Kitabı oku: «Mord in Switzerland», sayfa 4

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Die Musiker spielten «Take five» von Dave Brubeck. Der Lärmpegel schwoll an, es roch nach Anisschnaps, irgendwo klirrte Glas. Tiffany verschwand kurz Richtung Toilette. Julia summte die Melodie mit. Sie trank einen weiteren Schluck Brandy. Er schmeckte bitter und verheissungsvoll, genau so, wie Al Capone ihn genossen hätte. Sie war erfüllt von Glück, berauscht, ja richtig schwindlig. Das Luzern-Plakat verschwamm vor ihren Augen, wurde heller, greller. Farben entstanden, rot, orange, gleissend-gelb. Plötzlich brannte die Kapellbrücke. Die Flammen züngelten ums Holz, frassen sich in die Brücke, verschlangen sie. Die Hitze bahnte sich ihren Weg in Julias Kehle. Ihr Atem stockte.

In diesem Moment ertönte ein Piepsen. Julia tappte nach dem Handy und merkte zu spät, dass es dasjenige von Tiffany war. Der Geschmack von bitteren Mandeln im Brandy breitete sich in ihrem Gaumen aus.

Auf einmal verstand sie.

Tiffanys Akzent. Er war nicht exotisch. Er war schweizerisch. Julia würgte und starrte auf das SMS. Das Letzte, was sie sah, bevor sie mit dem Kopf an die lodernde Kapellbrücke schlug und vom Feuer verzehrt wurde, waren die Worte: «Geliebte Tiff, ist sie hinüber? Bitte eiligst mit dem Geld zurückreisen, Befehl von der Zentrale. Neuer Auftrag in Jordanien steht an. Heisse Küsse, Agent HB71, dein Hardy.»


REINFALL AM RHEINFALL

HELMUT MAIER

Der Schatten wird ihn verraten. Er weiss es, seit er die Schritte hört. Langsame Schritte. Tappende Schritte. Nachtwächterschritte. Schritte, die durch den Aufgang der Burg leise zu ihm hochhallen. Begleitet vom kaum hörbaren Klimpern eines Schlüsselbundes und vom Lichtstrahl einer Taschenlampe, der über das jahrhundertealte, speckige Kopfsteinpflaster irrt und ab und zu über die Seitenwand des spiralförmigen Aufganges huscht. Vielleicht richtet sich der Strahl auch mal nach oben, an die Decke des Ganges. Hellbrauner Stein. Oder noch weiter hoch, wenn sich der Nachtwächter misstrauisch über das Steingeländer an der Innenseite der Spirale beugt und den Strahl durch die Mitte des gewundenen Aufgangs bis zum Ende der Kurven schickt. Wer unten bei der niedrigen Holztür zum erstenmal den Kopf in den Nacken legt, glaubt, in das aufgeschnittene Gehäuse einer Schnecke zu blicken. Aufgeschnitten ohne Schnecke. Also ohne Sauerei, sauber, trocken, mit klar erkennbaren Strukturen, beinahe wie ausgepinselt. Wie es sich für die Schweiz gehört.

«Reitschnecke», hat der Munotwächter noch gesagt, als sie auf der Zinne der Burg einmal mehr angestossen hatten. Nur sie zwei. Auf einem der Mäuerchen sitzend, das jede der vier Laternen umgab. Etwas verloren sassen sie da, auf dieser weiten, runden Dachfläche, die an guten Abenden auch einer Hundertschaft von Paaren genügend Platz bietet, eine Quadrille zu tanzen und sich dabei näherzukommen. Der Blick auf die Hügel des Randen ist durch eine Mauer verdeckt, die teilweise überdacht ist und sich wie ein Ring fast vollständig um die Zinne legt. Eine Trutzburg, rundum verteidigbar, weil der ganze Kanton von Deutschland umzingelt ist, auch jetzt noch, zwei Jahre nachdem der Euro abgeschafft wurde. Und wo die Deutschen nicht sind, lauern die Zürcher. Zum Glück jenseits des Rheins, aber immer noch in Reichweite der beiden altertümlichen Kanonen, für alle Fälle.

