Kitabı oku: «Menschen, die Geschichte schrieben», sayfa 4
Erinnerung ist, so halten wir fest, eine Form der Wirklichkeit, der Wirklichkeit nämlich des kulturellen Gedächtnisses, des sozialen Wissens, des gelehrten Diskurses, der argumentativen, politischen und sozialen Interaktion. Sie lenkt soziale und politische Realitäten, die ihrerseits von vielfach modulierten Erinnerungen durchsetzt und geformt sind. Sie stoßen sich an einer Wirklichkeit, die aus den Folgen realer Taten hervorging. Die legendär überformten Erinnerungsstufen aber können sich den Augenblick nicht aussuchen, in dem sie zu wirken beginnen und eine neue Wirklichkeit schaffen, und müssen sich dennoch an diesen Augenblick anpassen. So war es auch jetzt: Im Westen forderte das Gedächtnis an Karl die Bildung der Nation, im Osten indessen schürte sie den Konflikt mit Frankreich.
So zeichnete sich nur in Frankreich eine konsequente Entwicklung ab. Sie mündete – leicht fasslich, nachlesbar und zukunftsweisend – in die Grandes Chroniques de France, die, von Ludwig dem Heiligen in Auftrag gegeben und von einem aufwendigen Bildprogramm begleitet, zum Geschichtsbild des spätmittelalterlichen Frankreich schlechthin wurden. Sie wiesen den direkten Weg von den Franken zu den Franzosen, von den Karolingern zu den Kapetingern und später zu den Häusern Valois und Bourbon, von Karl dem Großen zu Ludwig dem Heiligen. Dieser Karl führte mit Selbstverständlichkeit das ruhmreiche Königsbanner, das in ihm und durch ihn geheiligt war und eben gerade, in der Schlacht von Bouvines, über Johann ohne Land und den Kaiser Otto IV. triumphiert hatte: die drei goldenen Lilien auf blauem Grund, das Wappen der französischen Könige.
In Deutschland indessen war nichts dergleichen eingetreten. Hier etablierte sich allein – zaghaft genug und rudimentär – der religiöse Karlskult. Dazu trat der Reichtum an Karlssagen, der sich keinem einigenden Programm unterwarf. Weder dieser noch jener artikulierte ein übergreifendes Ziel, das sich an Karls Namen heftete und der deutschen Geschichte Richtung und Sinn gewiesen hätte. Die Wirkungen der Realität und der Erinnerungen an dieselbe traten in Ost und West eklatant auseinander.
„Karl der Große“ also oder „Charlemagne“? Die Frage wurde in dieser zugespitzten Form 1935 in Deutschland aufgeworfen;17 sie war keineswegs, wie in letzter Zeit gerne behauptet wird, falsch gestellt. Sie entsprang vielmehr der historischen Erfahrung in den unterschiedlichen und in sich noch weiter differenzierenden mittelalterlichen Erinnerungsgemeinschaften des Ostens und des Westens, sowie den davon ausgehenden realen politischen und sozialen Wirkungen, die bis tief in die Neuzeit reichen. Sie kann auf jenen erwähnten Wirkungsfächer aus Realitäten und realitätsstiftenden Erinnerungen verweisen, von dem oben die Rede ist.
Die Antwort muss gemäß diesem Wirkungsfächer differenzieren: Hier ging es um „Karl den Großen“, dort um „Charlemagne“, und mit ihnen um zwei höchst unterschiedliche Erinnerungsfiguren und divergierende historische Phänomene. Dass weder diese noch jene Figur den historischen Frankenkönig und Kaiser erfasste, der, wenn überhaupt, nur aus dem gedächtniskritischen Rückverfolgen der Erinnerungsströme zu ihrem Ausgang erfasst werden kann, das steht auf einem anderen Blatt. Ein solches endet nicht bei den sogenannten ‚Quellen‘, insofern diese gewöhnlich für den direkten Niederschlag der einstigen Geschehnisse betrachtet werden. Denn auch diese ‚Quellen‘ spiegeln komplexe, transitorische Wirklichkeiten, die in ihrer Flüchtigkeit kaum fassbar sind; sie sind nahe oder ferne Gedächtnisprodukte und müssen als solche analysiert werden. Wie weit das möglich ist, sei an dieser Stelle nicht erörtert.
