Kitabı oku: «Mord in Switzerland», sayfa 2

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Die gerichtsmedizinische Untersuchung würde eindeutig zeigen, ob ein Seidenschal oder eine Wäscheleine die Kehle der Toten zugeschnürt hatte. Und ob der Zug waagrecht von vorn nach hinten oder schräg nach oben verlaufen war. Fehlte nur noch das Motiv. Doch das würde er ihnen bestimmt auch gleich liefern:

«Und hier, das lag auf dem Tisch!»

Murbach langte in seine Hemdtasche, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. Er hielt es erst Markovic hin, und als dieser nicht danach griff, Gisiger. Gisiger zog betont umständlich ein sauberes Taschentuch hervor, legte es über seine Finger und fasste dann das Stück Papier an einer Ecke an. Er schüttelte es ein paarmal, bis es sich öffnete. Es war kein Brief, sondern eine Seite aus einem Notizbuch, unsorgfältig herausgerissen, mit fliehenden Buchstaben bedeckt. Verzweifelte Worte, an niemanden gerichtet, nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Kein Brief.

Ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich Du siehst mich nicht. Ich weiss nicht mehr, wer ich bin.

Es gibt mich nicht mehr

Wo bist du wo bin ich

Bitte bitte bitte

Ich muss hier raus

ich kann nicht mehr

«Sehen Sie, sie war gar nicht mehr sie selbst! Sie konnte sich nicht einmal mehr klar ausdrücken … sie war total verwirrt! Und dann ruft mich ihr Anwalt an und sagt, sie habe die Scheidung eingeleitet, das Haus verschenkt … Das hätte sie nie getan, sie war nicht bei sich … das ist doch eindeutig!»

«Ihr Anwalt hat Sie angerufen? So spät?»

«Nein, das war …»

« … bevor Sie ihre Frau ‹gefunden› haben?» Markovic zeichnete mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft. Dann schaute er zu Gisiger hinüber und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, als zählte er Geld. Gisiger griff in seine Hosentasche und holte sein Portemonnaie heraus.

«Meine Herren?» Der Amtsarzt stand in der Tür.

«Wo ist das Schlafzimmer?», fragte Gisiger.

«Ich zeig es Ihnen.»

«Nichts da!» Markovic hielt Murbach zurück. «Wir beide warten hier!»

Murbach nickte. «Die Treppe hoch, die letzte Türe am Ende des Flurs.»

Der Arzt ging voraus, er sagte nichts, hielt den Kopf gesenkt. In Gedanken versunken. Vielleicht war er auch nur müde. Sie waren alle müde.

Vor der Schlafzimmertür blieb er stehen und liess Gisiger den Vortritt. Gisiger öffnete die Tür. Das Zimmer war so gross, dass das Bett in seiner Mitte fast klein wirkte. Es war ein Himmelbett aus dunklem, reich geschnitztem Holz, mit weissem Leinen bezogen. Auf der weissen Überdecke lag sie auf dem Rücken. In einem grün-weiss gemusterten Wickelkleid, die langen braunen Haare auf dem Kissen ausgebreitet, um den Hals ein Stück gelbe Wäscheleine, starrte sie mit offenen Augen an die Decke.

Mit offenen Augen?

Der Arzt machte einen Schritt auf das Bett zu, bückte sich, berührte ihren Hals mit zwei Fingern. Dann richtete er sich wieder auf und schaute Gisiger an. Sein Blick war schwarz.

«Wollt ihr mich verarschen?»

Vancouver Island, heute

«Es bin nicht ich, es ist ein Inukshuk», sagte Amanda. «Ein Wie-ein-Mensch.»

Officer Lovechild nickte. «Wie das Olympia-Maskottchen!» Er zog seinen Schlüsselanhänger aus der Tasche, an dem eine versilberte Version der klobigen, aus Steinblöcken zusammengesetzten, menschenähnlichen Figur baumelte.

«Genau.»

Amanda hatte einen solchen zum erstenmal in einer Ausstellung über die Kunst der Ureinwohner des amerikanischen Nordens, aus Alaska, Grönland, Kanada gesehen. Traditionelle und zeitgenössische Skulpturen und Gefässe wurden gezeigt, die sich erstaunlich ähnlich sahen. Dieselben weichen, klaren Formen, dieselbe Bearbeitung, die den harten, kalten Stein weich, warm, seidig scheinen liess. Plötzlich stand sie vor einem gehörnten, zähnefletschenden Wesen aus glänzendem grauem Stein, das sie an eine Figur aus dem Kinderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» erinnerte. Ein wilder Kerl? Nein, ein Inukshuk. Ein Wie-ein-Mensch. Diese Statuen, las sie, dienten als Wegweiser, wie die Steinmannli in den Schweizer Alpen. Sie wurden bei der Jagd eingesetzt und manchmal auch in leeren Behausungen zurückgelassen. Als Platzhalter. Hüter des kalten Herdes.

