Kitabı oku: «Methoden der Theaterwissenschaft», sayfa 6
Theatergeschichte machen. Überlegungen zu einer praxeologischen Theaterhistoriographie
Meike Wagner
Wir hatten Glück: Die Reiseführerin war eine gut informierte und kommunikative junge Frau, die eine gute Vorstellung davon hatte, was eine Gruppe von Theaterwissenschaftlern*innen am Gripsholmer Schlosstheater wirklich interessieren würde.1 Wir erhielten genau Informationen über den Theaterbau, der aus einem der vier Schlosstürme exzessiv herausragt, über die historische Epoche von Gustav III und den Sinn und Zweck des Theaters in der Zeit. Wir wurden auf die Gucklöcher hoch über dem Zuschauerraum hingewiesen, die ein heimliches Spähen auf die Bühne erlauben, und wir wurden in den Raum hinter die Bühne geführt, um einen Blick auf die Theatermaschine zu erhaschen. Die ganze Führung war außerordentlich informativ – es blieben jedoch viele Fragen offen. Wir wurden in einem kostbaren und vielversprechenden historischen Artefakt alleine zurückgelassen, wir hatten die nötigen Informationen, um es historisch zu kontextualisieren. Dennoch spürte ich eine unbefriedigende, nagende Leere als ich auf die still daliegende Bühne schaute. Einige Kollegen der Gruppe wünschten sich, eine Aufführung sehen zu können, um das performative Potential der Bühne zu erleben. Andere wollten die Rolle des Gripsholmer Theaters im 18. Jahrhundert weiter diskutieren. Ich selbst hatte ein großes Verlangen, auf die Bühne zu treten, die historischen Holzplanken unter meinen Füßen zu spüren, die staubige trockene Luft zu atmen, die Luftströme zwischen den Gassen zu fühlen. Ich hätte gerne gesprochen oder laut gesungen, um die klangliche Qualität der Bühne zu erforschen. Ich wollte die Griffe und Räder der Theatermaschine packen, um das Gleiten der Kulissen, den fließenden Szenenwechsel zu veranlassen.
Mein Wunsch, direkt mit der Bühne zu interagieren, hat nichts mit dem Traum zu tun, selbst Theater zu spielen. Ich bin weder eine Schauspielerin noch eine Sängerin, und wollte das auch nie werden. Ich hatte vielmehr das Bedürfnis, als Theaterhistorikerin einen anderen Zugang zu diesem historischen Artefakt zu bekommen, um mein Wissen über das ästhetische Potential des Gripsholm-Theaters zu erweitern, um direkt etwas über die historische Praxis dort zu erfahren. Zu meinem Bedauern hatte ich nicht die Möglichkeit, die Gripsholm-Bühne mit den Mitteln einer praxeologischen Theaterhistoriographie experimentell zu erforschen.
Was meine ich mit ‚praxeologischer Theaterhistoriographie‘? Zuallererst geht es hier um einen produktiven Austausch zwischen Theorie und Praxis, um tiefere Erkenntnisse zur Theatergeschichte zu erreichen. Theater war und ist eine flüchtige, transitorische Praxis, die sich nicht durch Text- und Bildquellen vollkommen erschließen lässt. Deshalb bleibt eine Performance-Analyse zeitgenössischer Theater- und Inszenierungspraxis immer unvollständig ohne die Aufführungserfahrung der Analysierenden. Um die Dynamiken, Energieflüsse und kommunikativen Strategien der Theateraufführung verstehen zu können, muss man sie erlebt haben. In der Konsequenz wird von mir als Theaterwissenschaftlerin grundsätzlich erwartet, eine beständige Aushandlung zwischen dem eigenen subjektiven Erleben und der objektivierenden Beurteilungsposition zu führen.
Eine praxeologische Theaterhistoriographie geht davon aus, dass auch historische Theaterpraxen gleichermaßen durch energetische und kommunikative Vorgänge bestimmt waren. Aber wie kann man Zugang zu diesen lange vergangenen Ereignissen und ihren energetischen Strukturen und Prozessen bekommen? Sind nicht ihre Wirkungen lange ausgehaucht, ihre Affektpotentiale verpufft, ihre Interaktionen verstummt?