«Reitschnecke. Der Aufgang wird Reitschnecke genannt.»

Das war vor einer kurzen Ewigkeit.

Er ist nicht einmal mehr dazu gekommen, den Munotwächter nach der Bedeutung der Reitschnecke zu fragen. Pferde werden sie hier doch nicht hochgetrieben haben, damals, als die Festung noch Festung war und als Rundbau uneinnehmbar, wollte er noch sagen. Doch dann ging alles viel zu schnell. Und schon liegt da dieser verräterische Schatten. Nicht auf der Zinne, sondern darunter, in der Kasematte. In dieser riesigen Steinkuppel, die von der Zinne überdacht wird und durch die er kopflos flüchten wollte. Kasematte. Wieder so ein Wort, das die Einheimischen mit einer Selbstverständlichkeit von sich geben, als ob jeder wissen müsste, was es bedeutet. Wieder so ein Wort, das er nicht kennt und das ihm der Munotwächter nicht mehr erklären kann, weil er nur noch Schatten wirft. Ein Wort aber, das zur Burg gehört, die sie hier Festung nennen, und zu diesem gedrungenen Gewölbe unter der Zinne mit seinen Seitenarmen, durch deren Öffnungen der Wind ins Innere bläst und seinen rasenden Atem übertönt.

Die Schritte werden leiser.

Das Scheppern des Schlüsselbundes verstummt.

Das kann nicht der Nachtwächter sein.

Es gibt nur einen Wächter hier, den Munotwächter.

Doch der macht keinen Schritt mehr.

Wer kommt hier hoch?

Und warum so langsam?

So vorsichtig?

So verhalten?

Eine Pistole in der Hand?

Er zieht Bauch und Brust ein und drückt sich in eine Nische der Reitschnecke. Er spürt die Kälte der Steinquader, in deren Fugen sich Moos aus Jahrhunderten sammelt, und sucht nach einem Fluchtweg. Der Haupteingang fällt weg. Von dort hallten die Schritte in die Kasematte. Schritte, die er im letzten Moment noch hörte und die seine Bewegungen augenblicklich einfrieren liessen, bevor er sich wieder in die Reitschnecke zurückzog. Blitzschnell. Wie die Fühler einer Schnecke. Aber nicht ohne vorher den Schatten auf dem kieskalten Boden der Kasematte bemerkt zu haben. In einem der vier Kreise, die die Oberlichter durch die meterdicke Decke des Gewölbes werfen. Wie Scheinwerferkegel. Auch jetzt, nachts, weil die Laternen auf der Zinne in der Mitte der Lichtschächte angebracht sind. Gesäumt von kleinen Mäuerchen, auf denen sie soeben noch sassen und über den Gitterrost plauderten, der in Hüfthöhe unter ihnen befestigt war. Damit niemand in die Kasematte runterfalle, hatte der Munotwächter noch gelacht, dieser rothaarige Koloss. Und jetzt liegt er selbst auf dem Rost und wirft diesen Schatten. Unübersehbar, mitten in der Scheinwerferfläche des Oberlichts.

Wie ein Teil eines Puzzles. Nur viel grösser.

Zum Glück ist alles noch dran.

Ein Rumpf, zwei Arme, zwei Beine, ein Kopf.

Eine Art Blutlache. Zwar nicht rot, sondern grau. Trotzdem unübersehbar. Der Kerl mit dem Schlüsselbund musste den Schatten bemerkt haben. Sonst wären seine Schritte nicht langsamer geworden, als er sich der Reitschnecke näherte, in der er selbst sich immer weiter nach oben verkriecht, von einer Nische in die nächste, mit einer Flasche in der Hand. Auch der Fluchtweg nach unten ist ihm jetzt versperrt. Vereitelt die Möglichkeit, zur kleinen Holztür zu gelangen, in der Hoffnung, dass sie noch offen wäre, dann schattenhaft über die Munotstiege durch den Rebberg in die Unterstadt zu huschen, an tausend Erkern vorbei durch Vordergasse, Oberstadt und Obertor in sein Quartier zu schleichen, wo er seit seiner Ankunft ein Zimmer bewohnt. Nicht viel grösser als seine ehemalige Zelle, doch weit komfortabler. Und ohne eingeritzte Namen in den Wänden.

