Kitabı oku: «Methoden der Theaterwissenschaft», sayfa 7
Ästhetische Episteme
Die folgenden Überlegungen stehen auf der Basis einer post-Kantianischen Epistemologie, die ästhetische Erfahrung mit der Schaffung von neuem Wissen zusammendenkt. Kant lokalisiert im ästhetischen Urteil eine Erfahrung von Erkenntnis als solche. Die Erfahrung von ‚Schönheit‘ setzt ein freies Spiel der Sinne in Gang, welches unsere kognitive Fähigkeit animiert. In Kants Konzept von Schönheit sind sowohl Kunst als auch Natur einbegriffen. Schönheit kann generell durch ein Kunst- oder ein Naturerlebnis erfahren werden. Friedrich Schiller fokussiert in seinen Briefen über ästhetisch Erziehung dagegen spezifisch auf die Begegnung von Menschen mit Kunstwerken als eine ästhetische Praxis. Das Erlebnis der Kunst bringt die Menschen in einen ästhetischen Geisteszustand, der das Verhältnis von physischen Sinnen und den kognitiven Fähigkeiten harmonisiert. Schiller bettet dieses Konzept der ästhetischen Erziehung in einen politischen Rahmen mit dem Ziel, durch ästhetische Erfahrung, einen neuen und friedvollen Menschen zu schaffen, der gewaltsame Auseinandersetzung, Krieg und Unterdrückung hinter sich lassen kann.
Der praxeologische Ansatz der Theaterhistoriographie bezieht sich auf die Kantianisch-Schillerschen Ideen, um ästhetische Erfahrung für die Erforschung von historischer Theaterpraxis als methodischen Aspekt zu konzeptualisieren. In unserem Forschungsprojekt nutzten wir historisierende Rekonstruktionen von historischen Werken und Aufführungspraxen, um Erkenntnis über das Theater einer bestimmten Zeitepoche zu gewinnen. Unser Interesse an historisierenden Rekonstruktionen fokussierte dabei jedoch nicht auf formale und strukturelle Aspekte der Theater-Werke, sondern eher auf ein Re-enactment einer historischen Praxis, die performative kulturhistorische Rahmen und Prozesse materialisiert. Dieser Ansatz berücksichtigt, das Kunst, spezifische Theater und Performance, eine menschliche kulturelle Praxis ist, die unsere Denk- und Lebensweisen herausfordert. Wie Georg Bertram es formuliert:
Durch Kunstwerke kommt es zu einer Herausforderung der Praktiken, die aufgrund dessen bestätigt oder verändert und dadurch erweitert werden. Für ein solches Verständnis ist es entscheidend, Kunst als eine reflexive Praxis zu verstehen: als eine Praxis, die sich auf andere Praktiken bezieht.1
Auf diese Art interagiert Kunst, in unserem Falle Theater, mit den kulturhistorischen Rahmensetzungen. Theaterpraxen können uns Orientierung in unserem Leben geben, durch ästhetische Erfahrung reflektieren und verändern wir unser Denken und Handeln unter gegebenen kulturhistorischen Bedingungen2. Wir sollten dies jedoch nicht als eine simple pädagogische Formel betrachten – im Sinne von: Theater predigt Moral, also werden wir moralisch erbaut. Hingegen verstehen wir Theaterpraxen, in die wir involviert sind, wenn wir aufführen, teilnehmen, wahrnehmen, in Begriffen einer Performativität, die unsere Identitäten und Ideologien praktisch materialisiert.
Was sind die Konsequenzen einer solchen Vorstellung von Theater und ästhetischer Erfahrung für das wissenschaftliche Streben nach mehr/anderem Wissen über historische Theaterpraxis? Wir müssen uns mit einer Reflexion der reflexiven Prozesse in der Kunstpraxis befassen, während wir erfahren, dass vergangene und aktuelle Konzepte und Erfahrungen von Theater sich ineinanderfügen und zugleich unsanft kollidieren. Was passiert in unseren Köpfen, wenn wir das Re-enactment historischer Theaterpraxis erleben?
Eine Reflexion unseres eigenen ästhetischen Erlebens während wir an praktischen Experimenten und Aufführungen teilnehmen, operiert mindestens auf zwei Ebenen. Erstens, dehnen wir unser Denken aus, wir erfahren ein ‚Entlernen‘/‚Verlernen‘ unserer antrainierten Sicherheiten und gewinnen neues oder anderes Wissen. Die Historikerin erlebt hier ihr eigenes Körperwissen im Widerstreit oder in Verhandlung mit vergangenen Praxen und der historisierten Erfahrung. Zugleich entsteht so etwas wie ein Kantianisches ‚ästhetisches Vergnügen‘, wenn man sich selbst dabei erlebt, wie das Denken in Bewegung gebracht wird im Moment der ästhetischen Erfahrung: Ich bin froh, mich selbst dabei zu beobachten, wie sich neues Wissen durch sinnliche Erfahrung formt und anlagert.