Ein kritisches und experimentelles Re-Inszenieren historischer Theaterwerke ermöglicht uns zwar nicht die Erfahrung von realer historischer Theaterpraxis, aber dennoch von historisch informierter Theaterpraxis. Daher können diese praktisch-experimentellen Annäherungen an historisches Theater uns doch eine gewisse Idee davon vermitteln, was vielleicht an Bewegungsmöglichkeiten, an Interaktion zwischen Theaterraum und Performance-Praxis, an Akustik, an Energieflüssen, und vieles mehr, im Moment der Aufführung wirksam war. Natürlich erzeugen solche Theaterexperimente für die Theaterhistorikerin eine höchst unverhoffte und ästhetisch genussvolle Situation: Der historische Gegenstand kommt plötzlich zum Leben, und scheint uns auf vielen verschiedenen Ebenen direkt anzusprechen. Aber die Historikerin muss sich hier ähnlichen Herausforderungen stellen wie die Theaterwissenschaftlerin, die zeitgenössische Performance-Praxis analysiert – die Erfahrung der Aufführung und das Involviertsein in die Performance-Praxis verlangen eine ständige Selbstreflexion und Positionierung der eigenen wissenschaftlichen Kenntnis und Epistemologie. Sich auf performative Experimente einzulassen, bedeutet ein Risiko für die gepflegten wissenschaftlichen Glaubenssätze und methodologischen Traditionen. Und – es verlangt von einem, den Genuss des Performance-Erlebnisses ständig mit dem Bestreben nach neuer Erkenntnis und einem besseren Verständnis dessen, was gerade vor sich geht, auszubalancieren.
In meinem Beitrag werde ich mich zwar auf die Theaterpraxis des 18. Jahrhunderts beziehen, im Vordergrund steht jedoch eine grundsätzliche Diskussion der Potentiale und auch der Probleme einer praxeologischen Theaterhistoriographie. Ich möchte hier voranstellen, dass die methodischen Überlegungen in engem Zusammenhang stehen mit dem Forschungsprojekt „Performing Pre-Modernity. Exploring Cultural Heritage through the Drottningholm Court Theatre“2 (2013-2017, gefördert vom schwedischen Riksbankens Jubileumsfond) und den Theaterprojekten, die in diesem Rahmen entstanden sind. Während der Projektlaufzeit wurden akademische und künstlerische Forschung eng aufeinander bezogen, um in einem erweiterten Zugriff auf historische Theaterpraxis eine bessere Vorstellung von der konkreten Theaterperformance in historischen Theatern zu gewinnen. In spezifischen Workshops wurden, vorbereitet durch Forschung an Text- und Bildquellen, einzelne Aspekte wie etwa Klangqualitäten, energetische Prozesse des Raumes, Bewegungsmöglichkeiten, Kostüm und Licht, Beziehungen zwischen Musikperformance und Deklamation/Gesang, exploriert. Hier kam die Expertise der beteiligten Musiker und Theaterforscher zusammen und führte in den jeweiligen Bereichen der Aufführungspraxis und der akademischen Praxis (Lehre, Konferenzen, Textproduktion) durch einen Feedback Loop zu weiteren Erkenntnissen.
Abb. 1:
Feedback Loop zwischen Theorie und Praxis. Graphik: Meike Wagner.
Ich werde mich zuerst mit dem Konzept der ‚Praxeologie‘ auseinandersetzen und einige grundlegende Fragen zum Verhältnis von Praxis und Theorie in der historischen Forschung diskutieren. Anschließend werde ich in einem zweiten Schritt anhand von Praxis-Beispielen aus dem Forschungsprojekt Einzelaspekte eingehender diskutieren. Die Methodik steht mit der Projektarbeit in einer deduktiven Beziehung, d.h. zunächst haben wir auf der Grundlage von diskursiver, dramaturgischer und quellenbasierter Forschung mit den praktischen Projekten begonnen. Die damit verbundenen Problemkomplexe führten zu einer intensiven Reflexion über die Methodik. Dieser Prozess ist jedoch keinesfalls abgeschlossen, die ‚Praxeologie der Theaterhistoriographie‘ stellt eine Versuchsanordnung dar.