Auch ohne seinen.

Pluto.

Sein Knastname.

Nicht nach dem Gott der Unterwelt, sondern nach dem Planeten Pluto, dem äussersten des Sonnensystems. Weil auch er sich immer am äussersten Rand bewegt und sich möglichst weit entfernt von jeder Arbeit aufhält. Auch weit entfernt von allen Menschen. Seit jeher. Arbeit liegt ihm nicht, auf Menschen hat er keine Lust. Beides ist seinem Wesen fremd. Nur versteht das niemand. Planet Pluto. Nicht der erste Übername, mit dem er aufgezogen wurde. Kinder hielten sich an kleine Reime. «Adrian – Baldrian!» war ihr Schlachtruf gewesen, nachdem ein Lehrer bei der Abschlussreinigung in einem Klassenlager geflucht hatte, dass Baldrian im Vergleich zu ihm ein Aufputschmittel sei. «Adrian – Baldrian!» hallt jetzt jeder Schritt leise die Kurven hoch. Die Flucht wird immer dringender.

In die Waffenkammer? Dann könnte er sich schlimmstenfalls mit einer Hellebarde oder einem Morgenstern verteidigen. Er rückt aus seiner Nische zur Holztür vor. Verschlossen.

Auf die Zinne?

Mit Blick auf die Laterne, unter der er soeben noch mit dem Munotwächter gesessen war? Beim zweiten Halbliter eines hier gezogenen Weins, eines Schaffhauser Blauburgunders, der besser schmeckte als gedacht. Nicht überragend, aber besser. Weniger sauer jedenfalls. Er hätte lieber ein heimisches Falkenbier getrunken. Aber Wein war unverfänglicher.

Vorsorglich hatte er sich nach der ersten Flasche noch zwei weitere besorgt und sich eine davon öffnen lassen, als er sah, dass der rundliche, aber kräftig wirkende Zinnenwirt die Holzläden seines Ausschankes schloss. Er hätte sich gerne an einen der langen Holztische auf der Zinne gesetzt, doch der Munotwächter winkte ab. Nie werde er sich an einen Tisch dieses Halsabschneiders setzen! Noch keine zwei Wochen sei der hier, und als Erstes habe ihm dieser Geizkragen gleich den Hausrabatt gestrichen. Ihm, dem Fredy Klingler! Ihm, dem Munotwächter! Nein, da setze er sich lieber zu den Laternen.

Pluto fügte sich. Die Mäuerchen, die jede der vier Laternen umringten, hatten immerhin die richtige Sitzhöhe. Die Steine waren noch warm vom sonnigen Herbsttag, auch wenn die Dämmerung schon eingesetzt hatte. Im Hintergrund ein letztes Knallen eines Holzladens, das Klirren eines Schlüsselbundes und dann die langsamen Schritte des Zinnenwirtes, der sich über die Reitschnecke auf den Heimweg in die Unterstadt machte.

