Kitabı oku: «Mord in Switzerland», sayfa 3

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«Er war ein angenehmer Unterhalter», fuhr Valerie fort, nachdem sie sich eine Träne weggewischt hatte, «liebenswürdig, immer einen flotten Spruch auf den Lippen, der meist geistreich war, manchmal ironisch, aber gewiss nie verletzend. Nein, es ergibt einfach keinen Sinn, dass er dieser Frau gegenüber ausfällig geworden sein soll.»

«Sie glaubten ihm vorbehaltlos?»

«Absolut. Zudem hat diese Anina seine eindringlichen Bitten, sich doch mit ihm auszusprechen, ignoriert. Philipp ging immer von einem Missverständnis aus. Ihr Verhalten sagt doch genug aus?»

«Wie ich Sie verstehe, haben diese Vorkommnisse Doktor Angerer zu schaffen gemacht.»

«Er hat es zu überspielen versucht, doch die Folgen konnte er nur schwer ertragen. Solche Wunden heilen langsam, wenn überhaupt, weil sie immer wieder aufgerissen werden. Zumal Anina …»

«Die Folgen?», fragte Köchli, als Valerie Heller innehielt. «Heisst das, dass ihn weniger das Ende der Freundschaft mitnahm, als vielmehr die Schädigung seines Rufs?»

«Ihn bedrückte, dass sich Leute wegen dieser Anwürfe von ihm abgewendet haben, selbst Leute, mit denen er zuvor freundschaftlichen Umgang pflegte. Er schloss daraus, dass ihm diese Menschen ein solch hässliches Verhalten zutrauten. Über diese Enttäuschung kam er nur schwer hinweg.»

Köchli nickte, als wollte er sagen: Das passt ins Bild.

Als Valerie auf die Uhr schaute – sie fuhr mit der Bahn zur Arbeit –, rief Köchli nach der Bedienung. «Noch etwas», sagte er, bevor sie weggingen. «Was ich von Ihnen erfahren habe, ist für mich so etwas wie eine Bestätigung. Einiges aber wird dennoch rätselhaft bleiben.» Er dachte an die Aussagen von Doktor Hiestand oder vielmehr an das, was dieser verschwiegen hatte.

«Und was für mich bleibt», sagte Valerie beim Abschied, «ist die Überzeugung, dass Philipp einer Katze ausgewichen ist.»

Köchli schaute ihr nach, wie sie leichten Schrittes zum Bahnhof ging. In dieser Vorstellung mag ein wenig Trost stecken, sagte er sich. Wahrscheinlich aber ist es eine andere Katze, der er ausgewichen ist. Eine falsche Katze! Bei diesem Gedanken hatte er das Bild vor Augen, das er aus Appenzell erhalten hatte.

Köchli war in der folgenden Woche mit seinem Kollegen Edi Tobler unterwegs, um auf der Strecke nach Haslen einen Sachschaden aufzunehmen, als vor ihnen zwei Frauen mit Walkingstöcken die Strasse überquerten.

«Aha!», entfuhr es Köchli.

«Was ist?» Tobler schaute ihn fragend an.

«Nichts weiter», wich Köchli aus. «Ich bin nur überrascht, die Damen zusammen unterwegs zu sehen.»

«Kennst du die beiden denn?»

«Ja und nein. Ich hatte vor gewisser Zeit mit ihnen zu tun», antwortete Köchli, «in einer eher banalen Angelegenheit.»

«Immer diese verdammten Baustellen», schimpfte Tobler, als sie kurz danach vor einem Rotlicht warten mussten.

Kaum von der Arbeit zurück, rief Pirmin Köchli seinen Kollegen Kaufmann an.

«Hallo, Tobias. Ich glaube, nun den Grund zu kennen, warum Doktor Hiestand seinem Kollegen Angerer in der Klinik nicht beigestanden ist und warum er dir die Vorkommnisse in der Klinik verschwiegen hat.»

«Da bin ich aber gespannt.»

«Die Frau des Chefarztes scheint mit dieser Anina Wagner befreundet zu sein. Ich habe sie zusammen beim Walking gesehen. Was meinst du dazu?»

«Was soll ich dazu sagen?»

«Für mich schliesst sich damit ein Kreis. Ich denke mir, dass sich Doktor Hiestand in einer Zwickmühle befunden hat. Er stand vor der Entscheidung, wer in dieser unseligen Angelegenheit Täter und wer Opfer ist. Das heisst, er hatte Stellung zu nehmen für die eine oder den andern. Und so, wie es jetzt aussieht, ist er bei seinem Richterspruch unter häuslichem Einfluss gestanden.»

