Kitabı oku: «Menschen, die Geschichte schrieben», sayfa 5
HEROISIERUNG, MYTHISIERUNG UND LEGENDÄRE VERKLÄRUNG ALS WIRKLICHKEIT – EINE ZUSAMMENFASSUNG
Die Beispiele ließen sich noch lange fortsetzen. Doch auch die vorgestellten sollten deutlich gemacht haben, wie sich die drei Ebenen nationaler Mythisierung, kirchlicher Heiligung und heroischer Dichtung durchdrangen und durchmischten und wechselseitig aufeinander wirkten, und wie sie sich zur Gestaltung neuer Wirklichkeiten mit den Nachwirkungen vergangener Wirklichkeit vereinten. Hier vollzog sich ein komplexes Geschehen, bei dem keiner der Beteiligten ahnen konnte, wohin der von ihm beigesteuerte Impuls das Ganze tragen würde, und in dem sich ein jeder fortgesetzt neu orientieren musste. Ins Epos freilich zog der hl. Karl nur selten ein. Der Mythos verlieh diesem Karl viele Gesichter, ließ ihn hier mit dieser, dort mit anderer Gestalt in Erscheinung treten. So lebten fortgesetzt nicht bloß ein einziger, sondern zahlreiche Karl der Große nebeneinander: der Herrscher, der Sieger, der nutzlose König, der Sünder, der Büßer, Pilger und Heilige und andere mehr.
Der Appell an Karl diente vielfach als Passepartout für ‚Legitimität‘. Was dieser König oder Kaiser gestiftet, begründet, gefördert haben soll, sollte ewige Geltung beanspruchen und – sei es Herrschaft oder Heiligenkult, Ritter- oder Pilgertum, Ansiedlung der Juden oder Heidenkrieg – sakrosankt sein. Manch ein Motiv knüpfte an reales Geschehen an, doch vieles blieb ausgeklammert und schlummerte allein in den Werken der Geschichtsschreiber. Das Papsttum etwa und Italien, wo sich eine eigene Karlstradition bildete, sowie die Kirchenreform, denen Karl tatsächlich größte Aufmerksamkeit gewidmet hatte, fanden trotz aller welthistorischen Bedeutung keinen Zugang zum nordalpinen Karlsmythos; ebenso wenig der Förderer der Schulen und der Dichtkunst, des Lateins und der Astronomie, der wirtschaftende Karl, kaum etwas von seinen kulturstiftenden Leistungen – von der Ausnahme der angeblichen Gründung der Universität Paris abgesehen –, die ihn tatsächlich groß gemacht haben, von jenem Karl, der nach Dialektik und Rhetorik verlangt und das Abendland zu Wissenschaft und Buchkultur getrieben hatte. Vage Bilder eines idealen, mächtigen Herrschers, wie ihn Dürer imaginierte: „der das Remisch reich Den teitschen under tenig macht“,28 der sich um Recht und Gerechtigkeit und die Ausbreitung des Glaubens sorgte, eines bußfertigen Orientpilgers, eines Freundes der Mönche, eines Schutzspenders der Armen und der Juden und eines Feindes der Heiden formten sich hie und da im kulturellen Gedächtnis. Wären die Historiker allein auf diese mündlich kolportierten und schriftlich fixierten Imaginationen angewiesen, wir wüssten nicht, wer Karl der Große gewesen ist.
Das kulturelle Gedächtnis bleibt freilich nicht stehen; es fließt immerzu weiter. Auch jetzt ist für Karl ein neues Bild im Entstehen, wie eine lebhafte Karlsforschung bezeugen kann. Auch ihr Karlsbild befindet sich im Fluss. Es speist sich nicht zuletzt aus einer erinnerungsgemäßeren Beurteilung der historischen Quellen etwa zu seiner Geburt, zum Prozess gegen den Baiernherzog Tassilo, zur Kaiserkrönung oder zu seiner Nachfolgeregelung. Auch das vertiefte Wissen um die Aktualität der Endzeiterwartung um das Jahr 800 – nämlich das apokalyptische Jahr 6000 nach Erschaffung der Welt in der Berechnung des hl. Hieronymus – wirft Licht auf den am ersten Tag des neuen Jahrtausends in Rom zum Kaiser gekrönten Karl. Die alten Legenden und Sagen indessen, der jahrhundertelange wirksame Mythos Karl, um den es an dieser Stelle vornehmlich ging, sie werden nicht mehr fort-, allenfalls noch abgeschrieben. Lediglich im Internet geistern, abgesunken in eine dubiose Subkultur, unter dem großen Namen Zerrbilder einer Vergangenheit, multifunktional einsetzbare Leerformeln, die über Karl, den Heros und seinen Mythos nichts, über unsere Zeit aber nahezu alles verraten. Doch dies wäre ein neues Thema.