«Wird Zeit, dass der geldgierige kleine Sack endlich geht», knurrte der Munotwächter. Es sei unglaublich, was sich dieser Zwerg alles herausnehme. Schon am ersten Tag habe er seine Öffnungszeiten bis 20 Uhr verlängert. Um 20 Uhr müsse aber er, der Munotwächter, die Eingänge schliessen, was nichts anderes bedeute, als dass er den Besuchern, die eben noch einen Kaffee oder halben Weissen geholt hätten, klarmachen müsse, dass sie das nicht mehr auf der Zinne trinken könnten. Was natürlich zu Reklamationen führe, aber nicht gegen den neuen Wirt, diesen feinen Herrn Winnenritz, sondern gegen ihn! Er habe ohnehin den Verdacht, dass dieser Winnenritz gegen ihn intrigiere, wo er nur könne, und ihn am liebsten weg hätte. Was ihm durchaus gelingen könnte, denn er selbst, der Munotwächter, sei auch erst seit vier Wochen im Amt, also noch in der Probezeit, und er müsse aufpassen, dass ihm kein Fehler unterlaufe. Dieser Lump von einem Wirt habe auch schon behauptet, er, der Munotwächter, habe die eine oder andere Flasche Schnaps aus dem Wirtskeller mitlaufen lassen und eines Abends die Eingänge verschlossen, wohl wissend, dass sich der Wirt noch in seinem Weinkeller neben der Kasematte befunden habe. Was barer Unsinn sei. Doch jetzt habe auch der Wirt einen Schlüssel zum Haupteingang, und er selbst habe seit heute keinen mehr zum Wirtskeller, weil dieser Halunke das Schloss habe auswechseln lassen. Was natürlich nicht sein dürfe, denn schliesslich sei er, der Munotwächter, zuständig für die Sicherheit in der ganzen Festung. Er könne sich das jedenfalls nicht weiter bieten lassen, das werde dieser Schurke schon noch sehen! Ihr Streit sei ja fast schon zum Stadtgespräch geworden. – Doch jetzt gehe er erst mal das Licht in der Reitschnecke löschen. Brauche ja keiner zu wissen, dass sie noch hier oben sässen.

Pluto hatte sich das alles anders vorgestellt. Er musterte den Turm, der die Zinne überragte und in dem der Munotwächter wohnte. Achteckig, wenn er richtig zählte. Mit Blick über den Weinberg, über die Ziegeldächer der Altstadt, über den Rhein, die Schifflände und die Rhybadi, über den Randen und über das ganze Umland. Auf der Turmspitze das Munotglöcklein, das der Munotwächter einmal am Tag läuten musste. Von Hand. Immer um neun Uhr abends. Für fünf Minuten. Der Munotwächter hatte ihm noch das Lederband gezeigt, das nach einem Unglück bei einem Blitzschlag das ursprüngliche Drahtseil ersetzte und mit dem er das Glöcklein in Bewegung brachte.

Ein Glöcklein läuten, einmal am Tag. Das wäre etwas für ihn, für Pluto. Das würde er als Arbeit aushalten. So würde er sich seine Bewährungszeit vorstellen. Und auch die Jahre danach. Nur gab es da dieses kleine Hindernis. Die Stelle war schon besetzt. Von diesem rothaarigen Koloss. Das musste geändert werden. Darum war er hier.

Der Plan war schon in der Zelle gereift. Wobei – in der Zelle war der Plan noch grün wie eine frisch gepflückte Banane gewesen. Reifen musste er unterwegs. Immerhin hatte sich während seiner Gitterjahre draussen einiges verändert. Auch die Tropfen, von denen Koller im Knast erzählt hatte, hatten sich weiterentwickelt. Umwerfende Wirkung, hatte Koller geflüstert, als er ihm gegen eine halbe Stange Zigaretten den Namen des Dealers verraten hatte. «Vollkommen geschmacksneutral und schon nach Stunden nicht mehr nachweisbar. Kannst du in jedes Getränk reinkippen. Danach kannst du mit jedem machen, was du willst! Und das Beste: Er kann sich nachher an nichts mehr erinnern. Nicht einmal mehr an den Drink.»

Das traf sich mit Plutos Absicht. Diese Tropfen brauchte er. Nur musste er sich damit noch in die Höhle des Löwen wagen. Nach Schaffhausen. Ausgerechnet in eine Stadt, deren Name schon nach Arbeit klang. Das würde zu allem hier passen. Ausser zum Munotglöcklein, das er in Zukunft selber scheppern lassen wollte.

Jeden Abend pünktlich um neun, für fünf Minuten.