Auf einer zweiten Ebene, erfährt die Historikerin kognitiv und sinnlich die Historizität der wiederbelebten Praxis. Man versucht, Spuren historischer kultureller und epistemischer Praxen in der ästhetischen Erfahrung zu finden. Was war die historische Realität, die durch die historische Theaterpraxis materialisiert, bestätigt und auch erweitert wurde? Die empathisch historisierende Erfahrung erschafft eine Art von Fosterscher ‚Übereinstimmung zwischen Vergangenheit und Gegenwart‘, während sie verschiedene Dokumente, Quellen – hier muss man ‚ästhetische Erfahrungen‘ ergänzen – verhandelt und gegeneinander reibt.
Die schwierigste Aufgabe einer solchen praxeologischen Theaterhistoriographie ist die Verbalisierung der Forschungsergebnisse, die wieder in einen akademischen Rahmen zurückgeführt werden müssen. Wie könnte man überhaupt darüber reden, schreiben?
Aber natürlich werde ich den Versuch unternehmen, die praktische und ästhetische Erfahrung der Theaterhistoriographie zu konzeptualisieren. Hilfreich ist hier der Bezug auf einen Begriff von Praxeologie, also der Praxistheorie, wie er heute vor allen Dingen in der Soziologie verwendet wird, obgleich auch hier die Übertragung in die Theaterhistoriographie nicht unproblematisch ist.
Praxeologie – Praxistheorie
In den 1980er Jahren hat Andrzej Wirth bei der Konzeptionierung des Gießener Studiengangs „Angewandte Theaterwissenschaft“ ‚Praxeologie‘ als grundlegenden Ansatz eingeführt. In Bezugnahme auf seinen Lehrer, den polnischen Philosophen Tadeusz Kotarbinski, formulierte er ‚Praxeologie‘ als eine Methode, vom Raum der Theorie in den Raum der Praxis einzudringen, um die Theorie zu verifizieren, zu widerlegen oder aufzuheben.1 Diese prominente Stellung der Praxis als kritische Instanz gegenüber der Theorie steht allerdings in der Gefahr, das Wechselverhältnis zwischen beiden zu verkürzen. Der angewandten Theaterwissenschaft gelingt es jedoch sehr erfolgreich, dies zu balancieren.
Es lohnt sich jedoch, nochmals auf die grundlegenden Parameter der ‚Praxeologie‘ zurückzugehen, die die Soziologie in Bezug auf Bourdieu und Giddens in jüngerer Zeit re-formuliert hat. In der Soziologie wird die praxeologische Perspektive immer auf die Genese von Gesellschaft bezogen. Dies kann für Theater nur in einem übertragenen Sinne gelten – ist aber insbesondere dann valide, wenn man für Theater eine kultursoziologische Grundannahme ansetzt. Hilmar Schäfer beschreibt den praxeologischen Praxisbegriff folgendermaßen:
Praktiken sind das Tun, Sprechen, Fühlen und Denken, das wir notwendig mit anderen teilen. Dass wir es mit anderen gemeinsam haben, ist Voraussetzung dafür, dass wir die Welt verstehen, uns sinnvoll darin bewegen und handeln können. Praktiken bestehen bereits, bevor der/die Einzelne handelt, und ermöglichen dieses Handeln ebenso wie sie es struktureiern und einschränken. Sie werden nicht nur von uns ausgeführt, sie existieren auch um uns herum und historisch vor uns. Sie zirkulieren unabhängig von einzelnen Subjekten und sind dennoch davon abhängig, von ihnen aus- und aufgeführt zu werden.2
Deutlich erkennt man die Anleihen an Konzepte wie ‚Performanz‘ oder ‚Performativität‘, wenn als Grundbedingungen sozialer Praxis Relationalität (Interaktion), Zeitlichkeit (Prozess), Körperlichkeit (inkorporiertes Wissen) und Materialität (Relevanz und Gebrauch von Artefakten) konstatiert werden.3 Im Einklang damit steht auch die Annahme, „dass Praktiken niemals essenzielle Quellen haben können“. Praxisformationen müssen „immer wieder aufs Neue von ereignishaften Praktiken materiell erzeugt werden“. In der Konsequenz lassen sich Praxisformationen „nur in actu als Materialisierungen von Praktiken verstehen, die per definitionem Ereignisse sind.“4
Vergegenwärtigt man sich nun die Situation der historiographischen Theaterpraxis, so eröffnen die genannten Parameter – Relationalität, Zeitlichkeit, Körperlichkeit, Materialität – spezifische Reflexionsebenen. Relationalität wird auf zwei Ebenen relevant – der Jetztzeit der aktuellen Aufführung, bzw. Theaterpraxis, und der Vergangenheit, in der sich eine historische Praxis ereignete. Auf der historischen Ebene kommt der kulturhistorische und ästhetische Kontext ins Spiel, die Frage nach dem historischen Vorkommen, der Distribution und Erfahrbarkeit dieser Praxis. Auf der Jetztebene stellt sich diese Frage ebenso, gleichzeitig kann man die eigene und fremde Involviertheit in die Praxis reflektieren. Wer nimmt Teil und ermöglicht die Praxis, und welche Position nimmt er/sie dabei ein?