Indes, wir sind dem historischen Geschehen vorausgeeilt. Denn noch vor dem königlichen Heros und Helden trat, wie eben erwähnt, der Sünder Karl in das kulturelle Gedächtnis und entfaltete über dasselbe eine nachhaltige Wirkung, die schließlich in seine Verklärung als Heiligen mündete und auch den weltlichen Heros, seine Taten und Wirkungen nicht unverwandelt ließ.
SÜNDER UND HEILIGER
Der Weg begann mit der erwähnten Vision Wettis. Sie erinnerte an den viel liebenden Karl, einen nimmersatten Weiberhelden und Vater zahlreicher Bastarde, dem im Jenseits, auf den Läuterungsberg verwiesen, ein Untier das ständig nachwachsende Geschlecht zernagte; und sie bediente sich dieser Vision, um psychischen Druck auf den Konvent zu üben und eine neue religiöse Institution, das aufwendige monastische Gebetsgedenken, zu etablieren. Das Mittel zeitigte den gewünschten Erfolg. Das Gebetsgedenken wurde nicht nur eingerichtet, es erwies sich in den kommenden Jahrhunderten als eines der stärksten religiösen und sozialen Handlungsmotive für Klosterstifter und Mönchtum, für Sozialfürsorge und karitative Einrichtungen. Wie dem aber sei, einstige Wirklichkeit und Erinnerung drifteten auch jetzt in ihren realen Wirkungen auseinander und schufen neue Wirklichkeiten, die nichts mehr miteinander gemein hatten.
Nicht minder Fantastisches als die Reichenauer mutete der Autor der „Wunder des hl. Goar“ von 839 seinen Lesern zu. Karl mied danach, als er einst vom Mittelrhein nach Aachen fuhr, den direkten Weg von Ingelheim nach Koblenz. Er hätte ihn an St. Goar und damit an einer von Romanen gepflegten Kultstätte eines Romanen vorbeiführen und ihn dort zum Gebet verweilen lassen müssen. Der König wollte das offenbar vermeiden. Die Strafe ließ nicht lange auf sich warten. Nebel kam auf, und Karl verirrte sich. Nur nach eindringlichem Sündenbekenntnis und inbrünstigem Gebet erreichte er sein Ziel: Seht, auch der mächtigste König wird von dem hl. Goar bezwungen und bekehrt.
Karl also der bußfertige Sünder. Dieser Zug der Legendenbildung fand Nachahmung und Fortsetzung, die in einer großen, unaussprechlichen und bis heute nicht namhaft zu machenden Sünde gipfelte, die Karl beklagte, aber nicht einmal dem hl. Ägidius zu beichten wagte. Diesem aber flog während der Messe ein Brief vom Himmel zu, der dem reuigen Sünder Verzeihung und Gnade verhieß. Das Motiv des Himmelsbriefes lässt sich erstmals in der im 10. Jahrhundert in Südfrankreich, vielleicht im Umfeld des Klosters Saint-Gilles, entstandenen Ägidiuslegende fassen. Es wirkte von dort aus auf weitere Dichtungen des hohen Mittelalters, nicht zuletzt auch auf das deutsche Rolandslied, das am Hof Heinrichs des Löwen entstand. Die Wandlung des Sünders zum Heiligen zeichnete sich nun ab, zumal als die Ägidiuslegende sich mit der Kreuzzugsthematik und dem Jabobuskult vereinte, Karl zum Kreuzritter und zum ersten Jakobspilger, der hl. Ägidius zu einem der vierzehn Nothelfer aufstiegen und ihr Kult zahlreichen Orten realen Gewinn eintrug. Die Kriege der leiblichen Erben und Enkel des großen Karl und die Wirkung der Erinnerung an die Größe seiner Fleischessünden schrieben sich mit divergierenden, doch dauerhaften Folgen in die Geschichte des Abendlandes ein.