Früher das Zeichen dafür, dass die Stadttore und die Kneipen geschlossen werden mussten, wie der Munotwächter lachend erklärte, als er zurückkam, sich wieder setzte und sich durch die roten Haare strich. Kneipenschluss um neun. Das wunderte Pluto nicht. Das schaffige Volk musste früh zu Bett, vor Jahrhunderten schon, denn am folgenden Tag wurde wieder am Munot gebaut, an diesem Bollwerk hoch über den Dächern der Stadt. In Fronarbeit. Kein Lohn, nur täglich eine halbe Mass Wein, ein Brot und etwas Brei. Fünfundzwanzig Jahre lang. Ein Vierteljahrhundert. So etwas geht in Fleisch und Blut über. Das wird man auch über Generationen nicht los. Noch heute hat er das Gefühl, dass sich die Stadt nach neun Uhr abends in ein kleines Dorf verwandle, in dem nur da und dort noch jemand anzutreffen ist. Am ehesten in der Nähe der Restaurants und Kneipen in der Unterstadt oder in der Fussgängerzone rund um die Vordergasse, den Fronwagplatz und die Vorstadt mit ihren schmucken Häusern, von denen jedes einen Namen trägt. «Zur goldenen Waage», «Zum roten Adler», «Zur blauen Lilie», «Zum Maulbeerbaum», «Zur Quittenstaude». Dazu Fassaden voller Erker und Malereien, da und dort mit verhaltenem Schalk gepaart. Ein Skelett, das in einem Erker steht. Oder eine versteckte Anspielung in einer Wandmalerei. In einer Freske glaubte er, Diogenes und sein Fass entdeckt zu haben. Ausgerechnet Diogenes, der grösste Nichtstuer vor dem Herrn, hatte es geschafft, sich unter dieses arbeitsame Volk zu mischen. So viel Selbstironie hätte er nicht erwartet, obwohl schon das Kantonswappen darauf hindeutet. Ein Schafbock, der das Schaffige von Schaffhausen verniedlichen soll. Doch Pluto lässt sich nicht täuschen. Ein Wolf im Schafspelz. Wie der Widder, der beim Museum zu Allerheiligen als dreidimensionales Stadtwappen aus dem Turm herausragt. Goldene Hörner, goldene Hufe und ein Gemächt mit einem goldenen Sack, der allen klarmacht: Wer sich mit diesem Bock einlässt, wird aus dem Vollen schöpfen. Die Häuser lassen auch keine Zweifel offen. Das war einst eine reiche Stadt. Aus dem Zufall geboren. Oder besser aus dem Rheinfall. Aus diesem natürlichen Hindernis, das von den Frachtschiffen auf dem Flussweg nicht zu passieren war. Die Waren mussten auf Karren umgeladen, der Rheinfall auf dem Landweg umgangen werden. Das sorgt für Arbeit, und wenn man dazu noch Zölle erhebt, auch für Reichtum, den man in Häuser voller Erker steckt. Nein, Pluto lässt sich nicht täuschen.

Auch nicht von den Schritten.

Jetzt nicht mehr.

Der Schlüsselbund ist der Schlüssel.

Es muss der Zinnenwirt sein.

Das gleiche Klimpern wie vor einer halben Stunde, als der Wirt sich angeblich auf den Heimweg machte und der Munotwächter ihn zu verwünschen begann, während Pluto den Turm musterte und dachte, dass er sich das alles anders vorgestellt habe. Der Munotwächter war ein leutseliger Mann, der ihm schon die halbe Schaffhauser Geschichte erzählt hatte und dem er eigentlich nichts antun wollte. Ausser den Job klauen. Doch dieser Job, das war nicht nur fünf Minuten Glöcklein läuten am Tag. Der Munotwächter sollte auch Führungen machen, manchmal drei am Tag, manchmal fünf, jede mindestens eine Stunde, und immer wieder das Munotlied vortragen. Er musste Besucher unterhalten, an zahllosen Abendveranstaltungen für Sauberkeit und Ordnung sorgen, bei Munotbällen, Konzerten und Freiluftkinos präsent sein und womöglich noch die Toiletten putzen. Nein, das hatte Pluto sich alles anders vorgestellt. Das waren ihm zu viel Arbeit und zu viele Menschen. Da würde er lieber an den Rand des Kantons ziehen, nach Bargen oder noch weiter hinaus, in das Niemandsland zwischen dem schweizerischen und dem deutschen Zoll, und von ein bisschen Kleinkriminalität leben. Irgendwelchen Kneipenbesucherinnen ein paar Tropfen in ihre Drinks mischen und ihnen dann die Handtasche klauen. So was in der Art. Aber Munotwächter werden? Das war mehr Arbeit, als er verkraftet hätte. Er hätte es wissen müssen. Schaffhausen. Das konnte nichts Arbeitsfreies bedeuten.