«Glaubst du wirklich, dass dies etwas mit dem Unfall zu tun hat?», fragte Tobias Kaufmann mit hörbarer Verwunderung.

«Ich stelle mir das so vor: Angerer ist während seiner Fahrt zur Arbeit all das, was ihm widerfahren ist, hochgekommen. Auch seine Kündigungen, die ihm nun voreilig erschienen. Gemäss der Aussage einer Frau, die ihn gut gekannt hat, war Doktor Angerer ein anständiger und empfindsamer Mensch. Die Verletzung, die ihm durch das Gerücht zugefügt wurde, hatte ihm arg zugesetzt. Während der Fahrt zur Arbeit könnte er die Situation pötzlich als unlösbar empfunden haben. Und so kam es zu einer Kurzschlussreaktion.»

«Also doch Selbstmord!»

«Nein», entgegnete Pirmin Köchli bestimmt. «Einen Selbstmord hätte Angerer gewiss anders geplant. Das muss eine spontane Aktion gewesen sein. Schon zehn Sekunden später wäre es vielleicht nicht mehr dazu gekommen. Nein! Nach allen Indizien ist das für mich im wahrsten Sinn des Wortes: ein Rufmord.»


LUZERN – CHICAGO

MITRA DEVI

Zwei Stunden vor dem ersten und letzten Mord, den Julia je in ihrem Leben begehen würde, löste sich ein Minischneebrett von einem Hausdach und landete auf ihrer scharlachroten Dauerwelle. Verärgert wischte sich Julia den Schnee vom Kopf. Hunderte dickvermummter Passanten, die sich genauso gut als Landeplatz für heimtückische Stadtlawinen angeboten hätten, stapften unbehelligt die Luzerner Hertensteinstrasse entlang durch den Matsch – doch Julia kriegte die weisse Ladung ab. Wieder einmal war sie getroffen worden. Und nur sie.

Das war ja nichts Neues. Als Gott den Inhalt der Kiste «Heimsuchungen aller Art» über die Menschheit geschüttet hatte, musste ihm über Julia die Hand ausgerutscht sein. Julia hatte sich nach ihrer öden Kindheit in eine linkische Jugendliche verwandelt, die niemandem in die Augen schauen konnte, und war bei der Schulabschlussdisco von Eberhard – klein, übergewichtig und mit einer Stupsnase, die wie eine Skischanze gen Himmel ragte – zum Tanzen aufgefordert worden. Leider hatte sie zugesagt. Sie wurden zum Gespött des Abends.

Nach einer völlig unpassenden Lehre im Mode-Versandhaus «Lindemann und Föhn», deren einziger Zweck sich darin erschöpft hatte, dem Chef das optimale Schaumhäubchen auf dem Kaffee zu präsentieren, heiratete sie kurze Zeit später. Inzwischen nannte sie eine unübersichtliche Zahl Familienmitglieder ihr eigen, die aus ihrem Mann Eberhard (der sich unterdessen Hardy rufen liess) und mehreren pubertierenden Töchtern bestand sowie einem längst überfälligen Pudel, zwei Meerschweinchen mit verdächtig dicken Bäuchen – «garantiert Männchen», hatte ihre Jüngste versichert – und einer Horde Hamster, die sich schneller vermehrte als Fruchtfliegen.

Nun war Julia Ende dreissig. Ihre Ehe mit Hardy war im Eimer, die Kinder waren missraten. Zu alledem stand sie eigentlich auf Frauen, was ihr leider erst in ihrer Hochzeitsnacht klargeworden war. Gleich nach der Trauung waren sie nach Mallorca geflogen, die Nacht sollte etwas Besonderes sein. Hardy hatte die Hotelboys beauftragt, das französische Doppelbett mit Rosenblüten zu bestreuen. Als sie nach dem opulenten Viergangmenü auf ihr Zimmer kamen, war die Bettdecke mit muffig riechenden Nelkenblättern übersät, da die Boys in der Eile keine Rosen hatten auftreiben können. Ihr Frischvermählter konnte sich nicht mehr zurückhalten und erstürmte Julia sogleich. Er warf sie aufs Bett, drang in sie ein, stöhnte eine Minute, bäumte sich kurz auf und schlief danach selig wie ein Säugling an ihrem Busen ein. Julia lag auf den welken Nelken und murmelte in die Stille, die nur durch sein Schnarchen unterbrochen wurde: «Und das soll alles sein?» Doch da war es schon zu spät. Sie wurde in dieser Nacht schwanger, verdrängte ihre Sehnsüchte nach liebevollen Frauenhänden, die sie beglückten, und hoffte, sie würde sich an Hardy gewöhnen. So ein übler Kerl war er ja gar nicht, andere schlugen ihre Gattinnen oder besuchten Prostituierte. Was das anging, hatte er immerhin seine Prinzipien.