ANMERKUNGEN
1Dichtung und Wahrheit, 1. Teil, 1. Buch (Bd. 26, S. 27).
2Zit. bei Lehmann 1941, S. 177 f.
3Einhard: Leben Karls des Großen, c. 16 (in: Quellen zur karoling. Reichsgeschichte, I, S. 186).
4Heitonis Visio Wettini c. 11 (MGH Poetae II, S. 271); Walafrid Strabo, Visio Wettini, Vers 446–65 (S. 66).
5Notker:Taten Karls (in: Quellen zur karoling. Reichsgeschichte, III).
6Hincmarus: De ordine palatii, Prologus (MGH Fontes Iuris Germanici antiqui 3, 1980, S. 32 f.).
7Zum folgenden Grabois 1966, S. 5–41.
8MGH Diplomata Ottos III., S. 347.
9MGH Diplomata Ottos III., S. 257 f.
10Wipo: Tetralogus, Vers 159; und Gesta Chuonradi, c. 4 und 6 (MGH Scriptores rer. Germ., S. 80, 25, 28 f.).
11Suger: Vie de Louis VI le Gros, c. 22 (S. 222).
12Giraldus Cambrensis: De principis instructione III, 25 (S. 294); die Historizität der Anekdote steht hier nicht zur Diskussion.
13Vgl. Colker 1973.
14Ludus de Antichristo, Vers 21–26 (S. 196).
15Stephan von Rouen: Draco Normannicus lib. III, Vers 247–68 (MGH Scriptores rer. Germ. 26, S. 172).
16Vgl. etwa Guibert von Nogent: De vita sua (S. 130).
17Aubin u. a. 1935.
18Vgl. Lehmann 1941, S. 183 f.
19MGH Poetae IV, 189–97 (S. 11). – Die weiteren Zitate: V, 51 f.;V, 667 f., 671 f., 677 und 679 ff.
20Zit. nach Herbers 1988, S. 51.
21MGH Diplomata Friedrichs I., S. 502.
22Walter von Châtillon, Nr. 16, Vers 24,4 (S. 144).
23MGH Diplomata Friedrichs I., S. 502.
24MGH Scriptores rer. Germ. 23, S. 78 f.
25Zit. nach Lehmann 1941, S. 183.
26Alberich von Trois-Fontaines, zit. bei Lehmann 1941, S. 190.
27Folz 1967, S. 96.
28So die Inschrift auf dem 1512 gemalten Idealbild Karls des Großen im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg.
QUELLEN
La Chanson de Roland, übers. von Hans-Wilhelm Klein, München 1963.
Die Chronik von Karl dem Großen und Roland. Der lateinische Pseudo-Turpin in den Handschriften aus Aachen und Andernach, hg., komm. und übers. von Hans-Wilhelm Klein, München 1986.
Gesta Karoli Magni ad Carcassonam et Narbonam, hg. von F. E. Schneegans, Halle 1898.
Giraldus Cambrensis: De principis instructione, in: Giraldi Cambrensis Opera, hg. von George F. Warner, Bd. VIII, London 1891.
Goethes Werke, hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, 1. Abteilung, Bd. 26, Weimar 1889.
Guibert von Nogent: De vita sua, hg. von Georges Bourgin, Paris 1907 (Collection de textes 40), Paris 1907.
Ludus de Antichristo, in: Geistliche Spiele. Lateinische Dramen des Mittelalters mit deutschen Versen, hg. von Karl Langosch, Darmstadt 1957.
MGH: Monumenta Germaniae Historica.
Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, hg. von Reinhold Rau, Teil I–III (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 5–7), Darmstadt 1955–60 u. ö.