«Ich war hier», sagte der Wie-ein-Mensch. «Auch wenn ich jetzt weg bin: Ich war hier.» Lange hatte sie vor dem Glaskasten gestanden und sich vorgestellt, sie könnte dieses zähnefletschende Ding mit nach Hause nehmen und an ihre Stelle setzen. Es würde endlose Sitzungen und Besprechungen für sie aushalten und Jonas zuhören, wenn er sich über die lähmende Wirkung beklagte, die ihre Ehe auf seine Kreativität habe.

Die Idee liess sie nicht mehr los. Plötzlich begegnete sie ihr überall. Sie hing in der Luft.

Gespräche im Freundeskreis drehten sich um die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit der modernen Existenz, überall gleichzeitig zu sein, in allen Zeitzonen vertreten, die unterschiedlichsten Rollen gleichzeitig ausfüllend. «Wenn man sich bloss klonen könnte!» Jemand schenkte ihr ein Buch über einen Schriftsteller, der gleich sieben Doppelgänger auf Lesereise schickte. Sie zappte sich durch das Spätabendprogramm und blieb bei einer Anwaltserie hängen, in der die Beziehung eines Mannes zu einer erstaunlich lebensechten Sexpuppe legalisiert wurde, mit der er glücklicher war als mit jeder lebenden Frau. Wenig später las Amanda einen Artikel über die Firma in Japan, die diese qualitativ hochstehenden Sexpuppen herstellte. Puppen, die aus hautähnlichem Material und nach menschlichem Vorbild gestaltet wurden, auf Wunsch und gegen einen Aufpreis nach Fotos und exakten Massen: Wie-ein-Mensch.

Sechs Wochen dauerte es, bis die Puppe geliefert wurde. Sechs Wochen lang beobachtete Amanda ihren Mann. Sie sah noch einmal alles, was sie an Jonas geliebt hatte. Seine Unverschämtheit, sein schiefes Grinsen, seine schmalen Hüften. Die Art, wie er durch Menschen hindurchschaute. Wie er sich bewegte.

Wie wenn man sich zum Haareschneiden anmeldet, dachte sie etwas respektlos. Kaum hat man einen Termin, sitzen die Haare wieder perfekt. Wollte sie das Ende ihrer Ehe wirklich mit dem Kappen ihrer Haarspitzen vergleichen? Sie wartete auf ein Zeichen. Eine Annäherung. Es passierte nichts. Jonas fuhr ohne sie nach Paris und dann direkt in ihr Haus in den Bergen.

Die Puppe wurde in der versprochenen neutralen Verpackung geliefert. Sie war leicht. Viel leichter als ein Mensch. Erst recht einer aus Stein. Aber sie fühlte sich tatsächlich an wie ein Mensch, weich, trocken, warm. Amanda wickelte sie in ihr Lieblingskleid und legte ihr den bunten Seidenschal um, den Jonas ihr vor Jahren geschenkt hatte. Dann setzte sie ihre Stellvertreterin auf ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa, legte ein ART-Magazin in ihren Schoss, strich ihre Haare zurück, fuhr ihr mit einem Finger über die Wange.

Plötzlich musste sie lachen. Jonas würde verstehen, was sie gemeint hatte. Er war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der diese verrückte Geste nachvollziehen konnte. Er würde richtig reagieren.

Amanda stellte sich vor, wie er mit ihrer Stellvertreterin im Schlepptau nach Kanada reiste – er würde ihr selbstverständlich einen Sitzplatz reservieren und ihr einen Drink bestellen und sich über die Blicke der anderen Passagiere amüsieren. Vielleicht würde er einen Film drehen. Und er würde sie finden. Sie würden sich wieder finden.

«Stattdessen hat er mich umgebracht.»

Aarau, vor über einer Woche

Es dämmerte schon, als Gisiger nach Hause kam. In der Wohnung war es still. Ohne das Licht einzuschalten, ging er in die Küche. Vor dem Fenster der Wald. Zwischen den Bäumen floss die Aare, er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er schaute zu, wie sich die letzten Reste der Nacht auflösten. Nebel hing in den Ästen der Bäume. Der Tag war noch nicht so weit.