Julia hatte ausser dem Krimilesen keine Interessen. Ihr Alltag war weder interessant noch abenteuerlich, geschweige denn verwegen. Das einzig Verwegene in ihrem Leben war die scharlachrote Dauerwelle. Und ihre Mitgliedschaft bei der Al-Capone-Vereinigung natürlich. Wobei Mitgliedschaft sogar untertrieben war. Julia hatte den Verein selber gegründet und leitete ihn seit etlichen Jahren. Luzern pflegte ja mehrere Städtepartnerschaften. Unter anderem mit Olomouc und Cieszyn, wo immer sich diese Orte auch befinden mochten – und mit Chicago. Was für Julia etwas ganz Besonderes bedeutete, denn es war die Stadt des legendären Gangsters Al Capone. Schon als Kind hatte sie ihn bewundert, verkörperte er doch all das, was sie in ihrem Leben vermisste. Als Luzern 1999 die Partnerschaft mit der amerikanischen Grossstadt einging, hatte Julia zum erstenmal Initiative gezeigt und die Al-Capone-Vereinigung ins Leben gerufen. Sobald sich das 100. Mitglied anmeldete – so nahm sie sich vor –, würde sie eine Jubiläumsreise nach Chicago organisieren. Als Erstes würde sie die bekannte «Al-Capone-Bar» mit ihren Live-Jazzkonzerten in der South Michigan Avenue besuchen und sich einen Brandy hinter die Binde kippen.

Die Realität sah anders aus. Ausser ihr gab es noch ein einziges Mitglied, eine ältere Dame aus Emmen, die bei jeder Unstimmigkeit mit dem Austritt drohte. Bis jetzt warteten sie vergeblich auf Neuanmeldungen, doch Julia verschickte tapfer ihren Newsletter, aktualisierte die Webseite und plante regelmässig Veranstaltungen, die sie jeweils kurz vor dem Termin mangels Anmeldungen annullierte. Neulich hatte sie einen Imitations-Fotowettbewerb online geschaltet: Wem es gelänge, Al Capone glaubhaft darzustellen, dem winke ein gerahmtes Poster des Unterweltkönigs. Es hatte sich niemand gemeldet.

Anderthalb Stunden vor dem Mord kaufte sich Julia eine grosse Portion Marroni, da sie heute keine Lust hatte zu kochen. Sie schlenderte durch die Gassen, betrachtete die Auslagen der Läden mit all den Engeln, Schneemännern und Nikoläusen und bog dann in die Hirschmattstrasse ein. Es war wieder ein ätzender Arbeitstag gewesen. Ihr Job hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Der Chef kriegte zwar sein Schäumchen inzwischen selbständig auf die Reihe, doch Julias Arbeit bestand aus nichts anderem als dem Entgegennehmen von Reklamationsanrufen. Sie musste vertrösten, erklären und beschwichtigen. Das beige Deux-Pièce «Abendblüte» sei zu bieder, hatte heute eine Anruferin gemeint, der anthrazitfarbene Hosenanzug «Frau von heute» hänge zu schlaff um die Taille, behauptete eine andere, und das kleine Schwarze, schimpfte ein Mann, sei nicht klein genug. Was erwarteten die Leute denn von einem Versandhaus, das mit dem Slogan warb: «Lindemann und Föhn – altbewährt ist schön»?

Ein kalter Windstoss fegte durchs Quartier. In zwei Tagen war Weihnachten. Da sie von Hardy nichts erwarten konnte, von dem er nicht selber profitierte, wie einem doppelstöckigen Dampfkochtopf mit herausnehmbarem Abtropfsieb oder einem Jahresabo der Zeitschrift «Angeln heute», betrat sie die Buchhandlung «Hirschmatt», um sich selbst zu beschenken. Sie entdeckte den neuesten Alder-Olsen-Krimi und kaufte ihn kurzerhand. Dann stapfte sie weiter, immer darauf bedacht, herabstürzenden Schneebrettern auszuweichen. Sie kam am «Big Point Tattoo Shop» vorbei, aus dem gerade eine junge Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht trat und sich die Schulter hielt. Julia fragte sich, womit die Frischtätowierte ihren Körper geschmückt hatte. Maori-Muster? Ein Einhorn? Kevin forever? Zu Beginn ihrer Ehe hatte Hardy tatsächlich ein Herz mit Julias Namen auf seinen Unterarm stechen lassen wollen. Doch Julia hatte ihn mit den Worten «und was, wenn wir uns einmal trennen?» davon abgehalten. «Wir trennen uns nie, mein Schatz», hatte er geantwortet. «Wir sind füreinander geschaffen.» Von wegen. Julia guckte sich immer wieder seufzend nach schönen Frauen um. Und Hardy auch. Peinlicherweise hatten sie den gleichen Geschmack. Beide fuhren auf grosse Dunkelhaarige ab.