Das Rolandslied des Pfaffen Konrad, hg., übers. und komm. von Dieter Kartschoke, Stuttgart 1993.
Suger: Vie de Louis VI le Gros, hg. und übers. von Henri Waquet, Paris 1929.
Walafrid Strabo: Visio Wettini. Die Vision Wettis, übers. und erl. von Hermann Kittel, Sigmaringen 1986.
Walter von Chätillon: Moralisch-satirische Gedichte, aus deutschen, englischen, französischen und italienischen Handschriften, hg. von Karl Strecker, Heidelberg 1929.
LITERATURHINWEISE
Aubin, Hermann, Karl Hampe, Martin Lintzel, Friedrich Baethgen, Albert Brackmann, Carl Erdmann u. Wolfgang Windelband 1935: Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher, Berlin 1935.
Colker, Marvin L. 1973: The „Karolinus“ of Egidius Parisiensis, in: Traditio 29, S. 199–325.
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Fried, Johannes 1994: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (Propyläen Geschichte Deutschlands 1), Berlin.
Fried, Johannes 2004: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München.
Graboîs, A. 1966: Souvenir et légendes de Charlemagne dans les textes hébraiques médiévaux, in: Le Moyen Àge 72, S. 5–41.
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Herbers, Klaus (Hg.) 2003: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin, Tübingen.
Herbers, Klaus 2004: Karl der Große. Vom Vorbild zum Mythos, in: Mythen in der Geschichte, hg. von Helmut Altrichter, K. Herbers, Helmut Neuhaus, Freiburg i. Br., S. 179–202.
Kerner, Max 2001: Karl der Große. Entschleierung eines Mythos, Köln/Weimar/Wien.
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Müllejans, Hans (Hg.) 1988: Karl der Große und sein Schrein. Eine Festschrift, Aachen.
Pape, Matthias 2000: Der Karlskult an Wendepunkten neuerer deutscher Geschichte, in: Historisches Jahrbuch 120, S. 138–181.
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Remensnyder, Amy G. 1995: Remembering Kings Past. Monastic Foundation Legends in Medieval Southern France, Ithaca London.
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DER APOSTEL JAKOBUS
Vom spanischen zum europäischen Mythos von Klaus Herbers
Als am Silvestertag des Jahres 2003 in Santiago de Compostela der Erzbischof, Monsignore Julián Barrio Barrio, zum Auftakt eines neuen Heiligen Jahres, eines Ano Santo Compostelano, die sogenannte Heilige Pforte mit drei Hammerschlägen öffnete, verlas er zunächst einen Brief, den Papst Johannes Paul II. an ihn und das versammelte Volk gerichtet hatte. In diesem Schreiben wird der Heilige Ort mit dem Apostelgrab als „spirituelle/geistige Hauptstadt der europäischen Einheit“ („Capital espiritual de la unidad europea“) bezeichnet.1
Einen Tag zuvor, am 30.12.2003, wurde am gleichen Ort das sogenannte Translationsfest begangen. Hier war das spanische Königspaar anwesend. König Juan Carlos trug die ofrenda, ein Widmungs- und Bittgebet, an den Apostel im Namen aller Spanier vor. Nationale und europäische Bezüge finden sich hier unmittelbar nebeneinander, ja, überlagerten sich sogar in der ofrenda des Königs.
Worauf basieren diese Bilder des Apostels Jakobus? Schauen wir in die biblischen Texte, so lässt sich weder ein spanischer noch ein europäischer Bezug feststellen. Hier finden wir den Apostel Jakobus den Älteren oft zusammen mit seinem Bruder Johannes als Söhne des Zebedäus oder als wichtiges Mitglied jener kleinen Apostelgruppe Petrus, Jakobus und Johannes, die dem Herrn zu seiner Verklärung auf den Berg Tabor folgen durfte sowie ihn vor seinem Leiden in den Garten Gethsemane beim Ölberg begleitete. Und schließlich heißt es für die Zeit nach Auferstehung und Himmelfahrt in der Apostelgeschichte (12, 1–2):
Um dieselbe Zeit legte der König Herodes Hand an einige Angehörige der Gemeinde, um sie zu misshandeln. Er ließ Jacobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwerte hinrichten.