Ihm kamen Zweifel an seinem Plan. Im Knast hatte sich alles noch so einfach angefühlt. Den Munotwächter anfragen, ob er so etwas wie sein Bewährungshelfer werde, bei zwei, drei Treffen die Lage auskundschaften, bei ein paar Flaschen das Vertrauen des Munotwächters gewinnen, ihm bei günstiger Gelegenheit die Tropfen ins Getränk mischen, worauf der Munotwächter nach kurzem Schwindel in Tiefschlaf fiele, das Munotglöcklein an diesem Abend stumm bliebe und der Rothaarige zum Risikofaktor würde. Denn das könnte sich die Stadt nicht leisten, einen Abend ohne das vertraute Gebimmel, einen Munotwächter, der seine heiligste Pflicht verschläft. Schon wären Zweifel an seiner Zuverlässigkeit gesät. Der Rothaarige würde sich auch an nichts mehr erinnern, wie Koller im Knast mehrfach versichert hatte. Erinnerungslücken! Das würde seine Glaubwürdigkeit vollends untergraben. Und die Gelegenheit war günstiger, als Pluto sich erträumt hatte. Der neue Wirt hatte das Ansehen des Munotwächters schon ordentlich angekratzt. Mit etwas Glück würde der Posten schneller frei, als er gedacht hätte. Einmal am Tag das Munotglöcklein läuten. Das war der Plan. Die Zweifel liessen sich beseitigen. Für den Rest der Arbeit fände sich schon eine Lösung. Oder ein Student.

Plutos Blick war vom Turm zur Laterne geglitten, dem Laternenpfahl entlang zum Gitterrost, der etwa hüfthoch im Lichtschacht angebracht war und stabil genug schien, das Gewicht von zwei bis drei Männern zu tragen.

«Sag mal, du hast mich vor Tagen angefragt, ob ich für ein paar Wochen eine Art Bewährungshelfer werden wolle», wurde er aus seinen Gedanken gerissen. «Warum ausgerechnet ich?» Der Munotwächter streckte ihm sein leeres Glas entgegen. Die erste Flasche war ausgetrunken, Pluto schenkte ihm aus der zweiten ein. Er selbst war noch nicht so weit, aber er sollte aufholen, um Vertrauen zu schaffen, gerade weil er kein guter Gesprächspartner war. Wenigstens war er auf die Frage vorbereitet.

Ein Munotwächter sei in seinen Augen eine integre Person, und er, Pluto, wolle nicht in die falschen Hände geraten. Er stände jetzt am Wendepunkt seines Lebens und habe sich entschlossen, endlich den richtigen Weg einzuschlagen. Dazu gehöre auch ein Wohnortswechsel. Schaffhausen scheine ihm irgendwie noch unverdorben, heil und friedfertig, geeignet für einen Neuanfang. Seinen Bewährungshelfer könne er nicht mitnehmen. Er suche darum jemanden, der sich vor Ort vorübergehend um ihn kümmere, bis er wisse, ob er hier Fuss fassen könne. Eine integre Person. Eine Person wie den Munotwächter.