Auch die Frage nach der Körperlichkeit verlangt eine reflexive Vermittlung zwischen jetzt und damals. Die uns heute zur Verfügung stehenden Sänger und Schauspieler operieren auf einer völlig anderen Basis von Körperwissen. Obgleich in historischer Praxis trainiert – sie beherrschen etwa Gesten-Regeln, die aus spezifischen Quellen zum Theater des 18. Jahrhunderts generiert werden – haben sie keinen natürlichen Zugang zu historischen Körperpraktiken. Das Gleiche gilt für die Betrachterin und Theaterhistorikerin. Meinen Sinnen ist das, was ich in der historiographischen Theaterpraxis erlebe, erst einmal fremd. Ich kann mich an die kodifizierten Gesten gewöhnen und dem Geschehen auf der Bühne eine Art von Lusterfahrung abringen – aber das ist durchaus harte Arbeit. Auf der anderen Seite kann ich aber auch diese Fremderfahrung als erfreulichen Gewinn auf der Erkenntnisebene verbuchen; man kann dem Kantianischen ästhetischen Urteil sozusagen bei der Körper-Arbeit zuschauen.5
Zeitlichkeit und die Frage nach dem Prozess der Praxis und der beständigen Hervorbringung des Sozialen und auch des Ästhetischen wird in der historiographischen Theaterpraxis zu einer Reflexion über die grundsätzliche Historisierung des Ereignisses. Damit ist der einfache Übergang in die historische Aufführungssituation grundsätzlich verstellt, der Abstand zwischen beiden Zeitebenen bleibt offen und erzeugt ein Spannungsverhältnis. Behält man konsequent den Standpunkt der Zeitlichkeit und der Historisierung, so kann man die Theatergeschichte als Narration über historische Theatermodelle problematisieren. Ein ‚Modell‘ des Barocken Theaters etwa differenziert sich dann aus bis hin zur Unmöglichkeit einer Annahme eines ‚Barocken Theaters‘, wenn man die Einzelereignisse von Theaterpraxis als zeitlich gegeben und je spezifisch betrachtet. Ich werde später nochmals auf das Problem des Modells zurückkommen.
Die Materialität, also die Relevanz und der Gebrauch von Artefakten, spielt in der Konzeption der historiographischen Theaterpraxis eine herausragende Rolle. In meinem Falle geht es dabei um die Erforschung der Theaterräume des 18. Jahrhunderts. Hier weicht allerdings die kunsthistorische und architektonische Herangehensweise zugunsten einer konsequenten praktischen Perspektive zurück. Man könnte an dieser Stelle durchaus an Konzepte der site specific performance anschließen. Für unseren Umgang mit der Bühne des Schlosstheaters in Drottningholm etwa heißt das, dass wir den Theaterraum grundsätzlich als Instrument verstehen, das eine spezifische Praxis verlangt, aber auch ermöglicht. Die Holzbühne des Schlosstheaters ist sogar ein besonders diffiziles Instrument, dass sein klangliches, räumliches und energetisches Potential nur voll entfaltet, wenn die Praxis des Theaters sich darauf einstimmt. Es mutet dann ein wenig Paradox an, wenn – wie in den letzten Jahren geschehen – ein ambitionierter Regisseur Mozarts da-Ponte-Trilogie in einer Art Kasten/Podest spielen lässt, und somit die Aufführung komplett von der Materialität des Theaters abtrennt.6 Die Frage ist, ob dieser theaterästhetisch durchaus interessante Regieeinfall hier am rechten Ort ist. Andererseits darf die theaterhistoriographische Empfindsamkeit hier nicht dogmatisch werden, denn damit würde jeglicher Theaterraum auf die eine ideale Praxis hin limitiert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine praxeologische Perspektive in der Theaterhistoriographie aus den folgenden Gründen sinnvoll ist: Zum einen geht es grundsätzlich um den fruchtbaren und auch den kritischen Einbezug von Praxis in die historische Theaterforschung. Zum anderen bietet die Praxeologie einen Zugang zur eigenen Wissens- und Wissenschaftspraxis. Die eigene historische Narration wird durch die Praxis zunächst einmal fragwürdig, und zwar auf eine höchste produktive Weise. Zudem verlangt sie eine ständige Positionierung der eigenen Theorie und Methode in der Rolle der Theaterhistorikerin. Methodisch einem praxeologischen Ansatz folgen, heißt, die historische Theaterpraxis in einem produktiven Spannungsfeld zwischen Körperlichkeit, Materialität und Zeitlichkeit zu verorten, zwischen Gegenwart und Vergangenheit.