Eine Stunde vor dem Mord kam Julia zu Hause an. Herkules, ihr Pudel, empfing sie mit halbherzigem Wedeln. Er war der Inbegriff von Faulheit. Wenn sie mit ihm Gassi ging, war er zu bequem, sein Bein zu heben, und bepinkelte sich regelmässig selbst. Jetzt schaute er sie unter seinen schlaffen Augenlidern an, befand sie für zu wenig unterhaltsam und trottete wieder davon. Hardy war mit seinen Kollegen beim Kegeln wie jeden Freitagabend. Die drei Töchter pflegten ihre obligate Freizeitbeschäftigung – Kiffen, Chillen und Wodka Lemon trinken im Kreise ihrer gepiercten, chattenden und twitternden Freundinnen. Nein, die Erziehung war Julia nicht geglückt.

Eine halbe Stunde vor dem Mord klingelte das Telefon. Herkules, der sich zu ihren Füssen niedergelassen hatte, hob kurz die Ohren, dann döste er wieder weg. Julia stellte ihren Tee neben den Adventskranz aufs Glastischchen und nahm den Anruf entgegen. Eine fremde Stimme meldete sich. Sie klang heiser, als wollte der Sprecher – es handelte sich um einen Mann mit unangenehm starkem Zürcher Dialekt – entweder nicht erkannt werden oder als hätte er seine letzten Abende in einer rauchgeschwängerten Bar verbracht. Sofern es solche noch gab.

«Hören Sie mir überhaupt zu?», krächzte der andere. «Ich habe Sie gefragt, ob Sie Julia Brenner sind!»

«Entschuldigen Sie», stammelte Julia. «Ich dachte gerade an rauchgeschwängerte Bars.»

«Wie bitte? Verdammt, sind Sie Julia Brenner oder nicht?»

«Ja, die bin ich. Mit wem spreche ich?» Die Unhöflichkeit des Mannes ging ihr gehörig auf den Keks.

«Sie haben etwas, das mir gehört», fuhr der andere fort.

«Ich wüsste nicht, was das sein sollte. Ich kenne Sie ja gar nicht.»

Eine Sekunde lang herrschte Stille. Dann fragte der andere: «Sind Sie allein zu Hause?»

«Was geht Sie das an! Ich lege jetzt auf. Übrigens ist mein Mann da. Und zwei seiner Freunde. Nein, drei.»

Ein fieses Kichern erklang aus dem Hörer. «Natürlich. Warum nicht gleich ein Dutzend.»

In diesem Moment schellte die Türglocke.

Herkules zeigte kein Anzeichen von Interesse, schnarchte zufrieden vor sich hin und sabberte auf seine Pfoten.

«Hören Sie das?», flötete Julia triumphierend in den Hörer. «Es läutet. Da kommt noch ein weiterer Freund meines Mannes zu Besuch. Adieu.»

Sie legte auf und marschierte durchs Wohnzimmer. So was Seltsames! Was hatte der Typ bloss gewollt? Sollte das ein Scherz sein? Vielleicht wurde das ganze Gespräch demnächst in einer dieser Sendungen mit versteckter Kamera ausgestrahlt. Hatte sie sich lächerlich gemacht? Sie überlegte eine Sekunde, während sie zur Tür ging. Nein, sie konnte sich nichts vorwerfen. Sie war sogar aussergewöhnlich erfinderisch gewesen. Die Nation hatte keinen Grund, über sie zu lachen. Sie drehte den Schlüssel und drückte die Klinke hinunter.

Da knallte die Tür gegen ihren Kopf. Julia prallte zurück.

«He! Was soll das?», rief sie, während sie sich an der Wand abstützte.