Die Vorstellung vom Wirken dieses Apostels hat sich bis heute offensichtlich deutlich erweitert, sodass es gerechtfertigt sein mag, auch eine biblische Gestalt wie Jakobus in den Prozess von Mythenbildung einzuordnen.
Apostel Jakobus „Pilgerkrönung“ am Jakobusaltar, Schlosskirche Winnenden; Umkreis d. Jörg Töber aus Hagenau, um 1520
Was kann unter einem Mythos verstanden werden?
Folgt man dem Ägyptologen Jan Assmann, so handelt es sich dabei einfach um fundierende Geschichten. Die zunächst in der Antike verwurzelten Konnotationen eines Mythos verschieben sich für das Mittelalter. Neben den häufig für die Antike evozierten Definitionen von Mythen gibt es auch eher funktionale Annäherungen an den Begriff. Im Vorwort des Bandes Mittelaltermythen2 verstehen die Verfasser darunter Konkretisierungen von Gestalten und anderen Dingen, die
[…] erzählerisch gewissermaßen modellhaft – ein Konzept bereitstellen für das Verhältnis des Menschen zu seinen Erfahrungen und zur Welt. Vorrationale Mythen bewahren fundamentale Wahrheiten […], auf derer sich Rationalität dann erinnert, wenn der wissenschaftlich-technische oder auch gesellschaftlich-ideologische Fortschritt ins Stolpern gerät und zu straucheln droht. Deshalb unterliegen Mythen Tradition und Wandel, und ihre symbolhafte oder auch lebenspraktische Bedeutung verändert sich und paßt sich den sich neu regelnden Bedingungen an.
Ich möchte hier danach fragen, in welchem Maß Jakobus für die spanische Geschichte fundierend wurde und in das Bewusstsein trat und welche europäischen Bezüge sein Kult entwickelte. Dabei stelle ich von mehreren möglichen nur einige Etappen und Themenfelder in den Vordergrund: eine erste grundlegende Phase im 8./9. Jahrhundert (I), eine politische Instrumentalisierung im Konkurrenzgeflecht verschiedener iberischer Reiche (II) und kirchlicher Ansprüche (III), eine Europäisierung durch Propaganda und Pilgerfahrten (IV), die Frage nach der Entstehung Europas auf den Pilgerwegen (V), die ich dann in einem abschließenden Abschnitt (VI) auch im Blick auf ihre jeweilige Instrumentalisierung hin vergleichend würdigen möchte.
DIE HISPANISIERUNG DES APOSTELS JAKOBUS VOR DEM HINTERGRUND DER MUSLIMISCHEN EROBERUNGEN AUF DER IBERISCHEN HALBINSEL
Wie und warum wird der Apostel mit der Iberischen Halbinsel verbunden? Biblische Notizen wissen hiervon ja gar nichts.
Schon die Anfänge der spanischen Traditionen gehören in eine historische Umbruchsituation. Im lateinischen Westen kannte man zwar die Gräber von Petrus und Paulus in Rom, aber weitere Apostel wurden im Westen bis ins 9. Jahrhundert nicht verehrt. Dies änderte sich nach 711, als der größte Teil des alten Westgotenreiches auf der Iberischen Halbinsel von den Muslimen unterworfen wurde und nur noch kleine christliche Herrschaften im Norden und Osten bestanden. In dieser Situation wurden in einem dieser Reiche, in Asturien, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts Berichte der ursprünglich griechisch verfassten Apostelkataloge aufgegriffen, die den Aposteln verschiedene Missionsgebiete zuordneten, darunter dem Apostel Jakobus dem Älteren die Hispania. Wenn dies aber zutraf, sollte dann nicht die letzte Ruhestätte dort sein, wo der Apostel gepredigt hatte? Zu Beginn des 9. Jahrhunderts wurde ein Grab im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel gefunden, das man mit demjenigen des hl. Jakobus identifizierte. Jakobus, so hieß es in späteren Schriften zunächst in Übereinstimmung mit der Apostelgeschichte weiter, sei nach seiner Predigttätigkeit auf der Iberischen Halbinsel nach Jerusalem zurückgekehrt, sei dort 44 nach Christus als erster Märtyrer der Apostel enthauptet worden, dann, wie man nun wissen wollte, von seinen Anhängern in ein Schiff gelegt worden und auf wunderbare Weise nach Nordwestspanien gelangt. Das dortige Grab sei in Vergessenheit geraten, bis es dann zu Beginn des 9. Jahrhunderts von dem Eremiten Pelagius nach einer Vision entdeckt worden sei. So weit die wichtigsten Traditionen von Predigttätigkeit, Überführung und Entdeckung des Grabes.