Der Heilige erwies sich, wie konnte es anders sein, als stärker denn der Sünder. Die Legendendichter unterschlugen oder vergaßen den Frauenhelden, den Lüstling am Läuterungsberg. „Jungfräulich im Begehren und märtyrergleich im Eifer“ handelte nun der heilige Karl in einer Antifon zum Magnifikat im 13. Jahrhundert, ein himmlischer Fürbitter für die Verzeihung der Sünden.18 Wie war solche Verwandlung möglich geworden? Wie diese qualitative Inversion, die den Sünder zum Mittler der Sündentilgung erhob?
Die Entwicklung setzte, sehe ich recht, in Sachsen ein. Der sogenannte Poeta Saxo, ein anonymer Dichter aus diesem Volk, der kurz vor 900 vielleicht in Corvey die spröden „Reichsannalen“ in Hexameter und Einhards Karlsleben in elegische Distichen setzte, zeichnete den Frankenkönig als den Glaubensbringer seines Stammes, gleichsam als Apostel der Sachsen (ohne ihn direkt so zu nennen). Gottes Erbarmen schenkte diesem verstockten Volk den großartigen Karl als Lehrmeister und Erzieher zum Glauben, der sie mit Gewalt unterwarf, sie, die keine Vernunft zu zähmen vermochte; „so zwang er die Sachsen unwillig zum Heil“. Liebe und Dank gebührten ihm von ihnen. „Durch Karl wurde uns die Hoffnung auf ewiges Leben geschenkt. Wer könnte die Seelen zählen“, so jubelte der Dichter, „die er dem Herrn gewann, indem er die Völker der Sachsen zum Glauben bekehrte? […] Gib, Christus, Karl so zahlreichen Lohn, wie das Gotteslob in Sachsens Kirchen erschallt und die Gläubigen das Bekenntnis ablegen […]. Am Tag des Jüngsten Gerichts steht niemand den Aposteln näher als er.“ Petrus führe dann die Judenchristen an, Paulus die Heidenchristen, Andreas die Griechen, Johannes die Gläubigen Kleinasiens, Matthäus die Äthiopier, Thomas die Inder, „hinter Karl aber folgt freudig der Sachsen Schar, ihm zur Glorie ewiger Seligkeit“.19 Dieser auf Gottes Geheiß handelnde Karl versöhnte die Besiegten mit dem fränkischen Sieger.
Die Anerkennung neuer Heiliger und ihre Translation war indessen, wie einst Karl der Große auf der Synode von Mainz im Jahr 813 selbst hatte verkünden lassen, im früheren Mittelalter eine kaiserliche Aufgabe. So machte auch kein noch so wortgewaltiger Dichter einen Herrscher zum Heiligen. Der Kaiser indessen, der sich Karls annahm, Otto III., erkannte endlich in ihm den Heiligen, der er war, an dessen Seite und in dessen Schutz er, wie wir aus sicherer Quelle wissen, den Tag der Auferstehung und das Jüngste Gericht zu erwarten gedachte – als einer aus der Schar derer, die freudig Karl vor den ewigen Richter folgten. Er ließ Karls Grab suchen, öffnen und die Gebeine, die einst vor den Normannen in Sicherheit gebracht worden waren, in einen neuen Schrein transferieren, somit Akte vornehmen, wie sie jedem neuen Heiligenkult vorausgingen. Es war ein endzeitlich getönter Glaube, dem der Sohn der Byzantinerin Theophanu sich hingab. Doch war es zu früh, Otto starb mit blutjungen 21 Jahren. Die beteiligten Bischöfe, allen voran Heribert von Köln und Bernward von Hildesheim, erschraken und deuteten den vorzeitigen Tod als Strafe Gottes für die nun als Frevel erkannte Störung der Totenruhe. So erstarb mit dem jungen Kaiser der eben einsetzende kaiserliche Kult. Erst anderthalb Jahrhunderte später sollte es sich abermals ändern.