Ein Mann drang ein. Dichter Vollbart, dunkle Brille, Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. «Hallo, Schätzchen», feixte er. «Sie haben was, das mir gehört.» Zürcher Dialekt, etwas heiser. Wie konnte sie nur so dumm sein! Das war kein billiger Kamera-Trick, das war bitterer Ernst.

Er kickte die Tür mit dem Fuss ins Schloss, sperrte ab und steckte den Schlüssel ein. Bevor sie reagieren konnte, legte er den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: «Keinen Mucks, sonst muss ich die hier gebrauchen.» Er tippte auf die Pistole, die in seinem Gürtel steckte.

Julia erstarrte vor Schreck.

Dann entspannten sich ihre Nerven. Aber natürlich – der Mann hatte ihre Online-Ausschreibung gesehen und bewarb sich für den Al-Capone-Fotowettbewerb. Allerdings schien er die Bedingungen nicht genau gelesen zu haben. Von Einbruch war nie die Rede gewesen. Auch entsprach seine Aufmachung nicht ganz derjenigen des echten Gangsters.

«Mit diesem Outfit», sagte sie, «gewinnen Sie nie.»

Zügig durchpflügte er den Eingangsbereich, ging zum Telefon und durchtrennte das Kabel. Er stieg über Herkules, der im Tiefschlaf dümmlich vor sich hinzuckte, dann sagte er: «Her mit dem Handy!»

Offensichtlich hatte sie sich geirrt. Es ging nicht um den Wettbewerb. «Ich habe kein Handy.»

«Los, rücken Sie’s raus! Ich tu Ihnen nichts, wenn Sie die Klappe halten und mich in Ruhe arbeiten lassen.»

Widerwillig übergab sie ihm ihr Mobiltelefon.

Dann drängte er sie ins Schlafzimmer.

«Aber …!», rief sie. «Was suchen Sie überhaupt? Wir haben keine Wertsachen im Haus.»

Er schob sie zum Bett. «Es wird nicht lange dauern.»

«Ich verstehe nicht.»

«Das brauchen Sie auch nicht.» Er verschloss das Schlafzimmer und liess den Schlüssel ebenfalls in seiner Hose verschwinden. Mit einer raschen Bewegung zog er ein Paar Handschellen hervor, schnappte sich ihr rechtes Handgelenk und kettete sie schneller ans Bettgestell, als sie «Pfoten weg, Sie Unhold!» sagen konnte.

Sie rüttelte an der Handschelle und schaute ihn vorwurfsvoll an. «Lassen Sie mich sofort wieder frei!» Als er keine Anstalten machte, liess sie sich entnervt auf die Matratze fallen.

«Wenn Sie schreien», knurrte er, «blas ich Ihnen das Gehirn aus dem Kopf. Obwohl das nicht allzu gross sein dürfte. Haben Sie kapiert?»

Sie nickte beleidigt.

Dann riss der Mann die Tür des Einbauschranks auf. Hardys gebügelte Hemden kamen zum Vorschein, alle in Weiss. Daneben seine Anzüge, graue, dunkelblaue und schwarze. Besonders experimentierfreudig war er noch nie gewesen, was Farben betraf. Auch sonst nicht. Er hatte keine Hobbies – ausser Kegeln und einmal im Jahr Angeln am Ägerisee –, keine Leidenschaften, geschweige denn Charaktertiefe, die zu erkunden sich lohnte. Wenn sie ihm heute abend erzählte, was sie erlebt hatte, würde ihn womöglich eine Herzattacke dahinraffen.

Julia starrte auf den Eindringling, der die Anzüge auf der Stange zur Seite schob. «Falls Sie ein Fetischist sind», sagte sie, «meine Kleider sind nebenan. Möchten Sie lieber BHs oder Höschen?» Vielleicht konnte sie ihn mit ein paar alten Fetzen abspeisen, so dass er wieder abhaute, ohne sie weiter zu belästigen.

«Behalten Sie Ihren Kram», nuschelte er in seinen Bart, während er die hintere Wand des Schrankes abklopfte. Er nahm einen Schraubenzieher aus seiner Jackentasche und begann, die Rückwand zu lösen.

Julia wunderte sich über gar nichts mehr.

Er drehte an den Schrauben herum, fluchte, als er abrutschte, dann warf er die erste in hohem Bogen hinter sich. Die zweite und die dritte folgten, die Rückwand wurde instabil, weitere Schrauben flogen auf den Teppich. Dann war er fertig. Er packte die Schrankrückwand, zerrte sie an Hardys Kleidern vorbei und stellte sie ans Fenster.