Heiligenkulte entwickelten sich in dieser Zeit an vielen Orten. Die zunehmende Reliquienverehrung, die Vorstellung, dass am Grab eines Heiligen sich Himmel und Erde gleichsam berührten, sowie die immer wichtiger werdenden Hoffnungen, dass an diesen Gräbern frommen Pilgern nicht nur Sünden vergeben, sondern auch Krankheiten durch Wunder geheilt würden, trugen zu einer ungeahnten Vervielfachung von wichtigen Kultorten bei. In Compostela wurde das Grab eines Apostels entdeckt – geschah dies nur zufällig zu Beginn des 9. Jahrhunderts? Der spanische Jakobuskult diente, so eine geläufige These, als eine Identifikationshilfe für das kleine christliche asturische Reich im Norden der Iberischen Halbinsel. War dies nach der muslimischen Eroberung 711 eine fast zwangsläufige Entwicklung? Dann bliebe aber die Frage, warum die Entdeckung des Grabes erst zu Beginn des 9. Jahrhunderts, nicht schon kurz nach 711 erfolgte.
Als 711 die Iberische Halbinsel von den Muslimen weitgehend unterworfen wurde, lebten Christen nicht nur weiterhin im Norden, sondern auch unter muslimischer Herrschaft übten Christen ihre Religion als sogenannte Mozaraber weitgehend unbehelligt aus, waren allerdings durch höhere Steuern belastet. Sie konnten sich sogar darauf berufen, dass sie mit Toledo die alte kirchliche Metropole des früheren Westgotenreiches besaßen. War damit nicht vorgegeben, dass diese Mozaraber, vor allem in Toledo, den Ton für die Christen in Spanien überhaupt angaben? Rom bemühte sich darum. Im sogenannten Codex Carolinus sind mehrere Schreiben des Papstes Hadrian I. von 785 bis 791 überliefert,3 die darauf abzielen, die Kirchenstruktur im muslimischen Spanien zu verbessern und gewisse judenfreundliche Tendenzen abzustellen. Wenig später kam es zu einer großen theologischen Diskussion um den sogenannten Adoptianismus. Diese Lehre, wonach Gottsohn von Gottvater lediglich adoptiert worden sei, war vielleicht nach der muslimischen Eroberung angesichts eines streng monotheistischen Islam als eine Kompromissformel entwickelt worden. Erzbischof Elipandus von Toledo († ca. 802), ein Verfechter dieser Lehre, hatte Gegner in Asturien, unterlag aber schließlich, nachdem unter karolingischem Einfluss auf dem Konzil zu Frankfurt 794 zugunsten einer streng trinitarischen Position entschieden worden war und Papst Leo III. dies wenig später bestätigte.4
Ohne diese dogmatischen Auseinandersetzungen im Einzelnen würdigen zu können, fällt auf: Nach Abschluss dieser Diskussionen und nachdem die Neuorganisation der christlichen Kirche unter muslimischer Herrschaft von den Päpsten aufgegeben, zumindest nach Ausweis der überlieferten Quellen nicht weiter verfolgt wurde, verdichteten sich die spanischen Traditionen um ein Apostelgrab im Norden der Iberischen Halbinsel. Erst jetzt war offensichtlich auch kirchenpolitisch der Weg frei, um dem alten Toledo ein Gegengewicht im Norden des christlichen Spanien entgegenzusetzen. Die Entdeckung des Apostelgrabes in Compostela war damit, bevor der erste Pilger überhaupt gekommen war, schon von Anfang an in Zusammenhänge gestellt, die von der Rezeption der griechischen Apostelkataloge bis zu Entscheidungen im muslimisch beherrschten Toledo, im fränkischen Karolingerreich sowie in Rom reichten. Compostela war somit von Anfang an kein nur lokales Zentrum, obwohl die Pilger zunächst nur aus der Umgebung kamen: Spanische und europäische Bezüge waren gegeben.5