Kitabı oku: «NECROSTEAM», sayfa 3

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Ich stand da und starrte, gefangen und isoliert auf einer Insel zwischen Hier und Jetzt. Ich beobachtete und hatte zugleich das Gefühl, beobachtet zu werden, als verbargen sich in der Dunkelheit um uns her Hunderte Augen, die wissend auf uns herabsahen.

Erst, als der Schrein wie von einer Axt gespalten entzweibrach, schien mich etwas in meine Realität zurückzureißen. Benommen schüttelte ich den Kopf und kämpfte gegen den Drang an, mich einfach fallen zu lassen und lange, unendlich lange zu schlafen.

Als sich meine Wahrnehmung wieder klärte, hockte Loxley vor mir im Schnee und durchwühlte panisch die plötzlich grauschwarzen Überreste des Schreins. Er förderte zwei rundliche, schwarze Gegenstände von der Größe eines Straußeneis zutage. Kalliope wich vor ihnen zurück, als er sie ins Licht hob, machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ wortlos die Gebetsstätte.

Loxley bemerkte es nicht einmal. Er sah nur grimmig auf den zerfallenen Schrein und seine Fundstücke hinab, als seien sie eine persönliche Beleidigung seiner Ehre. Auch schien er nicht zu registrieren, wie leer sich dieser Ort plötzlich anfühlte. Das merkwürdige, wabernde Eigenleben, das ich bei unserer Ankunft so deutlich gespürt hatte, war fort. An seine Stelle war etwas getreten, dem ich zuvor schon einmal im Traum begegnet war. Mein Herz zog sich zusammen und meine Kehle schnürte sich zu, als ich es wiedererkannte. Die hungrige Leere leckte an unseren Fersen, bereit, uns zu verschlingen.

Mit einem Schrei purer, ureigenster Angst packte ich den katatonischen Loxley und zerrte ihn auf die Füße. Wir liefen, immer schneller, immer panischer, bis wir Kalliope erreichten. Mit Schrecken blickte sie uns entgegen – und dem was uns verfolgte. Ich schaute nicht zurück. Stattdessen klammerte ich mich verzweifelt an Kalliope, die meine Hand festhielt und erst anhielt, als mehrere Meilen zwischen uns und dem Schrein lagen.

An jenem Abend kauerten wir eng aneinandergedrängt an einem notdürftigen Lagerfeuer. Stundenlang versuchte Loxley die seltsamen schwarzen Steinurnen, die er gefunden hatte, zu öffnen, oder den Schriftzeichen, die sich um ihre Mitte rankten, einen Sinn abzugewinnen. Doch er war in einer Sackgasse angelangt. Da, endlich, gestand sich Loxley ein, was ich schon längst geahnt hatte. Er musste sichtlich mit sich ringen, um die Worte über die Lippen zu bringen, und als er sie schließlich äußerte, verschluckte das Heulen des arktischen Windes sie beinahe: »Wolfe, alter Freund … ich weiß nicht weiter.«

Mit einem Mal schienen alle Dämme Loxleys zu brechen. All die aufgestaute Frustration und Enttäuschung brachen sich mit ungebändigter Gewalt Bahn. Entgeistert sahen Kalliope und ich zu, wie er aufsprang, wetternd und zeternd. Auf und ab hetzend, raufte er sich die Haare, packte in seinem Zorn eine der Urnen und schleuderte sie mit aller Kraft gegen einen Felsen. Das Klirren, mit dem das Gefäß zu Bruch ging, hallte unnatürlich laut durch die plötzliche Stille. Selbst der Wind schien zu verstummen. Loxley, die Fäuste geballt und die Zähne gefletscht, starrte böse in Richtung der Scherben. Und stutzte. In diesem Moment sah ich es auch.

Ein sanftes, für das bloße Auge kaum wahrnehmbares Leuchten ging von der Stelle aus, an der die Überreste der Urne gelandet waren. Ein türkisfarbenes Glitzern hing in der Luft. Vorsichtig näherten wir uns den Bruchstücken. Wir beide kannten die Form und Farbe der Kristallpartikel, die dort langsam in die kalte Nachtluft aufstiegen.

Zum zweiten Mal an jenem Tag sah ich Loxley auf die Knie fallen. Aber diesmal schienen seine Beine aus Erleichterung, aus erlöster Glückseligkeit nachzugeben. Loxley ließ die Finger durch den Kristalldunst gleiten. Dann schaute er zu mir auf. Seine blauen Augen leuchteten, und mich beschlich der Verdacht, dass sie ein sanfter, türkiser Schimmer erhellte.