Aus der Werkstatt der praxeologischen Theaterhistoriographie
Ich werde mich nun auf drei historiographische Aspekte beschränken, die direkt aus der praktischen Theaterarbeit heraus problematisiert werden: 1) Schaffung von eigenen Quellen und Erfahrungen, 2) Aushandlung zwischen Eigenem und Fremdem, 3) Theaterhistorisches Modell vs. Diversität der Szenischen Angebote.
1) Schaffung eigener Quellen und Erfahrungen
Eine Theaterhistoriographie, die an Gegenständen arbeitet, welche der Ära der technischen Bild- und Tonreproduktion vorausgehen, ist oft vor das Problem gestellt, dass die Quellen zu bestimmten Theaterwerken, Aufführungsbedingungen oder Prozessen enorm rar sind. Notdürftig destilliert man aus historischen Briefen, Memoiren, Zensurberichten oder anderen in der Regel handschriftlich verfassten Quellen Beschreibungen von Erfahrungen und Abläufen. Gerne befasst man sich mit Krisenmomenten des Theaters, weil Theaterskandale und Theaterrevolutionen deutlich mehr Quellen hervorbringen als ungestörte Theateraufführungen, über die im Nachklang weniger zu hören ist. Das entscheidende Problem allerdings liegt in der Erfahrungslücke – es gibt keine direkte Erfahrung des Theaterereignisses, auf die unsere Erinnerung zurückgreifen könnte.
Die experimentelle Praxis mit historischen Werken, in historischen Räumen und orientiert an historischen Quellen ist hier eine Möglichkeit, diese Lücke zumindest ansatzweise zu verkleinern. Durch Workshops und Theater-Produktionen erzeugen wir performative Erfahrungen mit historischen Gegenständen, mit unseren Reflexionen, Notaten und Analysen erzeugen wir zusätzliche Quellen, die sich im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Gegenwart positionieren.
Die Imagination der Historikerin ist die Basis für die Erzeugung des historischen Narrativs.1 Wenn man sich über Wochen und Monate in bestimmte Akten hineinvertieft hat, dann kann es passieren, dass im Kopf eine Dynamik in Gang kommt, welche die historischen Fragmente zu einem lebhaften Ereignis fügt. Aber es ist natürlich etwas Anderes, wenn man tatsächlich im Zuschauerraum sitzt und die ästhetische Erfahrung einer Aufführung hat, die in engem Zusammenhang steht mit den bearbeiteten Quellen. Hier wird Text-Bildwissen tatsächlich in eine körperliche Erfahrung transformiert, die ihrerseits das Denken über eben jenes Text-Bildwissen beeinflusst und erweitert.
Ein Beispiel hierfür ist ein Workshop im Drottningholmer Schlosstheater, bei dem das Duett „Là ci darem la mano“ aus Mozarts Don Giovanni geprobt wurde. Die zwei jungen Sänger*innen – Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni – nahmen dafür verschiedene Positionen im Raum ein, um die Soundqualität der Bühne zu explorieren. Je mehr sie sich dem Bühnenhintergrund näherten, desto ‚flacher‘ wurde die Tonqualität. Auch versendete sich der zu den Seiten gewandte Gesang in den Bühnengassen. Als sie sich schließlich im Rahmen des Proszeniums positionierten, wurde klar, dass dieser Bühnenrahmen wie ein Verstärker funktioniert und den Klang weit in den Zuschauerraum hineinsendet. Beide Sänger*innen probierten dort eine dem Publikum zugwandte Stellung und erreichten so, dass ihre Stimmen weit nach hinten in den Zuschauerraum getragen wurden. Ein voller, brillanter Klang füllte den Raum.