Mittlerweile formten sich in Frankreich jene Legenden bildenden Kräfte, die die Chanson de Roland, Karls Pilgerfahrt nach Jerusalem oder den Pseudo-Turpin hervorbringen sollten. Der hl. Jakobus erschien hier Karl im Traum: „Ich wundere mich über die Maßen, dass du mein Land noch nicht von den Sarazenen befreit hast […]. Darum tue ich dir kund: dass der Herr, so wie er dich zum mächtigsten der irdischen Könige machte, dich vor allen anderen auserwählt hat, meine Straße [das ist den Pilgerweg nach Santiago!] zu bereiten […] und dir so die Krone des ewigen Lebens bereitzuhalten. Die Sternenstraße, die du am Himmel gesehen hast, bedeutet, dass du mit Heeresmacht zum Kampf gegen die Ungläubigen zur Befreiung meiner Straße und meiner Erde und zum Besuch meiner Kirche und meines Grabes […] nach Galicien ziehen sollst. Und nach dir werden alle Völker, von Meer zu Meer, wandernd und Vergebung ihrer Sünden vom Herrn erflehend, dorthin ziehen.“20 Karl folgte den Weisungen des Apostels, wurde der Befreier des Jakobusgrabes und der erste Pilger nach Santiago. So verbreitete es der Pseudo-Turpin; und so wurde Karl zum gottgesegneten Weggefährten der Pilger.
Derartigen Stoff griff Friedrich Barbarossa auf und betrieb, wie er festhalten ließ, „auf inständige Bitten [seines] lieben Freundes, des Königs Heinrich von England, und mit Zustimmung und kraft der Autorität des Papstes Paschalis die Auffindung, Erhebung und Heiligsprechung der Gebeine Karls des Großen“.21 Ein krasserer Unterschied als zwischen den Handlungsmotiven Ottos III. im apokalyptischen Jahr 1000 und eines Friedrich Barbarossa in dem von einem Papstschisma gezeichneten Jahr 1165 lässt sich kaum denken. Der Kaiser protegierte einen Gegenpapst, die übrigen Könige Europas – mit Ausnahme des dänischen –, auch Heinrich II. von England, anerkannten den von der Mehrheit der Kardinäle gewählten Alexander III. Der Rotbart, im Westen nun als Tyrann und „Vorläufer des Antichristen“ tituliert,22 hoffte, den englischen König, mit seinem französischen Kollegen und Lehnsherrn verfeindet, auf seine Seite herüberziehen zu können.
Gesten der Freundschaft und des Entgegenkommens waren da gefragt. Die Heiligsprechung Karls des Großen war eine von ihnen. Sie stützte sich auf den im Westen und im Umfeld des französischen Königtums wieder erstarkenden Karlsmythos, dem sie nun den Heiligen an die Seite stellte. Papst Paschal III., das kaiserliche Geschöpf, sanktionierte sie. Sie galt dem „starken Kämpfer für die Verbreitung des Christenglaubens und die Bekehrung der Barbaren, dem wahren Apostel“, wie eine Kaiserurkunde für Aachen festhielt: die Bekehrung nämlich Sachsens, Frieslands, Westphalens, auch der Spanier und Basken mit Predigt und Schwert; das Letzte erinnerte natürlich an den Komplex um Karls Paladin Roland. Die politische Realität folgte dem kulturellen Gedächtnis, wie es die Lieder verbreiteten. Karls täglicher Wille, für die Bekehrung der Ungläubigen den Tod zu erleiden, hätte ihn zum Märtyrer gemacht. Betrieben aber wurde die Heiligsprechung nicht zuletzt „zur Stärkung des Römischen Reiches“.23 Das Ergebnis war – das verrät die ungewöhnliche und höchst brisante Intervention des englischen Königs – ein unverhohlener Affront gegen den französischen Lehnsherrn dieses Königs, vielleicht gar eine versteckte Drohgebärde gegen denselben und auf jeden Fall eine politische Demonstration im Gewand eines Heiligenkultes. Derselbe vermochte sich von diesem Makel nie recht zu befreien.