Das Licht ging an und verwandelte das vorhanglose Küchenfenster in einen wandbreiten Spiegel. Die verschlafene Landschaft verschwand, dafür sah er jetzt sich. Die hängenden Schultern, den Bauch, das Bier. Hinter ihm tauchte Helen auf. Sie trug eines seiner T-Shirts, ein weisses. Es reichte nicht ganz bis zu ihren Oberschenkeln. Gisiger zog automatisch seinen Bauch ein, aber er drehte sich nicht um.

«Siehst du mich?», fragte er. «Helen, siehst du mich?»


TOD BEI GAIS

FELIX METTLER

Schleierwolken bedeckten den Himmel, dennoch hatte Valerie eine dunkle Brille auf. Sie ging der Hauptstrasse entlang – in der rechten Hand fünf weisse Rosen. Mit der linken strich sie immer wieder ihr langes schwarzes Haar zur Seite, das ihr der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos ins Gesicht wehte. Das Ortsschild von Gais hatte sie vor wenigen Minuten passiert, als sie bei der gesuchten Stelle ankam. Diese war nicht zu übersehen: Zwei Laternenmasten waren geknickt, das Geländer der schmalen Brücke, die zu einem Bauernhof führte, teilweise weggerissen. Hinunterschauen zum Rotbach, wo sich der zerschellte Wagen möglicherweise immer noch befand, mochte Valerie nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihren Strauss zu den bereits vorbeigebrachten Blumen legte. Auch zwei rote Kerzen standen da. Von wem sie wohl stammen?, fragte sich Valerie. Kennengelernt hatte sie Philipp vor zwei Jahren in Teufen bei einem morgendlichen Kaffee. Da keine Zeitung mehr verfügbar gewesen war, hatten sie sich eine geteilt. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen. Obwohl nie eine nähere Beziehung zwischen ihnen entstanden war, hatten sie vertrauensvoll auch über private Dinge gesprochen. Sie waren einfach füreinander dagewesen. Dass dies nun Vergangenheit war, wollte Valerie nicht wahrhaben.

Einem Bericht der Appenzeller Zeitung war zu entnehmen, dass man rätselte, weshalb der Wagen von der Strasse abgekommen sei. Es hatten gute Verhältnisse geherrscht, und nach der Aussage des nachfolgenden Fahrers habe es an jener Stelle keinen entgegenkommenden Verkehr gegeben. Auch soll der Mann – Philipp Angerer – nicht gerast sein, seit Bühler sei der Abstand zwischen ihnen gleich geblieben. So wurde ein technischer Defekt in Betracht gezogen, doch auch eine Fehlmanipulation des Fahrers konnte nicht ausgeschlossen werden. Für unwahrscheinlich hielt man einen Sekundenschlaf, zumal der Unfall am Morgen auf dem Arbeitsweg nach Appenzell – Angerer lebte in Teufen – geschehen war.

Er könnte einer Katze ausgewichen sein, dachte Valerie. Sie wusste um Philipps Tierliebe. Dass er, wie sie in der Zeitung gelesen hatte, nicht angeschnallt war, verwunderte sie nicht. Bei gemeinsamen Fahrten hatte sie ihn gelegentlich auf die Gurten aufmerksam gemacht.

Kurz nachdem sich Valerie auf den Rückweg nach Gais gemacht hatte, fuhr ein Polizeiwagen langsam an der Unglücksstelle vorbei. Wachtmeister Pirmin Köchli, seit zwölf Jahren im Polizeidienst, schüttelte den Kopf. «Unverständlich», murmelte er vor sich hin. Köchli war vor kurzem vierzig geworden. Er hatte einen kantigen Kopf mit kurzem, dunklem Haar und war von sportlicher Gestalt.

«Hast du ihn gekannt?», fragte sein Kollege, Gefreiter Edi Tobler, der neben ihm sass. Er war jünger, rotgesichtig, untersetzt und mit deutlichem Bauchansatz.

«Wir haben uns gelegentlich im Fitness-Center getroffen und auch mal in der Garderobe miteinander geplaudert.» Nach kurzem Schweigen fügte Köchli hinzu: «War ein feiner Kerl.» Es klang wie ein Seufzer.

«Er soll Arzt gewesen sein.»