Praxistheorie in der Theaterwissenschaft
Das Verhältnis von Praxis und Theorie zur Generierung von Wissen auszuloten, ist in den Geisteswissenschaften kein neues Verfahren. Auch in der Historiographie gibt es schon seit den ersten Versuchen einer disziplinären Ausdifferenzierung der ‚Geschichtswissenschaften‘ immer wieder Bemühungen, durch praktisches Tun Erkenntnisse über frühere Zeiten zu gewinnen. Rückblickend erscheinen uns diese Ansätze in der Theatergeschichte eher rührend und naiv – wenn man etwa die historischen Forschungen der Meininger anschaut oder die studentischen Re-Inszenierungen von antiken Dramen in diversen Fachbereichen zu allen Zeiten etc. Bei der Betrachtung solcher Projekte stellt sich eine gewisse Faszination ein, gleichzeitig aber auch ein gewisses historiographisches Unbehagen. Weil wir vom heutigen Standpunkt aus, diese historiographische Herangehensweise nur als positivistisch bezeichnen können – nämlich als Versuch, eine historische Wissenslücke durch Evidenzschaffung zu schließen: „Seht her, so ist es gewesen!“. Und auch, weil in der Regel diese Art von historischer Rekonstruktion nicht von einer historiographisch-methodischen Reflexion durchdrungen ist. Das Ergebnis muss für sich sprechen und setzt seine Effekte, die eigene historiographische Methodik wird nicht umfassend reflektiert und problematisiert.
Wie soll man nun einen Weg beschreiten, der sich historiographisch auf der Höhe der Zeit bewegt und dennoch das reiche Wissensangebot durch Praxis schöpfen kann? Leichter wird es dadurch, dass die gesamte Geisteswissenschaft und auch die Theaterwissenschaft nun seit mehr als 30 Jahre vom Diskurs des practice turn und des performative turn geprägt ist. Diese Entwicklungen haben neue Reflexionen über das Verhältnis von Theorie und Praxis in Lehre und Forschung angestoßen und befördert. Der britische Theaterwissenschaftler Baz Kershaw, der schon früh den produktiven Austausch zwischen Theorie und Praxis ins Zentrum seiner Lehre und Forschung setzte, bezeichnet dies als eine „Schwindel erregende Durchkreuzung“ der Disziplinen in der Folge des ‚practice turn‘:
A key component in the ‘practice turn’ in the disciplines has been a vertiginous traverse between discursive and embodied ways of becoming/being, doing epistemologies and creating ontologies. [Practice as Research] in theatre/performance studies increasingly has aimed to rest, as it were, on the point of that turning. One major sign of the criticality of that conundrum is the ‘foundational problem of where knowledges are located’ (Piccini and Rye, in Allegue et al. 2009:36 ). And that indicates a profound principle of practice as research in theatre and performance: that its methods always involve the dislocation of knowledge itself.1
Seit den 1990er Jahren entwickelten sich im Feld der ‚Practice as Research‘ (PaR) in den anglophonen Ländern viele diverse Ansätze, die Praxis und Theorie in Theaterwissenschaft und Performance Studies verbinden. Beides, PaR-Forschung und -Lehre, sind heute weitgehend in den Universitäten und Theaterhochschulen anerkannt. Dennoch fällt es PaR-Forschern und -Lehrenden bis heute schwer, ihre Forschungsstrategien und Forschungsmethoden theoretisch umfassend zu formulieren. Eine Reflexion über die Rolle des Forschers, Lehrers, Künstlers, die phänomenologische und epistemologische Ebenen umfänglich berücksichtigt, steht noch weitgehend aus. Und, obgleich historische Ereignisse und Epochen durch PaR-Projekte bearbeitet wurden, steht die Theaterhistoriographie an sich hier nicht zur Debatte. Aber PaR kann, wie ich meine, wichtige Impulse für eine praxeologische Theaterhistoriographie geben, wenn man sich die zentralen Elemente und Konzepte des Feldes einmal genau anschaut.