Der Rothaarige nahm einen Schluck, nickte nachdenklich, verzog dann das Gesicht, als ob der Wein sauer wäre, nahm noch einen Schluck, wandte sich plötzlich ab, führte die Hand erst an den Hals, dann an den Mund, als ob er erbrechen müsste, begann zu zucken, stiess das Glas um, beugte sich über das Mäuerchen in den Lichtschacht, begann, mit den Beinen zu zittern, dann zu zucken, versuchte, sich auf die Seite zu drehen, verlor das Gleichgewicht und glitt mit einem Plumps auf den Gitterrost. Er zuckte und zitterte weiter, während Pluto aufgesprungen war und versuchte, ihn aus dem Schacht zu holen. Der Koloss drehte sich im Zucken auf den Rücken, Pluto sah in weit aufgerissene Augen und auf einen schäumenden Mund, der ihm etwas entgegenstöhnte, das sich wie «Wiii …rrt … Wein … vgiftettt!» anhörte. Die Augen weiteten sich noch mehr, der Oberkörper bäumte sich heftig auf, ein heiseres Röcheln entrang sich der Kehle, und plötzlich fiel der Munotwächter leblos zurück auf den Rost, die Augen starr in den Nachthimmel gerichtet.

Pluto brauchte nicht den Bruchteil einer Sekunde, um zu begreifen, welche Katastrophe sich hier anbahnte und dass er für die Polizei der Hauptverdächtige wäre. Ein Mordfall, ein Knasti, keine Zeugen. Dazu die Tropfen, die nur Illegales ahnen liessen. Koller würde nicht dichthalten, der Dealer auch nicht. Es würde nichts nützen, wenn Pluto beteuerte, die Tropfen nicht in die Flasche geschüttet zu haben. Es würde nichts nützen, wenn er die noch unversehrte Ampulle vorwiese. Sie würden ihm nicht glauben. Der Wirt würde aussagen, dass die beiden zum Schluss allein auf der Zinne gesessen seien, mit drei Flaschen Wein, eine davon leer. Es würde nichts nützen, die Fingerabdrücke auf der zweiten Flasche abzuwischen. Sie würden es als Indiz dafür werten, dass er es getan hatte, sonst wären Fingerabdrücke auf der Flasche zu finden. Entweder von ihm, vom Wirt oder vom Wächter. Aber keine Abdrücke machten nur ihn verdächtig, keinen der beiden anderen. Sie durften die Flasche nicht finden. Nicht finden würden sie sie nur, wenn er sie mitnähme.

Ohne weiteren Blick auf das Opfer packte er die Flasche, rannte Richtung Turm, hastete über vier, fünf Stufen zum Eingang der Reitschnecke und dann Kurve um Kurve hinunter zur Kasematte, wobei er sich fiebrig eine Erklärung für die Polizei zurechtlegte. Das Gespräch sei nach der ersten Flasche beendet gewesen, er habe eine der vollen Flaschen mitgenommen und die andere dem Wächter dagelassen.

Er wollte sich gerade überlegen, wie und wo er sie dem Schein nach ausgetrunken und entsorgt hätte, damit alles glaubwürdig klänge und die Flasche nicht gefunden würde, als er die tappenden Schritte aus dem Eingang der Kasematte hörte, wie eingefroren stehenblieb, sich nach kurzem Schreck wieder in die Reitschnecke zurückzog, sich Nische um Nische nach oben drückte und realisierte, dass das Klimpern, das er zu Beginn gehört hatte, vom Schlüsselbund des Wirtes stammen musste.

Einen Herzschlag später weiss er, wie er aus dem ganzen Schlamassel herauskommt. Er schleicht die letzten paar Schritte zur Zinne hoch, stellt die Flasche um die Ecke auf den Boden, dreht sich um, schreit um Hilfe, stürzt sich erneut in die Reitschnecke, schreit weiter um Hilfe und stösst in der zweiten Kurve auf den rundlichen Wirt, der wie versteinert stehenbleibt, mit der Taschenlampe in der Hand. Pluto packt ihn an den Oberarmen, schüttelt ihn, schreit ihn an, brüllt, es sei etwas Schreckliches passiert, er müsse unbedingt helfen, er zerrt und zieht den überraschten Wirt Richtung Zinne, während er ihm zuschreit, dass der Munotwächter einen Anfall erlitten habe und in den Lichtschacht gefallen sei und dass er ihn allein nicht herausholen könne und dass sie es zu zweit sicher schaffen würden und dann Ambulanz und Spital und Notaufnahme, und das würde den Wächter sicher retten.