«Ja! Er hat an der Privatklinik Schönbüchel in Appenzell gearbeitet. Vor drei Jahren ist er aus Afrika zurückgekehrt, wie er mir erzählt hat. War in Äthiopien für die Organisation ‹Ärzte ohne Grenzen› tätig. Kürzlich hat er im Lindensaal einen Vortrag über das Land und seine Arbeit dort gehalten.»

«Ein eigenartiger Unfall. Und keine Gurten. Man muss sich fragen, ob es nicht Absicht gewesen sein könnte.»

«Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn schon, dann gäbe es doch gerade für einen Arzt andere Möglichkeiten. Oder glaubst du, er würde auf diese Art ein Leben im Rollstuhl riskieren?»

«Warum sind denn keine Spuren zu sehen? Er hat gar nicht gebremst», wandte Tobler ein.

«Wahrscheinlich ging alles zu schnell. Es braucht nur Bruchteile einer Sekunde, wenn er …»

«Kennst du die Frau, die da geht?», unterbrach ihn Tobler. «Sie scheint von der Unfallstelle zu kommen.»

«Ich hab sie schon gesehen.» Köchli runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen. «Genau. Im Café neben unserem Posten. Ich glaube gar, dass sie mit Doktor Angerer dort war. Eine attraktive Frau.»

«Sie muss ihn gut gekannt haben, dass sie zur Unfallstelle gekommen ist. Sollen wir sie …?»

«Nein», sagte Köchli schnell, «nicht jetzt. Warten wir mal, was die weiteren Untersuchungen der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik ergeben. Zudem steht die Besichtigung von Angerers Wohnung noch aus. Man wartet auf seinen Bruder. Soll im Tessin leben.»

«Wohin geht’s nun?», fragte Tobler.

«Zurück zum Posten. Gern würde ich mich am Arbeitsplatz des Toten umsehen, um mir ein besseres Bild von ihm zu machen. Doch das müssen die Innerrhoder übernehmen. Leider. Und für ein Rechtshilfegesuch reicht die Begründung kaum.»

«Das heisst, du schliesst Fremdverschulden nicht aus?» Und auf Köchlis Schulterzucken hin: «Denkst du wirklich, es könnte eine Manipulation vorliegen?»

«Nicht eigentlich. Trotzdem würde ich gern mehr über das Umfeld des Arztes erfahren. Ich kann ja versuchen, einen Kollegen anzuspitzen. Ich denke da an einen Sportsfreund aus Appenzell.»

«Zuletzt wird man das Ganze als Selbstunfall abhaken müssen», sagte Tobler. Mit einer Handbewegung tat er kund, dass ihm das vertiefte Interesse für den Fall fehlte.

«Für jeden Unfall gibt es einen Grund.» Köchli klang bestimmt. «Auch wenn es nur eine Unaufmerksamkeit war, irgendeine. Vielleicht wegen einer Wespe im Wagen. Wer weiss das schon?»

«Und wie will man so etwas je beweisen können?»

«Da hast du recht.»

Drei Tage vergingen, ohne dass der Fall irgendwelche Klärung erfuhr. Am Wagen, einem VW Golf, wurde kein technischer Defekt festgestellt, und im Blut des Verunglückten fanden sich keine verdächtigen Spuren. Zudem meldete Tobias Kaufmann – der Innerrhoder Kollege, den Köchli um Beistand gebeten hatte –, der Verunglückte habe keine Probleme am Arbeitsplatz gehabt. Der Chefarzt der Klinik Schönbüchel habe jegliche fachliche oder persönliche Unstimmigkeit verneint.

Dann aber folgte eine Überraschung. Was ihnen Samuel Angerer übermittelte, entbehrte nicht einer gewissen Brisanz: Eine Immobilien-AG habe den Eingang eines Briefes bestätigt, worin sein Bruder die Kündigung der Wohnung eingereicht habe. Auf den nächstmöglichen Termin. In Philipps Unterlagen habe er zudem die Bestätigung der Post für einen zweiten eingeschriebenen Brief gefunden, berichtete Samuel Angerer weiter. Dieser sei gleichzeitig abgesandt worden und an einen Doktor Rudolf Hiestand in Appenzell gerichtet gewesen.