Entsetzt griff ich nach seiner Hand. Und spürte, dass mir der Mensch, mit dem ich so viel durchgestanden hatte und der mir so vertraut war, in ebenjenem Moment entglitt. Diese Reise hatte zunächst an seinem alten Selbst genagt, dann hatte sie begonnen, immer größere Stücke seines Geistes abzubeißen – und drohte nun, ihn gänzlich aufzufressen.

Doch mir blieb keine Wahl, als zu nicken und ihm zu folgen, als er mit schrillem Lachen hervorstieß: »Cambridge, Wolfe! Die Lösung lag die ganze Zeit vor unserer Nase, aber ich Tor habe es nicht erkannt! Auf nach Cambridge!«

Die Heimreise nach England verbrachten wir in bleischwerem Schweigen. Kalliope mied sowohl mich als auch Loxley. Letzterem sah sie nicht mehr in die türkisblauen Augen, seit wir die Arktis verlassen hatten. Sie fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Nähe, schien jedoch aus Treue an seiner Seite bleiben zu wollen.

Wir erreichten das letzte Ziel unserer Odyssee am Silvesterabend des Jahres 1859. Der Anblick, der sich uns bot, als die riesenhafte Masse Cambridges endlich am Horizont erschien, hat sich für immer in mein Gedächtnis gebrannt. Es war ein klarer Tag, und wir konnten weit landeinwärts blicken, dorthin, wo eine blaugrüne Kuppel aus Dunst und Rauch die Silhouette Cambridges verhüllte. Schon aus hundert Meilen Entfernung konnte man sie sehen: die Horden. Unzählige Gestalten entströmten der Stadt, doch anfangs ließ sich unmöglich erkennen, worum es sich dabei handelte.

Als wir zum Landeanflug auf Cambridge ansetzten und in den Sinkflug gingen, wurde offenbar, was es mit diesen Flüchtlingskolonnen auf sich hatte: Die Glut der untergehenden Sonne spiegelte sich feurig in zahllosen metallenen Gesichtern. Tausende und Abertausende von Automaten marschierten zügigen Schrittes die Landstraßen entlang. In alle Richtungen zogen sie aus, schneller und ausdauernder, als es ein Mensch vermocht hätte. Sie trugen nichts bei sich als die Uniformen, die ihnen ihre Meister auf die kalten Leiber hatten schneidern lassen.

Der Marsch der Uhrwerksmenschen hatte trotz seiner unerbittlichen Gleichmäßigkeit etwas Gehetztes. Verstohlen beobachtete ich, wie Kalliopes Augen den schier endlosen Zügen ihrer Brüder und Schwestern folgten, bis sie am Horizont verschwanden. Eine innere Unruhe schien sie befallen zu haben, doch wie so oft schwieg sie nur, wandte sich ab und begann, den Kurs unseres Schiffes gemäß Loxleys Anweisungen zu korrigieren.

Wir tauchten in die Dunstschwaden über Cambridge ein und stellten zu unserer Überraschung fest, dass dort vermeintlich alles seinen normalen Gang zu gehen schien. Einzig einige Fabrikarbeiter und Polizisten bemühten sich vergeblich, die eigenartige Flucht der Automaten aufzuhalten. Niemand sonst schenkte ihnen Beachtung. Ebenso wenig wie den Kristallen, die in ihrer Größe um ein Vielfaches gewachsen zu sein schienen und so hell glühten wie nie zuvor. Im widerlichen, blendenden Licht der Partikel verloren die Gebäude der Stadt jegliche Kontur und Tiefe. In meiner Wahrnehmung bestand Cambridge nur noch aus sattem Türkis und tiefstem Schwarz. Der unerschütterlichen Kalliope gelang es dennoch spielend, unser Schiff zum Lufthafen zu lenken und uns sicher zu Mutter Erde zurückzubringen.

Loxley wurde auf den letzten Metern zunehmend fahrig. Immer wieder brachen einzelne Worte aus ihm hervor, die keinerlei Sinn ergaben. Mir brach das Herz, als ich zusehen musste, wie mein genialer Freund vor meinen Augen scheinbar den Verstand verlor. Als wir auf dem Boden aufsetzten, warf er sich gegen die Außentür der Kabine, riss sie fast aus den Angeln, und stolperte mit zitternden Knien hinaus in die Silvesternacht.