Zu Kultzwecken bedurfte es einer Heiligen-Vita. Friedrich gab auch sie in Auftrag. Der Aachener Kanoniker, der sich der Sache annahm, mühte sich redlich, der Überlieferung geeignetes Material zu entnehmen. Einhards höchst profanes Karlsleben lieferte bloß einen äußeren Rahmen. Pseudo-Turpin indessen, die legendäre Jerusalemfahrt und die Reliquienbeschreibung aus Saint-Denis boten reichlich Stoff. Aus diesen Schriften komponierte er sein Werk. Es geriet mehr zu einer akademischen Übung denn zu einem Zeugnis literarischer Gestaltungsgabe, königlicher oder volkstümlicher Frömmigkeit. Große Wirkung blieb dieser Biografie versagt. Weite Verbreitung fand sie ebenso wenig. Volkssprachliche Versionen sind unbekannt. Gleichwohl, Karl trat nun nicht nur als Glaubensbringer, sondern als Wundertäter und Heiliger in Erscheinung.
Allein in Aachen, und in Frankfurt, etablierte sich der Kult rasch und dauerhaft. „Du warst Licht und Edelstein der Kirche Christi, Karl, Blüte der Könige, Zierde des Erdkreises und Gleisspur der Gesetze“ verkündete der Karlsschrein im Aachener Münster zu Beginn des 13. Jahrhunderts:
ECCLESIE CHRISTI TU LUX TU GEMMA FUISTI KAROLE FLOS REGUM DECUS ORBIS ET ORBITA LEGUM.
Andernorts bedurfte es des Friedens von Venedig (1177), mit dem sich der Rotbart Papst Alexander III. unterwarf, um Karls Heiligkeit ein wenig heller auf leuchten zu lassen. Der englische König hatte, entgegen den Hoffnungen des Kaisers, den rechtmäßigen Papst weder verlassen noch den Kult des neuen Heiligen, um dessen Erhebung er so eindringlich gebeten haben soll, eigens gefordert.
Nicht einmal das staufische Königshaus selbst verehrte den hl. Karl den Großen in besonderer Weise, obgleich Friedrich I. Aachen seinetwegen mit reichen Gaben bedachte und sein gleichnamiger Enkel im Jahr 1215 den letzten, noch fehlenden Nagel in den Aachener Karlsschrein trieb und diesen damit seiner Bestimmung übergab. Doch hatte der junge König auffallenderweise an der vorausgegangenen Translation nicht teilgenommen. So hallten diese Hammerschläge als eine weithin schallende Geste der Aneignung des anspruchsschweren Kleinods durch das Aachener Münster. Sie sollten vor allem das Ohr von Friedrichs Gegner, Kaiser Otto IV., treffen, der vom nahen Köln aus ohnmächtig zusehen und den jugendlichen Staufer in Aachen gewähren lassen musste, obwohl Otto den kostbaren Schrein maßgeblich mitfinanziert haben dürfte. Abermals begnügte sich der Staufer mit einer bloßen Propagandaaktion ohne tieferes religiöses Bedürfnis und ohne kultgeschichtliche Konsequenzen.
Ein volkstümlicher Heiliger wurde Karl auf diese Weise nie – ganz im Unterschied zu der profanen Heroen- und Sagengestalt, als die er weithin im Gedächtnis der Schulmeister und des Volkes lebte. 1233 erhielt immerhin das Stift St. Felix und Regula in Zürich einige Karlsreliquien, worauf sich auch dort ein bescheidener Kult ausbreitete. Allein den Sachsen, jedenfalls den Lateinkundigen unter ihnen, galt Karl als Glaubensbringer, als ihr Apostel, Saxonum apostolus, so wie ihn jetzt, im 13. Jahrhundert, die Halberstädter Bischofschronik24 auch der eine oder andere Hymnus in Erinnerung bringen sollten: Saxeae gentis apostolus.25 Mehrere Bistümer – neben Halberstadt Osnabrück, Paderborn, Münster, Minden und Hildesheim – verehrten ihn als (Mit-)Patron; in anderen verbreitete sich wenigstens der Kult, auch wenn Zeugnisse eines lebendigen Volksglaubens fehlen. So blieb es, bis die Reformation abermals neue Verhältnisse schuf.