Pirmin Köchli schluckte leer. So hiess der Chefarzt der Klinik, wie er von Tobias Kaufmann vernommen hatte. Da Köchli zudem von seinem Innerrhoder Kollegen erfahren hatte, dass Doktor Hiestand seit kurzem in Stein wohnte und demnach in seine Zuständigkeit fiel, fühlte er sich geradezu zur Detektivarbeit gedrängt. Was lag näher, als dass es sich auch bei jenem Brief um eine Kündigung handelte? Köchli lächelte bei dem Gedanken, wie er das Gespräch mit dem Arzt beginnen würde, ohne zu einer Lüge Zuflucht suchen zu müssen. Es bliebe diesem nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Und sollte Köchlis Vermutung zutreffen, hätte Hiestand auch zu erklären, weshalb er Kaufmann gegenüber Angerers Kündigung verschwiegen hatte.

Zur vereinbarten Zeit – es war früher Nachmittag – läutete Wachtmeister Köchli an der Tür des Einfamilienhauses in Stein. Offensichtlich war es gerade erst fertiggestellt worden, die Gartenarbeiten waren noch im Gang. Drinnen begann ein Hund zu bellen, und kurz darauf öffnete Frau Hiestand die Tür, begrüsste Köchli und liess ihn eintreten. Dabei hielt sie den heftig wedelnden Tibet Terrier – Köchli hielt ihn für einen Mischling – am Halsband zurück. Gewiss der Einzige, der hier Freude über mein Kommen zeigt, ging es dem Wachtmeister durch den Kopf. Einen Moment später trat der Hausherr hinzu. Doktor Hiestand, eher kleingewachsen, mit Stirnglatze und Brille – Köchli schätzte ihn auf fünfzig –, bat den Polizeibeamten ins Zimmer, aus dem er gerade gekommen war. Die Bücherwand wies es als Arbeitsraum aus.

«Bring uns doch bitte einen Kaffee», sagte er zu seiner Frau. Und zu Köchli gewandt: «Sie nehmen doch auch einen?»

«Gern.»

«Kommen wir also zur Sache», begann der Arzt, nachdem er dem Gast einen Stuhl angeboten hatte. «Wie ich Sie verstehe, geht es nochmals um den Unfall von Philipp Angerer.»

«Als wir seine Wohnung durchgesehen haben, sind wir auf ein Kündigungsschreiben gestossen.» Das betretene Schweigen seines Gegenübers bestätigte Köchli in seiner Vermutung.

«So ist es.» Nach einer weiteren Pause fügte Doktor Hiestand hinzu: «Dann wissen Sie auch, dass er in dem Brief keinen Grund für die Kündigung genannt hat.»

Köchli überlegte schnell, ob er zugeben sollte, dass er den Inhalt des Briefes nicht kannte. Er verzichtete darauf. «Sie haben doch gewiss mit ihm über den Grund seines Entschlusses gesprochen?»

«Noch nicht.»

«Das wundert mich aber. Er war schliesslich …»

Ein Klopfen an der Tür liess Köchli innehalten. Frau Hiestand brachte ein Tablett mit dem Kaffee. Sie stellte es zwischen den Männern ab. «Bitte bedienen Sie sich», sagte sie zu Köchli, «hier sind Rahm und Zucker.»

Während der Polizeibeamte etwas Rahm in seinen Kaffee goss, sagte der Chefarzt: «Natürlich hatte ich vor, mit Philipp zu sprechen, doch die Gelegenheit dazu hat sich noch nicht ergeben. Und jetzt …» Hiestand zuckte die Schultern.

… ist es zu spät, vervollständigte Köchli in Gedanken den abgebrochenen Satz. «Ist etwas Bestimmtes vorgefallen, das Doktor Angerer zur Kündigung veranlasst haben könnte?»

«Nichts, das mir bekannt ist.»

Nach einer Pause, in der beide ihre Tassen zum Mund führten, sagte Köchli: «Mich erstaunt nur, dass Sie meinem Kollegen Kaufmann gegenüber diese Kündigung nicht erwähnt haben.»

«Ich kann mir keinen Zusammenhang mit dem Unfall vorstellen», entgegnete Doktor Hiestand kopfschüttelnd.

«So kennen wir also weder den Grund für seine Kündigung noch den für seinen Unfall.» Köchli sprach dies leise vor sich hin, so, als wäre es nur ein ausgesprochener Gedanke.

«Philipp Angerer soll kürzlich gesagt haben, er wäre wohl besser in Afrika geblieben. Ich musste demnach in Betracht ziehen, dass er vorhatte, dorthin zurückzukehren.»

«Den Grund für diese Bemerkung kennen Sie nicht.»

«Nein!»