Er lief in einer unmenschlichen Geschwindigkeit voran. Warum Kalliope und ich ihn nicht einfach ziehen ließen, vermag ich nicht mehr zu sagen. Vermutlich folgten wir ihm aus dem verzweifelten, hilflosen Wunsch heraus, ihn irgendwie zur Vernunft bringen zu können, wenn wir ihn nur einholten. Wie getrieben hetzte Loxley immer tiefer in das Herz der Altstadt.

Meine Lungen brannten in der kalten Abendluft, und die seltsam verzerrten Umrisse der Gebäude um mich her gaben mir das Gefühl, durch einen Albtraum zu rennen. Mauern und Laternen flogen an mir vorbei, geisterhafte Schemen in purem Türkis. Irgendwann verlor ich jedes Gefühl in meinen Beinen und kannte nur noch das blinde Vorwärts. Das Leuchten wurde heller und heller, je weiter wir in das Zentrum der Stadt vordrangen. Und dann blieb Loxley plötzlich stehen.

Vor uns erhob sich der Turm der Round Church, einer der bekanntesten und schönsten Kirchen Cambridges. Zumindest hatte ich das bis zu jenem Abend geglaubt. Als Loxley aber das Portal öffnete und in die glitzernde Helligkeit eintrat, die sich dahinter auftat, fiel mir nach all den Jahren plötzlich der wahre Name der Round Church wieder ein: Church of the Holy Sepulchre. Kirche des Heiligen Grabes.

Obwohl mein Herz in meiner Brust hämmerte, als wolle es durch meine Rippen brechen, folgte ich Loxley, Kalliope an meiner Seite. Als sie meine Hand ergriff, spürte ich die Schwingungen, die ihren so zarten und zugleich starken Körper durchliefen. Wir durchschritten das Portal, wenngleich alles in uns sich dagegen sträubte, uns anflehte, stehen zu bleiben, dem Grauen, das dort drinnen wartete, den Rücken zuzukehren.

Im Inneren der Kirche schlängelten sich Adern pulsierender, türkiser Energie durch Mauerwerk, Boden, Wände, Decke. Ein Pochen wie das tiefe, langsame Schlagen eines gewaltigen Herzens dröhnte uns in den Ohren. Es mischte sich mit einem schrillen, wahnsinnigen Keckern. Entsetzt realisierte ich, dass es von Loxley kam. Er kauerte in der Mitte des Runds aus Säulen, das der Kirche ihren Beinamen eingebracht hatte.

Dort entsprangen die gleißend hellen Lichtadern. Vor Loxley formten sie etwas, das mein einfältiger Verstand nur als eine Art runder Tür im Boden zu interpretieren vermochte. Umgeben von Schriftzeichen, die keiner irdischen Sprache angehörten, bestand sie zur Gänze aus türkisfarbenem Kristall. Wie hypnotisiert starrte ich auf das pochende, lebendige Licht im Inneren, das nicht von unserer Welt sein konnte, und spürte den Sog, der mich zu ihm hinzog. Doch Kalliopes Hand hielt mich in dieser, unserer Realität fest.

Als Loxley die Hand ausstreckte, um die übernatürliche Tür zu öffnen, entrang sich der Automatin ein hoher, klagender Schrei. Im nächsten Augenblick riss sie an meinem Arm, zerrte mich fort. Ich stemmte mich mit aller Macht dagegen. Tief in mir sehnte sich etwas danach, zu sehen, was sich hinter jener Tür verbarg. Alle anderen Teile meines betäubten Bewusstseins jedoch brüllten in Schmerz und Angst auf, und sie waren es, die mich nach heftigem Kampf schließlich Kalliopes Drängen nachgeben ließen. Ich stolperte und fiel, als sie mich mit sich zog.

Und sah gerade in dem Moment auf, in dem Loxley das Tor zu einer anderen Welt öffnete. Kalliope ließ mir nur einen Wimpernschlag, um zu sehen, was dahinter lauerte. Dieser Bruchteil einer Sekunde reichte aus, um mein Gedächtnis in zwei Teile zu zerbrechen. Einer erinnert genau jedes Detail der Schönheit und unendlichen Grausamkeit der Kreatur, die sich uns dort offenbarte. Dieser Teil aber trennte sich für immer von meinem Bewusstsein, und ich wage nicht, nach ihm zu greifen und ihn zurückzuholen.