Für eine Übersicht des stark expandierenden Feldes macht es Sinn, Linda Candy’s methodologischer Unterscheidung zwischen einer practice-based research und einer practice-led research zu folgen. Dann ist ersteres eine „original investigation undertaken in order to gain new knowledge partly by means of practice and the outcomes of that practice.“ Für eine vollständige Vermittlung dieser Forschung ist es notwendig zumindest teilweise die Ergebnisse mit kreativen Formen zu repräsentieren. Letzteres ist „concerned with the nature of practice and leads to new knowledge that has operational significance for that practice. The main focus of the research is to advance knowledge about practice, or to advance knowledge within practice.“2
In diesem zweigeteilten Feld situiert sich das Projekt einer praxeologischen Theaterhistoriographie eher im Bereich der practice-led research. Das Hauptziel der Forschung ist der Gewinn von Erkenntnissen zu historischen Theaterpraxen durch experimentelle Praxis zu gewinnen – indem in eine produktive Aushandlung zwischen ästhetischer Erfahrung, Wissensexpertise und praktischen Epistemen in Gang gesetzt wird. Auch spielen Aspekte von practice-based research eine Rolle, wenn historische Theaterwerke auf der Basis von erweitertem Wissen aufgeführt werden. Wenn man als Theaterhistorikerin im Feld der künstlerischen Praxis ‚wildert‘, so muss notwendig eigene akademische Forschungspraxis reflektiert werden. Kanonisierte Methoden und akademische Fertigkeiten in Frage zu stellen, ist ein Teil der Unternehmung – Praktiker und PaR-Lehrende sprechen hier von Prozessen der Wissens-Verlagerung („dislocating knowledge“3), dem kulturellen Verlernen/Entlernen („cultural unlearning“4), und der Generierung von anderem Wissen.
Beide, die kritische Verlagerung und die kreative Produktion von Wissen sind mit zwei Diskursfeldern der akademischen Forschung verknüpft. Das erste basiert auf der These, das praktische/künstlerische Forschung eine Provokation des akademischen Wissens- und Methoden-Kanons darstellt, die Modi des Denkens und Tuns über Lesen und Schreiben hin erweitert und etablierte Formen von wissenschaftlicher Sozialisierung und akademischem Habitus in Frage stellt. Das zweite hängt mit einem neuen Verständnis von embodied knowledge zusammen und diskutiert die Aneignung und Vermittlung von Wissen durch körperliche Praxen. Im Folgenden werden beide Felder in Hinsicht auf eine praxeologische Theaterhistoriographie diskutiert.
Kanonische Provokationen
In einem 2015 erschienen Artikel „Research in a Post-Normal World“ beschreiben Peter O’Connor und Michael Anderson – beide Professoren für Education and Social Work an den respektiven Universitäten in Auckland und Sydney – ‚Applied Theatre‘ als eine Möglichkeit, dem Business Model ‚Forschung‘ in einer neo-liberalen Akademie, eine kritische Alternative entgegen zu setzen:
[Research as business] is cut-throat, competitive and often self-serving. It is an outcome of a neo-liberal business and market model imposed on universities, one which celebrates the individual at the expense of the collective, with highly attuned accountability measures based often on the likelihood of how the research will benefit both the university and the researcher.1
Aber:
If the world cannot be reduced to numbers or words alone, arts-based research challenges traditional research’s demand for validation and verification. It rejects the notion of singular truths or clear answers, instead searching for contrasting nuances, revealing ambiguities and complex multiple truths.2
O’Connor und Anderson machen hier etwas deutlich, was uns etwa im Konzept der ‚Lecture Performance‘ geläufig ist. Wenn man hier auf der methodischen Ebene bleibt, dann gibt es einen zweiten engeren ‚wissenschaftspolitischen‘ Aspekt. Praxis kann uns Wissenschaftler*innen helfen, die Forschung, welche der Prozesse von Kanonisierung und De-Kanonisierung von Methoden, Theorien und Paradigmen bedarf, weiterzuentwickeln. Uwe Wirth hat richtig festgestellt, dass wissenschaftliche Forschung von einem Wechselspiel zwischen Kanonisierung und De-Kanonisierung von Methoden, Theorien und Paradigmen abhängt. Er sieht einen notwendigen produktiven Austausch zwischen einem ‚professionellen‘ und einem ‚dilettantischen‘ Modus am Werk für die Entwicklung von ‚neuem Denken‘ und neuen Forschungsergebnissen. Dementsprechend kann eine nicht-professionelle Theaterpraxis im Rahmen akademischer Theaterforschung als eine Möglichkeit betrachtet werden, in einem nicht-normativen, einem ‚dilettantischen Modus‘ zu operieren:
Während das professionelle Dispositiv darauf abzielt, die Parzellierung [von ‚wildem Außen‘] zu legitimieren, weshalb gesteigerter Wert auf Akte der ‚Grenzziehung‘ und der Grenzüberwachung gelegt werden, zielt das dilettantische Dispositiv auf eine Öffnung des epistemischen Raumes – der Akzent liegt darauf, sich in einem noch nicht von Grenzen definierten Raum zu bewegen, bestehende Grenzen zu ignorieren oder aber bestehende Grenzen zu verschieben. Mit anderen Worten: es dominiert die Denkweise der frontier, des noch unerschlossenen Wissensraums, in dem es noch keine ausgebauten Wege des Wissens gibt. Man bewegt sich vielmehr ‚Querfeldein‘.3
Nach Wirth profitiert die Forschung vom dilettantischen Modus besonders, wenn die „Denkweise der frontier“ mit theoretischen und konzeptionellen Rahmen der akademischen Forschung interagiert. In diesem Sinne bietet uns die performative Praxis nicht nur eine neue, beunruhigende Erfahrung, sondern wirkt zurück auf wissenschaftliche Episteme, und erlaubt uns daher die Modi des Denkens und Forschens zu erweitern. So kann Theaterpraxis im Rahmen der akademischen Theaterforschung die ‚dilettantische‘ Flanke unserer Wissenschaft produktiv offenhalten. Die Theaterhistoriographie kann sich mit Theaterpraxis sozusagen ins Offene hineinbewegen.
Verkörperung von Wissen
Die Frage nach dem Körperwissen betrifft viele Themen der Theaterwissenschaft. Die Stichworte ‚Erinnerung und Körper‘, ‚Living Archive‘, ‚Ausbildung und Übertragung von Körpertechniken‘ können ein ganzes Feld abstecken. Ähnlich wie Uwe Wirth argumentiert auch die Tanzhistorikerin Susanne Leigh Foster für die Generierung von neuem/anderem Wissen, wenn sie das Konzept der ‚kinesthetic empathy‘ aus dem Bereich der Tanzpraxis und Bewegungstherapie mit historiographischen Perspektiven auf Tanz verknüpft.1 In der Einleitung ihres Buches Choreographing History stellt sie sich kritisch zu einer Historographie, die gelernte Muster der ‚Entkörperung‘ in Forschung und Schreibpraxis affirmiert:
From [authorial voices] they have learned that pronouncements about the past should issue in sure and impartial tones. They have deduced that historians’ bodies should not affiliate with their subjects nor with fellow historians who likewise labor over the secrets of the past. Instead, those voices within past histories teach the practice of stillness, a kind of stillness that spreads across time and space, a stillness that masquerades as omniscience. By bestilling themselves, modestly, historians accomplish the transformation into universal subject that can speak for all.2
Historiker*innen sollten sich stattdessen ihrer körperlichen Performance im Prozess des Schreibens, Lesens und Denkens bewusstwerden. Dann wären sie in der Lage, eine kinästhetische und emphatische Beziehung zu den historischen Körpern, über die sie arbeiten, zu entwickeln. Indem sie ihre eigenen Körperkonzepte – Körperpraxen, Körperwissen, körperliche Bedeutungssysteme – mit denen, die von historischen Körpern vollzogen wurden, in Übereinstimmung bringen, können sie Erkenntnisse über vergangene Praktiken gewinnen:
Circulating around and through the partitions of any established practice and reverberating at the interstices among distinct practices, theorics of bodily practices, like images of the historical body, are deduced from acts of comparison between past and present, from rubbing one kind of historical document against others. In the frictive encounters between texts, such as those expressing aesthetic praise, medical insights, proscriptive conduct, and recreational pursuits, theorics of bodily significance begin to consolidate.3