«Ich verstehe, und Sie verstehen gewiss, dass ich jeder Spur nachgehe. Und dass Doktor Angerer bei dem Unfall einem Tier ausgewichen ist, wie auch schon vermutet wurde, ziehe ich erst in Betracht, wenn alle andern möglichen Ursachen ausgeschlossen sind.»

Auf der Rückfahrt machte sich Köchli Gedanken über das, was er von Doktor Hiestand erfahren hatte. Dass dieser nach der Kündigung nicht gleich mit seinem Mitarbeiter gesprochen hatte, machte ihn stutzig. Und die Vermutung, dieser könnte nach Afrika zurückkehren wollen, klang für ihn doch zu sehr nach Ausrede. Beim Posten in Teufen angekommen, erhielt Köchli den Bescheid, Kollege Kaufmann aus Appenzell habe ihn gesucht und um Rückruf gebeten.

Gleich nach der Begrüssung kam Kaufmann zur Sache. «Es dürfte dich interessieren, was ich gerade von meiner Nichte erfahren habe. Pia macht eine Ausbildung zur Physiotherapeutin und arbeitet zurzeit in der Klinik Schönbüchel.»

«Oh! Insiderwissen kann immer nützlich sein.» Köchlis Interesse war nicht zu überhören.

«Sie hat mich angerufen, nachdem sie, zufällig, wie sie sagt, von meinem Besuch gehört hat. Und nach einer Bemerkung der Chefsekretärin wusste sie auch, in welcher Angelegenheit ich dort war.»

«Ich höre.»

«Pia hat mir mitgeteilt, es gebe seit kurzem ein Gerücht, das Doktor Angerer betrifft. Er soll sich der Krankengymnastin gegenüber ungebührlich verhalten haben. Nach Pia sind die beiden zuvor freundschaftlich miteinander umgegangen, auch privat. Sie selbst habe sie einmal zusammen in einem asiatischen Lokal in St. Gallen gesehen, wo sie sich offensichtlich sehr gut unterhalten hätten.»

«Weisst du, wie diese Frau heisst?»

«Moment», sagte Kaufmann. «Ich habe mir den Namen notiert.» Und nach einigen Augenblicken: «Da. Ich hab’s: Anina Wagner.»

Köchli wiederholte den Namen leise, während er ihn notierte.

«Sie soll zwei Wochen in der Toskana zugebracht haben. Auf Einladung eines reichen Patienten, wie gemunkelt wird, der dort eine Villa besitzt. Nach ihrer Rückkehr sei sie Doktor Angerer ausgewichen, ja, sie habe ihn kaum mehr gegrüsst. Und daraufhin sei das erwähnte Gerücht aufgekommen.»

«Ein Gerücht nennt es Pia. Das heisst, sie selbst zweifelt an der Anschuldigung?»

«So ist es. Sie schliesst ein solches Verhalten des Arztes aus, und dabei sei sie nicht die einzige. Doktor Angerer habe sich jedem gegenüber stets zuvorkommend gezeigt. Die Art dieser Frau Wagner dagegen sei von überschwenglicher Freundlichkeit, wobei, wie Pia es sieht, viel Schauspielerei dabei sein muss, denn hintenherum töne es oft anders. Ihre Unterstellung habe den Doktor ernst werden lassen. Seine üblichen lustigen Bemerkungen seien danach ausgeblieben.»

«Das heisst nichts anderes, als dass die Atmosphäre im Haus vergiftet war», warf Köchli ein.

«Kann man wohl sagen. Auf meine Frage, ob Doktor Hiestand diese Verstimmung mitbekommen habe, meinte Pia, dass sie das annehme. Zumal er kürzlich bei der Klinikfeier keinen Grund für Angerers Abwesenheit angegeben habe. Sie fand das sonderbar.»

«Passt irgendwie ins Bild. Denn nicht nur das hat der Chefarzt verschwiegen. Seit einer Stunde weiss ich, dass er dir gegenüber auch Angerers Kündigung unerwähnt liess.»

«Was!» Erstaunen lag in Kaufmanns Ausruf. «Aha, so ist das!»

«Ja, so ist das. Er hat wohl geglaubt, dass diese Angelegenheit mit dem Tod des Kollegen vom Tisch ist.»

«Und weisst du, warum Angerer gekündigt hat?»

«Eben nicht. Doch was du gerade berichtet hast, stimmt mich nachdenklich. An der ganzen Geschichte scheint etwas faul zu sein. Warum in aller Welt verheimlicht dieser Doktor Hiestand solch klare Fakten?»