Neugierig guckte Julia in die Öffnung. Es war kohlschwarz dahinter. Staubfusseln stoben heraus, es roch nach Gips und Mörtel.

Der Mann hustete und beugte sich ins Innere. Er zündete eine Taschenlampe an und beleuchtete den Hohlraum, der sich hinter dem Schrank aufgetan hatte.

Julia lugte über seinen Kopf, konnte aber nichts erkennen. Zu gern hätte sie gewusst, was sich dort verbarg. Doch ihre aktuelle Lage liess ihr keine Bewegungsfreiheit. Der Einbrecher ging enorm selbstbewusst ans Werk; sie zweifelte keine Sekunde daran, dass er wusste, was er tat.

«Sie haben früher in dieser Wohnung gelebt?», fragte sie möglichst unverbindlich.

«Schnauze.» Seine Stimme klang gedämpft, während er irgendwo im Schein der Lampe hantierte.

«Sie haben etwas versteckt und möchten es wieder?», machte sie weiter. «Drogen? Waffen? Plutonium?»

Es rumpelte und knarrte, weitere Fusseln segelten heraus, der Mann nieste.

«Gesundheit», sagte Julia höflich.

Ein undeutliches Brummen kam zurück. Dann hievte er einen schweren Gegenstand heraus, stöhnte, als er sich den Kopf anschlug und wuchtete das Teil auf den Boden. Es war eine hölzerne Truhe voller Staub, Mauerbrocken und Mäusekötel. Er fegte den Dreck mit der Hand auf den Teppich, was Julia ein entrüstetes Schnaufen entlockte.

Doch sie wollte es nicht verderben mit ihm. «Kann ich Ihnen helfen? Möchten Sie die Kiste öffnen?»

«Lady, Sie sind mit Handschellen gefesselt. Sie werden mir bei gar nichts helfen.»

Julia lächelte ihn zuvorkommend an. «Das muss aber nicht so bleiben.»

Er verdrehte die Augen, beugte sich nochmals in den Schrank – und verschwand komplett darin. Der Hohlraum musste grösser sein als vermutet. Nun, da Julia allein im Zimmer zurückgeblieben war, rüttelte sie kräftiger am Bettpfosten und versuchte, sich zu befreien. Als das nichts nützte, erinnerte sie sich wieder an den Streit, den sie und Hardy gehabt hatten, als sie das neue Bett kauften. Sie fand das goldene Röhrengestell von Anfang an potthässlich – er bestand darauf. Natürlich war es nicht mal echtes Gold, sondern eine kitschige Nachahmung. Sie entsann sich der beiden Gewindeteile, die man hatte zusammenfügen müssen. Als gute Hausfrau wusste sie, dass alles, was ineinandergeschraubt wurde, auch wieder auseinandergedreht werden konnte. Hastig suchte sie die Rille, wo beide Teile aufeinandertrafen. Sie drückte, ruckelte und drehte. Das Verbindungsteil lockerte sich. Sie schraubte es weiter auf, bis es sich vom Hauptteil löste. Sie fuhr mit der Handschelle daran entlang – und war frei.

Etwas purzelte zu Boden. Als sie sah, was es war, riss sie die Augen auf. Mitten auf dem Teppich – soeben aus den Innereien des Bettgestells gerutscht – lag eine lange, dünne Stichwaffe. Ein Stilett.

«Nanu?», machte Julia. «Wie ist das denn hier reingekommen?»

Sie nahm die Waffe in die Hand und wendete sie hin und her. Ein schönes Stück. Der Griff war schwarz, die Klinge scharf und silbern.

Ein Fabrikationsfehler der Bettenfirma? Ein Kinderstreich ihrer Töchter? Oder etwas Schlimmeres? Sie dachte kurz an ihren Mann, dann schüttelte sie den Kopf. «Hardy und Geheimnisse? Niemals!»

Aus dem verschlossenen Zimmer konnte sie nicht flüchten. Blieb nur noch, das Fenster zur Strasse zu öffnen und laut zu schreien. Allerdings hatte der Kerl gedroht, ihr das nicht allzu grosse Hirn aus dem Kopf zu blasen. Darum liess sie das mit dem Schreien sein und machte sich daran, den Inhalt der Truhe zu erkunden.

