??». Diese Nachfrage ist vertrauensstiftend. Die InfluencerinInfluencer*in wird nicht als allwissend oder gar perfekt dargestellt, sondern als reflektierendes Individuum, das ab und zu einen Rat gut gebrauchen könnte.