«Könnte das mit dieser Anina Wagner zu tun haben? Übrigens hat Pia gesagt, sie könne mir ein Foto von der Frau geben, falls ich es wünsche.»

«Könnte nützlich sein», meinte Köchli. «Wer weiss?»

«Du kriegst das Bild in den nächsten Tagen zugesandt. Es ist deine Sache.»

«Gewiss. Du weisst, der Todesfall bei Gais wurde inzwischen als Unfall mit unbekannter Ursache klassiert. Und es gehört nicht zu meinen Pflichten herauszufinden, was genau dahintersteckt. Doch es interessiert mich nun mal persönlich, da ich den Mann gekannt habe. Für deine Information bin ich dir jedenfalls dankbar. Ich habe keine Ahnung, ob ich der Sache damit auf die Spur komme. Sollte sich aber etwas ergeben, was über eine Vermutung hinausgeht, werde ich dich informieren. Ich würde es übrigens schätzen, wenn du unser Gespräch vertraulich behandeltest.»

«Aber klar. Übrigens, beim nächsten Fussballturnier stehe ich wieder auf der Gegenseite.»

Lächelnd ob dieser Bemerkung legte Pirmin Köchli den Hörer auf. Und während er sich einige Notizen machte, fragte er sich, ob er Kollege Tobler in die neuesten Entwicklungen einweihen sollte. Da er Zweifel an dessen Verschwiegenheit hegte, liess er es. Er wollte nicht, dass seine Ermittlungen in dieser Sache bekannt wurden.

Es war eine schlichte Feier auf dem Friedhof von Teufen. Viel mehr als zwei Dutzend Leute hatten sich nicht eingefunden. Wohl weil der Verstorbene noch nicht lange in der Gemeinde ansässig war, legte sich Köchli zurecht, der in sicherem Abstand die Menschen am Grab beobachtete. Er wollte das Aufkommen eines weiteren Gerüchts vermeiden. Der Bruder des Verstorbenen hielt gerade eine Ansprache. Einige Anwesende mochten Mitarbeitende der Privatklinik sein – er sah das Ehepaar Hiestand –, Anina Wagner befand sich, wie erwartet, nicht unter ihnen. Sie wäre Köchli aufgefallen. Er hatte inzwischen jene Aufnahme erhalten, die sie an Angerers Seite zeigte. Vermutlich aufgenommen bei einer früheren Klinikfeier, zu einer Zeit, in der sie sich sichtlich gut verstanden hatten: Die blauäugige Blondine suchte auf dem Bild unübersehbar die Nähe des Arztes.

Unter den Trauernden war auch jene Frau, die sich vor Tagen von der Unfallstelle entfernt hatte. Köchli erhoffte sich von einem Gespräch mit ihr, mehr über Philipp Angerers Wesen zu erfahren. Ein zweites Mal mit Doktor Hiestand zu sprechen, hielt er trotz dessen fragwürdigem Verhalten für zwecklos. Offensichtlich war es dem Chefarzt entgegengekommen, dass sein Kollege beabsichtigt hatte, die Klinik zu verlassen. Dieses Wissen genügte Köchli vorerst.

Am Samstagnachmittag der folgenden Woche kam es in einem Modegeschäft in der St. Galler Altstadt zu einer überraschenden Begegnung. Jene Frau, die Pirmin Köchli gern gesprochen hätte, deren Namen er aber nicht kannte, kam auf ihn zu, um nach seinem Wunsch zu fragen. Er hatte den Laden betreten, um sich nach einem Geburtstagsgeschenk für seine Frau umzuschauen. Während ihn Frau Heller – wie er auf ihrem Namensschild las – freundlich bediente und ihm nach einigen Fragen zu einem seidenen Halstuch riet, überlegte sich Köchli, wie er ihr nach dem Kauf auf zurückhaltende Weise sein Anliegen unterbreiten könnte.

«Darf ich Sie noch etwas Persönliches fragen, Frau Heller», versuchte es Köchli, als sie das Geschenk einpackte, für das er etwas mehr ausgelegt hatte als geplant.

«Wie Sie möchten», sagte Valerie Heller mit einem fragenden Lächeln.

«Sie haben Doktor Angerer gut gekannt, nicht wahr?» Köchli sah, wie die Fröhlichkeit augenblicklich aus ihrem Gesicht wich. «Ich habe Sie an der Unfallstelle gesehen.»

«Ja», sagte sie leise, «ziemlich gut.»