Der Deckel war nicht verschlossen. Sie stemmte ihn hoch – und stiess einen kleinen, spitzen Schrei aus. Dicke Geldbündel lagen darin. Tausende von Euroscheinen, Dollars und englischen Pfund. Daneben zwei Pistolen, eine Schachtel Munition und etwa zwanzig Pässe und Identitätskarten, die mit einem Gummiband zusammengehalten wurden. Julia löste es und schaute sich die Ausweise an. Es waren Pässe aus Deutschland, Grossbritannien, Italien und den USA, einer stammte aus Puerto Rico, einer aus dem Libanon. Jeder lautete auf einen anderen Namen.

Und jeder zeigte das Bild ihres Mannes.

«Hardy!», entfuhr es ihr. «Was soll das?»

Aus dem Hohlraum war ein Poltern zu hören.

Schnell warf Julia die Pässe wieder in die Kiste zurück. Sie hechtete zum Bett, grabschte nach dem Stilett und hielt es hinter ihren Rücken, als sei sie noch immer ans Gestell gekettet. Der Mann kletterte ächzend aus dem Schrank. Er schleppte eine weitere Kiste heran und grinste zufrieden.

«Sind Sie fündig geworden?», fragte sie.

«Hab lange genug auf diesen Moment gewartet», antwortete er leutselig. Ein Stück seines falschen Bartes hing von seiner Wange, das rasierte Kinn kam darunter zum Vorschein. «Ihr Mann ist nicht der, für den Sie ihn halten.»

«Tatsächlich?» Sie umklammerte eisern den Griff ihrer Waffe.

«Jetzt, da ich Gewissheit habe, dass er der Abtrünnige ist, den ich gesucht habe, muss ich ihn leider aus dem Verkehr ziehen. Und Sie auch. Das verstehen Sie sicher, nicht wahr?»

«Aber selbstverständlich», pflichtete sie ihm bei. «Sie sind vom Geheimdienst?»

Er nickte anerkennend. «Wie haben Sie das erraten?»

«Ach.» Sie winkte bescheiden ab. «Hausfrauenintuition.»

«Ich tue es nicht gern, glauben Sie mir», fuhr der Agent fort. «Aber es muss sein.» Er fuhr langsam mit der Hand zum Gürtel hinunter und wollte nach der Pistole greifen.

Das war der Moment, da Julias schlummernde Amazone zum Einsatz kam. Sie schnellte hervor, warf sich auf ihn und bohrte ihm das Stilett ins Herz. Es fuhr so leicht durch seinen Körper, als wäre er aus Butter. Der Mann erstarrte, blieb mit erstaunt aufgerissenen Augen stehen. Dann zog er die Stichwaffe zwischen seinen Rippen hervor. Ein Schwall Blut strömte aus der Wunde. Das Stilett fiel ihm aus der Hand, er röchelte, seine Beine knickten ein. Sein Kopf schlug auf dem Boden auf.

Julia wartete in sicherer Entfernung. Sie betrachtete seinen Brustkorb, der sich noch ein paarmal hob und senkte, kurz darauf hatte der Spion sein Leben ausgehaucht. Genau genommen war das kein Mord, nicht mal vorsätzliche Tötung, sondern Notwehr. Eigentlich schade. Als Mörderin wäre sie Al Capone irgendwie näher gewesen. Kurzerhand deklarierte Julia ihre Tat innerlich als kaltblütigen Mord. Das fühlte sich schon viel besser an.

Nun hatte sie viel zu tun. Als Erstes suchte sie den Schlüssel zur Handschelle, die noch immer an ihrem rechten Handgelenk baumelte, fand ihn und befreite sich von dem Teil. Schwungvoll warf sie es in den Schrank. Dann öffnete sie begierig die zweite Truhe.

Akten lagen darin, unzählige handgeschriebene Papiere, Computerausdrucke und Dokumente. Julia überflog sie. Von einem Agenten «HB71» war die Rede, und je länger sie las, desto klarer wurde ihr, dass damit Hardy gemeint war. «1998, Einsatz in Libyen», erfuhr sie, dann folgten weitere Jahreszahlen und Orte wie Mogadischu, Washington und Islamabad. In den letzten Jahren schienen die Einsätze vor allem im Inland gewesen zu sein. Deshalb hatte Hardy die falschen Pässe wohl nicht mehr gebraucht, und die Kisten waren verstaubt. Die Aufträge, die ihr Mann hatte ausführen müssen, drehten sich, soweit sie die Geheimdienst-Sprache verstand, um das Ausspionieren brisanter Technologien, die Entschlüsselung geheimer Akten und das Eliminieren einflussreicher Personen.

«Eliminieren!», murmelte sie tonlos.