Höchst zögerlich indessen wurde der Karlskult in Frankreich übernommen, obgleich dort im 12. Jahrhundert alles auf ihn zuzueilen schien. Barbarossas Aktion hatte schier unüberwindbare Dämme gegen ihn errichtet. Es bedurfte zweier Jahrhunderte, bevor der hl. Karl sich dort zu etablieren vermochte, dann freilich dauerhafter als im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Karl blieb im Westen noch lange der französisch-königliche Heros, ein großer, machtvoller Helfer und Förderer der Kirche zwar, eine „zweite Sonne“, doch kein Heiliger. Sein Tod habe den ganzen römischen Erdkreis in Trauer gestürzt. „Großer Trost für Frankreich und das römische Imperium aber ist, dass überall sein Gedächtnis in schönster Blüte steht und die schmetternde Tuba das Gehörte schrecklich der ganzen Welt ertönen und im Rühmen seiner Taten auferstehen lässt.“26 Mehr war nicht zu vernehmen.
Der religiöse Kult wird erst für den gelehrten französischen König Karl V. bezeugt, den Zeitgenossen des römischen Kaisers Karl IV. Es war gewiss kein Zufall. Der Heiligenkalender des Königs verzeichnete nun zwei Karlsfeste: zum 28. Januar, dem Todestag, und zum 30. Juli, dem Tag der Translation. Doch nicht nur in der Saint-Chapelle zu Paris hielt der Karlskult jetzt seinen Einzug. Zahlreiche französische Kirchen, Reims, Rouen, Narbonne und andere schlossen sich an. „O Zierde der Kirche, frommer König der Franzosen, Muster an Gerechtigkeit, bitte, Vater Karl, für dieses sündige Volk“, heißt es im Missale der Krönungskirche von Reims von 1505.27 So betete man bis zur großen Revolution und noch länger im 19. Jahrhundert. Volkstümlich wurde aber auch hier der Karlskult nicht.
Der Luxemburger aber auf dem Kaiserthron, Karl IV., suchte zu heilen, was seine staufischen Vorgänger unterlassen hatten. Er, der König von Böhmen werden sollte und einst auf den Namen Wenzel getauft worden war, wechselte den Namen, wählte sich bei seiner Firmung in Paris den heiligen Karl zum Patron und regierte als Karl IV. das römische Reich. Karls Kirche in Aachen, das Marienmünster, auch die Wahlkirche der Könige in Frankfurt bedachte er in der Verehrung seines Heiligen mit reichen Gaben. So erweist sich das 14. Jahrhundert als eine dreifache „Karls-Epoche“: im Westen, im Osten und im Himmelreich.
DER HEROS DER DICHTER UND LITERATEN
Die deutschen wie auch die französischen Dichter haben Karl zu keiner Zeit vergessen. Eine reiche Fülle überlieferter Lieder und „Chansons de geste“ kündet davon. Wenigstens kurz sei darauf noch eingegangen. Karl erschien als der ideale König, als das Vorbild christlicher Ritterschaft. Hervorgehoben sei allein das Rolandslied, das in zahlreiche Sprachen Eingang fand, während der sonstige, geradezu überbordende Schatz der französischen „Gestes de Charlemagne“ oder „Gestes du roi“ übergangen werden muss. Keine von ihnen feierte den Heiligen.
In Deutschland beginnt – von der Kaiserchronik abgesehen, in der Karl bereits von Heiligkeit umflort erscheint – die nicht eben üppige Reihe der Karlsdichtungen mit dem Rolandslied des Regensburger Pfaffen Konrad, einer Weiterdichtung der französischen Chanson de Roland, die ihrerseits auf mündliche Traditionen zurückführt, wie sie etwa in der sogenannten Nota Emilia- nensis aus dem spanischen Kloster S. Millan de la Cogolla aufscheint. Der Stoff der deutschsprachigen Karlsepik kam somit ebenfalls aus dem Westen; er hatte sich schon dort mit der Kreuzzugsdichtung vereint. Das Epos wurde auf Bitten der Herzogin Mathilde gedichtet, der in Westfrankreich erzogenen englischen Königstochter und Gemahlin Heinrichs des Löwen. Sie brachte das Lied aus ihrer Heimat ins Sachsenland und nach Bayern mit, wo es dann über den Umweg einer lateinischen Übersetzung mühsam ins Deutsche übertragen wurde. Weite Verbreitung fand es nicht. Daneben sind allein der in der Nachfolge des Rolandsliedes stehende Karl des Dichters Stricker und der kompilatorische anonyme Karlmeinet zu erwähnen. Der Frankenkönig war von diesen wenigen Ausnahmen abgesehen kein herausragender Held der mittelhochdeutschen Dichtung. Doch strahlte die französische Dichtung bis nach Skandinavien aus: Karlamagnüs saga ok kappa hans.