Pirmin Köchli tat es leid, mit seiner Frage Traurigkeit in ihre dunklen Augen gebracht zu haben. «Köchli ist mein Name. Ich bin Polizeibeamter in Teufen und hatte mit dem Unfall zu tun. Eigentlich habe ich es noch immer. Daher möchte ich gern mit Ihnen über Philipp Angerer sprechen.»

«Aber nicht hier.» Sie nahm ein weisses Taschentuch hervor – eines mit Spitzen, wie Köchli auffiel –, um die feucht gewordenen Augen abzutupfen.

«Nein, natürlich nicht. Entschuldigen Sie bitte meine direkte Frage.»

«Schon gut. Sie können mich anrufen. Ich wohne in Gais.»

«Ich danke Ihnen.» Köchli streckte ihr zum Abschied die Hand hin.

Mein Abstecher in die Stadt hat sich gelohnt, sagte sich der Polizeibeamte auf der Rückfahrt nach Teufen, und zwar in jeglicher Hinsicht. Und zum Bild, das man sich zwangsläufig von einem Menschen macht, kam die Erkenntnis, dass sich Doktor Angerer offensichtlich gern mit gutaussehenden Frauen abgegeben hatte.

Am folgenden Donnerstagmorgen traf sich Köchli mit Valerie Heller zur vereinbarten Zeit im Café beim Gaiser Bahnhof. Sie setzten sich an einen Ecktisch, um ausser Hörweite der anderen Gäste zu sein.

«Ich danke Ihnen, dass Sie bereit sind, mir Auskunft zu geben», begann Köchli das Gespräch.

«Gern, wenn ich Ihnen damit behilflich sein kann.»

Die junge Frau schien ihm gefasst. «Sie sind meine letzte Hoffnung, etwas Licht in diese unglückselige Angelegenheit zu bringen.»

«Was möchten Sie denn wissen?»

«Können Sie mir sagen, ob sich das Verhalten von Doktor Angerer in letzter Zeit verändert hat?»

«Das kann man wohl so ausdrücken. Er litt sichtlich unter dem, was sich um ihn herum abspielte.»

«Sie meinen die üble Nachrede, die, wie ich vernommen habe, von einer Klinik-Mitarbeiterin ausgegangen ist.» Auf ihr Nicken hin fragte Köchli: «Kennen Sie diese Frau Wagner?»

«Nein, nicht wirklich. Ich habe sie mal kurz mit Philipp getroffen, als sie zusammen im ‹Falken› beim Essen waren.»

«War sie seine Freundin?»

«Nicht eigentlich. Sie hätten sich einfach gut verstanden, hat mir Philipp gesagt. Sie hätten die gleichen Interessen und deshalb gelegentlich etwas zusammen unternommen. Ich weiss von Theaterbesuchen. Weiter aber ging die Freundschaft nicht. Und wie ich Philipp verstand, war es beiden recht so.»

«Konnte er sich erklären, was die Frau veranlasst hatte, plötzlich schlecht über ihn zu sprechen?»

«Nein. Philipp meinte, sie müsse ein riesengrosses Problem mit sich herumtragen. Ein Problem mit sich selbst. Und nun könnte etwas vorgefallen sein, das sie nicht mehr habe verkraften können. Weil es aber nicht ihre Art sei, je die Schuld bei sich selbst zu suchen, sagte Philipp, müsse er wohl als Sündenbock herhalten. Dafür sprechen auch Unterstellungen, die offenbar weit zurückreichen, in eine Zeit, in der alles noch in Ordnung schien.»

«Könnte das mit jenem Mann zu tun haben, der sie in die Toskana eingeladen hat?»

«Das wissen Sie also auch schon. Es war Philipps Vermutung. Genaueres aber wollte er gar nicht wissen.»

«Warum hat er nicht Klage wegen Rufschädigung eingereicht?»

«Philipp meinte, das sei sinnlos, da Aussage gegen Aussage stände. Und wie er sie kannte, gehörte Ehrlichkeit nicht gerade zu ihren Stärken.»

«Ich verstehe. Können Sie mir mehr über Doktor Angerer erzählen, über sein Wesen?»

«Er war zuvorkommend. Zu jedermann. Immer hilfsbereit.»

Als Valerie ihr Taschentuch hervornahm, das nach Köchli so gut zu ihrer eleganten Erscheinung passte, dachte er sich, dass sich so auch Angerers Einsatz in Äthiopien erklären liess.

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