Als sie die Seiten weiter überflog, erregte einer der Einträge ihre besondere Aufmerksamkeit: «Regelmässige Berichterstattung freitags in der Zentrale», stand dort. Und darunter «Tarnung: Kegelabend mit Freunden».

Julia war empört. Sie hatte all die Jahre geglaubt, er sei mit seinen Kumpels im Bowlingcenter gewesen – stattdessen hatte er Mordaufträge besprochen. Das war zu viel! Ihre Töchter hielten sie für eine langweilige alte Schachtel, ihr Pudel ignorierte sie, die Hamster quietschten erschreckt auf, wenn sie sie fütterte – und nun auch noch Hardy.

Plötzlich wusste sie, was zu tun war.

Sie stopfte die Akten zurück und stapelte die Geldscheine auf dem Teppich. Wenn sie es richtig überschlagen hatte, musste es sich um mehrere Millionen in internationalen Währungen handeln. Konnte sie gut gebrauchen. Übermorgen war Heiligabend. Sie würde sich einen langgehegten Wunsch erfüllen. Mit Elan wuchtete sie die beiden Kisten zurück in den Hohlraum.

Nun kam der schwierigere Teil. Der tote Kerl. Der musste weg.

Sie packte ihn an den Füssen und zog ihn zum Schrank. Die Pistole schepperte über den Boden. Julia hatte keine Ahnung gehabt, wie schwer und sperrig so eine Leiche war. Erlebte man ja nicht alle Tage. Mit Mühe gelang es ihr, den schlaffen Körper in den Schrank zu bugsieren, ihn in den Raum dahinter zu schieben und an die Mauer zu lehnen. Sein Kopf kippte zur Seite, sein Kiefer klappte auf.

Sie griff in die Hosentasche des Toten und fischte den Schlafzimmer- und den Wohnzimmerschlüssel heraus, die der Mann dort verstaut hatte. Dann packte sie die Schrankrückwand und schraubte sie wieder an. Sie verteilte Hardys Hemden gleichmässig auf der Stange und schloss die Schranktür. Mit ihrem super saugfähigen Kaltdampf-Staubsauger «Cool’n’clean» (Hardys letztjährigem Weihnachtsgeschenk) schaffte sie es, die Blutspuren auf dem Teppich komplett zum Verschwinden zu bringen. Als Letztes wischte sie die Fingerabdrücke vom Stilett, schob es wieder ins Bettgestell und drehte dieses zusammen. In etwa drei Tagen würde es hier anfangen zu stinken. Aber das war nicht ihr Problem.

In wenigen Minuten hatte sie gepackt. Die gebündelten Geldscheine, den königsblauen Pullover, die guten Schuhe, mehr brauchte sie nicht. Dann trat sie in die kalte Winternacht.

Ein paar Tage später sass sie am Tresen der «Al Capone»-Bar in der South Michigan Avenue in Chicago. Im oberen Stock hatte sie ein Zimmer gemietet. Ein junges Quartett, bestehend aus zwei Schwarzen und zwei Weissen, spielte auf der Bühne dezente Jazzmusik. Neben dem Regal mit Dutzenden von Whisky-, Rum-, Baccardi- und anderen Flaschen hing ein Plakat von Luzern. Die Kapellbrücke war darauf zu sehen. Die klassische Ansicht, vor dem Brand. Auf dem Bild stand: «We love Lucerne – our partner city». Ein wohltuender Hauch von Wehmut erfasste Julia. Sie nippte an ihrem Brandy. Schaute sich um, lauschte der Musik. Fühlte sich rundum gut. Ja, mehr als das. Sie hatte heute die Liebe ihres Lebens gefunden.

«Tiffany», murmelte sie und schaute lächelnd auf die grosse, dunkelhaarige Schönheit, die neben ihr sass. Tiffany lächelte zurück und nannte sie «Honey». Stundenlang hatten sie sich unterhalten, über Gott und die Welt geredet, Julia in ihrem holprigen Schulenglisch, Tiffany mit einem exotischen Akzent, den Julia nicht einordnen konnte. Nun würde ihr Leben endlich die Wende nehmen, die sie sich immer erhofft hatte. Einen Moment dachte sie an die Leiche zu Hause, die wohl inzwischen vor sich hinmüffelte. Es war Zeit für ihren Anruf. Sie nahm ihr neues Prepaid-Handy und wählte die Nummer der Schweizer Polizei. Als eine Dame sich meldete, teilte sie ihr mit, man solle bitte Hardy Brenners Wandschrank unter die Lupe nehmen. Und ihn selber am besten auch. Er sei nicht ganz koscher.

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