Abb. 2:
Workshop in Drottningholm 2016. Laila Cathleen Neuman als Zerlina und João Luís Paixão als Don Giovanni. Foto: Performing Premodernity.
Das Proszenium spielt auch als energetisches Affektinstrument eine Rolle. Um den sozialen Status, aber auch die emotionale Bindung, die Manipulationsverhältnisse der Charaktere etc. zu befragen, wurde das Duett mit den beiden Sängern*innen wiederum in verschiedenen Positionen ausprobiert. Hier erwies sich die Platzierung im Proszenium erneut als wirkmächtig. Don Giovanni/Paixão und Zerlina/Neuman nahmen eine leicht distanzierte Position zueinander ein, wie man es aus den Regelwerken und Bilddarstellungen des 18. Jahrhunderts kennt: die Gesichter nicht direkt einander zugewandt, sondern mit einer leichten Öffnung hin zum Publikum und im Contrapposto. Das Duett wurde damit sozusagen aneinander vorbei gesendet, und nicht direkt an die andere Bühnenfigur adressiert.
Man fragt sich, wenn man diese Art Figuren-Konstellation als Bildkonvention der Zeit wiedererkennt und voraussetzt, dass dies eine übliche Grundaufstellung der Darsteller*innen war, wie es zu in vielen Schriften verzeichneten emotionalen Zuschauerreaktion (weinen, schluchzen, gar Ohnmacht) kommen konnte. Zunächst einmal erscheint das Bild, das die Akteure abgeben, eher artifiziell, stark kodiert und keineswegs anrührend. Aber in der direkten ästhetischen Erfahrung einer klanglichen Umfassung der beiden Bühnenfiguren durch den Theaterraum und das Bühneninstrument machte sich während des Workshops plötzlich das körperliche Gefühl und auch die Erkenntnis eines ungeheuerlichen erotischen Energieaustausches geltend. Die energetische und erotische Sendung erreicht beide Sänger*innen, und auch die Zuschauer*innen. Interessant sind die Auswirkungen auf die Charakterisierung der Bühnenfiguren. Insbesondere Zerlina transformiert hier vom unbedarften Landmädchen zur reifen Flirtpartnerin von Don Giovanni, die ihre vokale Kraft im räumlichen Setting wirkmächtig gegen den Verführer sendet.
Was genau passierte in dieser Situation? Als ich später darüber nachdachte, wurde mir klar, dass die Sänger*innen ihre vokale Energie in den Rahmen des Proszeniums gerichtet hatten, die dann in einer Kreisbewegung von dort zum anderen zurückgeführt wurde. Eine energetische Bindung auf dem räumlichen Umweg sozusagen. Die Spannung zwischen der sichtbaren Distanz der Akteure und der energetischen Umarmung durch den Klang erzeugte tatsächlich emotionale Rührung. Die visuelle Ebene beließ die beiden Darsteller*innen auf Distanz, die energetische Verschränkung und physisch spürbare Verbindung entstand erst mit der Kanalisierung durch das Proszenium. Wie könnte eine Text- oder Bildquelle diesen Prozess auch nur annähernd transportieren? Erst die praktische Erfahrung führt zu einer direkten Erweiterung des historischen Quellenwissens. Bei der Historikerin setzt ein Verstehen ein, das auf einer gänzlich anderen Ebene operiert. Die Texte und Zeugnisse, die aus dieser praktischen Erfahrung entstehen, fügen dem verfügbaren Quellenkorpus relevante Dokumente hinzu.
An der intakten historischen Bühne in Drottningholm zeigt sich so, welche instrumentelle Funktion das Zusammenspiel von Bühnenaufbau und Proszenium für Klang und Übertragung haben. Im Gegensatz dazu erscheinen historische Theater, die eine architektonische Rekonstruktion – wie etwa das Confidencen-Theater in Ulriksdal – oder eine radikale Umstrukturierung – wie etwa das Markgrafentheater in Bayreuth – erfuhren, in ihrer instrumentellen Wirkung eingeschränkt. In letzterem hat die Modernisierung der Bühne zur radikalen Beschneidung und Rücksetzung des Proszeniums geführt. Obgleich der intakte Zuschauerraum mit seiner Holzstruktur einen exzellenten Resonanzraum darstellt, kann man sich nur in Ansätzen vorstellen, welches Potential das ursprüngliche Proszenium im Zusammenklang mit dem Auditorium entfalten konnte. Diese Aspekte historischer Theaterpraxis werden einem erst bewusst durch das praktische Experimentieren. Lässt man sich darauf ein, hat dies Konsequenzen für das Verständnis historischer Theaterpraxis in ihrer spezifischen Interaktion mit den entsprechenden Theaterräumen.