In diesem Moment, wenn die Vergangenheit wieder verkörpert wird, entsteht laut Foster ein Dialog zwischen der Historikerin und den historischen Praxen. In der Konsequenz werden beide, die Historikerin und das historische Narrativ, einer Transformation unterzogen:
As historians’ bodies affiliate with documents about bodies of the past, both past and present bodies redefine their identities. As historians assimilate the theories of past bodily practices, those practices begin to designate their own progressions. As translations from moved event to written text occur, the practices of moving and writing partner each other. And as emerging accounts about past bodies encounter the body of constraints that shape the writing of history, new narrative forms present themselves.4
Foster fordert zu Recht von der historiographischen Forschung zu vergangenen Praxen und Performances eine körperliche Investition. Ihr Hauptargument basiert auf der imaginativen Übereinstimmung von Vergangenheit und Präsenz, historische Re-enactments bezieht sie in ihre Überlegungen nicht mit ein. Ich würde hingegen sagen, dass das körperliche Bewusstwerden und die imaginative Kreativität der Historikerin sogar stärker entwickelt wird, wenn sie sich unmittelbar in historisierende Aufführungspraxis involviert. Die kinesästhetische Emphatie („kinaesthetic empathy“) hängt dann nicht nur von Text- und Bildquellen ab, sondern kann sich auf eine ästhetische Erfahrung berufen. Der Körper der Historikerin eignet sich so mit Hilfe ihrer multisensoriellen Wahrnehmung tacit knowledge an.
Hier liegt ein grundsätzliches Verständnis des Körperwissens als ‚implizites Wissen‘ zugrunde, wie es der Philosoph Michael Polanyi in den 1950er Jahren5 als tacit knowledge formuliert hat. Tacit knowledge bezieht sich auf das ‚knowing how‘, während explicit knowledge das ‚knowing that‘ umfasst. Letzteres kann durch Lesen und Schreiben ausgebildet und vermittelt werden, ersteres jedoch nur über körperpraktische Demonstration und Erfahrung. In unserem Fall können praktische Übungen und Performance Zugang zu Theaterwissen geben, und gleichzeitig, während wir Theater spielen/performen, demonstrieren oder repräsentieren wir unser Wissen dieser Kunst.
Diana Taylor geht noch einen Schritt weiter bei der Frage der Erzeugung, Speicherung und Vermittlung von Wissen durch Körperpraktiken. In ihrem grundlegenden Buch The Archive and the Repertoire (2003), verhandelt sie das Begriffspaar Repertoire/Archiv als sich ergänzende Quellensysteme. Das Repertoire beschreibt sie als einen verkörperten Wissensspeicher, der für eine umfassende Darstellung von historischen und zeitgenössischen Aufführungspraxen und cultural performances herangezogen werden muss. Das Archiv bietet uns Texte und Objekte, die jedoch die performative Handlung‘ und körperliche Aspekte des Aufführungs-Vollzugs nicht transportieren können:
Repertoire, etymologically ‚a treasury, an inventory,‘ also allows for individual agency, referring also to ‚the finder, discoverer,‘ and meaning ‚to find out.‘ The repertoire requires presence: people participate in the production and reproduction of knowledge by ‚being there,‘ being a part of the transmission. As opposed to the supposedly stable objects in the archive, the actions that are the repertoire do not remain the same. The repertoire both keeps and transforms choreographies of meaning.6
Ein gelebtes und praktiziertes Repertoire konserviert und verändert zugleich die Aufführungspraxis durch die Vermittlung der Körperaktion. Taylor lehnt sich mit ihrer praktischen Historiographie an Konzepte der oral history an und bringt den darstellenden Körper in den Fokus. Ihr Begriff des Repertoires als ‚lebendes Archiv‘ und körperliche Vermittlung von Wissen bringt ins Bewusstsein, dass eine rein text- und objektorientierte Theaterhistoriographie nur eine eingeschränkte Sicht auf Theaterpraxen der Vergangenheit bieten kann.
Kinesthetic empathy (Foster), tacit knowledge (Polanyi) und das historiographische Repertoire (Taylor) bilden die Basis für eine praxis-orientierte Theaterhistoriographie. Im Folgenden möchte ich die ästhetische Dimension körperzentrierter Ansätze zur Verlagerung und Produktion von Wissen diskutieren.