Schon die Chanson de Roland hatte an Karls Spanienfeldzug und Niederlage im Jahr 778 gegen Muslime und Basken erinnert, an die zwölf Paladine mit Roland, der im realen Leben ein bretonischer Markgraf gewesen sein dürfte, und dem getreuen Erzbischof Turpin an der Spitze. Sie erinnerte weiter an den Verräter Genelun, hinter dem sich der historische „Verrat“ des Erzbischofs Wenilo von Sens an Karl II. verbergen dürfte – durchweg also historische Gestalten und Episoden, die in der realen Geschichte des Frankenreiches während des 8. und 9. Jahrhunderts eine Rolle gespielt haben und nun, im Epos, neue, nicht minder nachhaltige Wirkung erzielen sollten. Schicht um Schicht hat sich hier um einen Erzählkern gelagert, der zuletzt noch den Kreuzfahrer und Heiligen in sich aufzunehmen vermochte – für den, der es zu benutzen versteht, geradezu ein Archiv des vielgestaltigen Karlsgedenkens. Das Lied besang mit lautem Waffengeklirr den heldenhaften Märtyrertod Rolands und seiner Gefährten, die furchtbare Rache des Kaisers und seinen endgültigen Triumph. Es mochte jeden christlichen Ritter, auch wenn er keinem geistlichen Ritterorden beitrat, für den heiligen Krieg und den Kreuzzug entflammen. Man vermutet denn auch, dass das deutsche Lied während des Kreuzzuges Heinrichs des Löwen (1172) dem Herzog und seinen Rittern zur Erbauung diente. Doch heilig war des deutschen Roland Herr noch nicht.
Zahlreiche französische Epen des hohen und späten Mittelalters widmeten sich den feudalen Bindungen zwischen dem königlichen Lehnsherrn und seinen Vasallen und Paladinen. Auch Familienfehden spiegelten sich in manch einer der „Chansons“. Ein eigener Zyklus an „Verräterepen“ entstand. Karl spielte hier freilich vielfach eine eher klägliche Rolle. Er war nun der Versager; Fürsten und Rebellen triumphierten über ihn. Das Rebellenepos präsentierte einen eigenen Typus der französischen Karlsepik, der in Deutschland vollständig fehlte: den negativen Helden, den lächerlichen König, den nutzlosen Herrscher. Es artikulierte dort, zumal in Aquitanien, dem Land südlich der Loire, und überhaupt im Languedoc, die Opposition gegen das zentrale französische Königtum und die reale oder erhoffte Emanzipation von demselben. Davon ist hier nicht mehr zu handeln. Deutschsprachige Dichter griffen diese Thematik ohnehin nicht auf. Erst in der frühen Neuzeit drang der eine oder andere Stoff in die „Volksbücher“-Literatur ein, ohne sonderlich Karls glänzendes Bild zu verdunkeln.
Ein dritter Zyklus der hoch- und spätmittelalterlichen französischen Epik wandte sich, gleich dem reich überlieferten, aber unvollendeten Willehalm Wolframs von Eschenbach, dem Markgrafen Guillaume d’Orange zu. Dessen historisches Vorbild war der gleichfalls als Heiliger verehrte Markgraf Wilhelm von Toulouse. Er leitete zur Zeit Karls des Großen unter Ludwig dem Frommen in Aquitanien tatsächlich die Kämpfe gegen die Muslime, bevor er Klostergründer und Mönch wurde. Karl freilich spielte in diesen Dichtungen nur eine randseitige Rolle. Immerhin wusste Wolfram: „Der keiser Karl hat vil tugent“ (I, 6, 9).