Er zerrt den ungläubigen Wirt die letzten Treppen hoch, stösst ihn über die Zinne, schiebt den störrischen Esel Richtung Laterne, packt die noch verschlossene dritte Flasche, während sich der Wirt über das Mäuerchen beugt, sich wieder erhebt und ohne sich umzudrehen stottert, dass da nirgendwo keiner liege, was nur ein billiges Ablenkungsmanöver sein kann, doch Pluto lässt sich nicht täuschen, holt aus und weiss, dass sich alle Probleme mit einem Schlag lösen werden. Der Streit zwischen Wirt und Wächter ist schon beinahe stadtbekannt – die Befragung wird ein Kinderspiel. Der Munotwächter und er, Pluto, hätten friedlich einen Wein getrunken, als sich der Wirt dazugesellt habe. Dann seien der Wirt und der Munotwächter aneinandergeraten, es sei immer heftiger geworden, der Wächter habe nach einem kräftigen Schluck das Gesicht verzogen und den Wein des Wirts als Fusel bezeichnet, worauf es zwischen den beiden zu einem Handgemenge gekommen sei, der Wächter sei gestrauchelt, der Wirt habe das ausgenutzt und den Wächter über die Mauer in den Lichtschacht gestossen, worauf ihm, Pluto, nichts anderes übriggeblieben sei, als dem Wirt eins überzuziehen und sich durch seine Beherztheit als künftiger Munotwächter zu empfehlen. Dass der Schlag so unglücklich ausgefallen sei, dass sich der Wirt im Fallen an der zerbrochenen Flasche auch noch den Hals aufgeschlitzt habe, sei natürlich bedauerlich, und dass der Munotwächter nicht einen Genickbruch erlitten habe, sondern vergiftet worden sei – vom Wirt vergiftet –, sei zwar schrecklich, lasse aber die Tat des Wirtes noch viel verwerflicher erscheinen, und es sei nur einer glücklichen Fügung zu verdanken, dass er, Pluto, nicht auch noch von diesem Wein getrunken habe. Das wäre dann Doppelmord gewesen, denn er habe die Flasche schon in der Hand gehabt, um sich nach diesem Schrecken einen Schluck zu gönnen. Doch genau in dem Moment hätte er sich an die Worte des Munotwächters erinnert, wonach das Glöcklein auch als Alarm geläutet werden könne, also sei er in den Turm hinaufgerannt und habe das Glöcklein wie wild geläutet, damit die Stadt und die Polizei möglichst schnell heraufeilten und ihm beiständen.

Mit all diesen Gedanken im Kopf holt er aus und will mit aller Kraft zuschlagen, als sein Herzschlag aussetzt, weil tatsächlich kein Körper mehr auf dem Gitter liegt, dafür sein Unterarm von einer eisernen Faust gepackt, herumgerissen und auf den Rücken gedreht wird. Ein Schmerz fährt in seine Schulter, ein Schlag in die Nieren zwingt ihn in die Knie, die Stimme des Munotwächters zischt ihm ins Ohr:

«Bewährungsprobe nicht bestanden, mein Lieber. Ich bin zwar ein integrer Kerl, aber ab und zu muss auch ich zur Lüge greifen, um die Wahrheit herauszufinden. Was immer ich dir über den Wirt und mich erzählt habe, war frei erfunden. Wir sind alte Bekannte. Ich habe ihn gebeten, mich heute zu ignorieren und vor neun nochmal hochzukommen, ich würde ihm dann alles erklären. Ich wollte nur testen, wo deine Schwächen liegen. Ob du mir hilfst, wenn ich hilflos auf dem Gitter liege, ob du davonrennst, oder ob du die Gelegenheit nutzt, mir den Schlüssel abzunehmen und meine Wohnung auszuräumen. Aber dass du gleich den Wirt erschlagen willst, hätte ich mir nie träumen lassen.»

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282 s. 21 illüstrasyon
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9783858826589
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