Alles, was mir bleibt, ist das Bild der verschwommenen Schemen eines türkisfarbenen, sterngesprenkelten Nebels. Einer Galaxie, aus der Millionen glänzender, leuchtender Augen zu uns emporsahen – Funken sprühend und mit einer derartigen Gier, dass es mir den Atem nahm. Ich erinnere mich an wolkenhafte Arme, die in etwas ausliefen, das einem Skorpionstachel wohl am nächsten käme, und doch nichts mit jenen irdischen Wüstenbewohnern unserer Welt gemein hatte. Ich erinnere mich an den Schrei, mit dem ich Loxley zu warnen versuchte, und der meine Kehle schmerzen ließ. Und ich erinnere mich an den entsetzlichen Ausdruck purer Ekstase, der Loxleys Gesicht zu einer unmenschlichen Fratze verzog. Dann streckten sich die Arme dieses Gott gewordenen Sternennebels nach ihm aus und Loxley lächelte ihm verzückt entgegen. Mein Geist splitterte unter dem Druck des Grauens.

Dann riss Kalliope mich herum und schleppte mich fort.

Kalliope muss mich damals aus der einstürzenden Stadt getragen haben. Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Kabinenboden unseres Luftschiffes. Die Uhrwerksfrau stand über mir an der verglasten Front des Schiffes und starrte in die Ferne. Als ich mich mühsam aufrappelte und ihrem Blick folgte, sah ich den schwarzen Krater, der einmal Cambridge gewesen war. Auch aus der Entfernung spürte ich die hungrige Leere, die nun an seine Stelle getreten war, und die ich als die Überbleibsel eines nebulösen, kosmischen Schreckens erkannte. Dieser Schrecken, dem wir das Tor zu unserer Welt geöffnet hatten, war über die Stadt hergefallen und hatte sie restlos vernichtet – angelockt von der summenden Energie und dem blühenden Leben in den Straßen.

Wie wir später herausfanden, hatte dieses Grauen sich danach gen Westen gewandt, wo eine ebenso mächtige Stadt wartete, geboren aus Hass und kranker Ambition. Warum dieser Gott, dessen Macht über Jahre hinweg in das Fundament Cambridges gesickert war, sich mit diesen beiden Städten zufriedengab, werde ich nie verstehen. Alles, was ich damals, am Bug des Luftschiffs stehend verspürte, war eine Mischung aus tiefer Trauer und unendlicher Dankbarkeit. Mein engster Freund, mein Herr und Gefährte war mir genommen worden. Doch mir war mein Leben geblieben. Und noch mehr.

Ich warf einen letzten Blick auf den Fleck, der England für alle Zeit brandmarken sollte, und schloss Kalliope in die Arme.


Ivan Ertlov: Das Dorf der Anderen

Vorsichtig, langsam, vor allem aber lautlos schob sich die Marauder durch die dunkle, schwüle Nacht. Mit nicht einmal Vierteldampf, und damit nur einem Bruchteil der zwölftausend Pferdestärken, die die beiden Kessel auf die Schrauben bringen konnten. Ihre größten Stärken, Geschwindigkeit und Wendigkeit, konnte sie so nicht ausspielen. Dafür durchquerte sie den Luftraum leise.

Captain Fowler nickte im Zwielicht der abgedunkelten Gondel seiner ersten Offizierin stumm zu, deutete nach vorne. Der dichte Regenwald unter ihnen war erfüllt mit anderen, fremdartigen, teilweise bizarren Geräuschen.

Lieutenant Kirwashi verstand ihn auch ohne Worte. Behände warf sie sich den schweren Lederrucksack über die Schultern, klappte das Fenster auf und kletterte auf der Gondel nach vorne, bis auf den breiten Sporn mit dem aufwendig geschnitzten Narwal. Als sie sich mit beiden Beinen fest verankert hatte, schloss sie die Augen und holte tief Luft.

Der wilde, ungezähmte und teilweise noch unkartografierte Regenwald unter ihr verbreitete einen ganz speziellen, würzigen Duft, den sie gierig in ihre Lungen sog. Temperaturen und eine Luftfeuchtigkeit, die ihren europäischen Kollegen Schweißströme von Stirn und Achseln laufen ließen, kümmerten sie nicht. Dies war ihre Welt – oder zumindest eine ihrer Welten. Und im Zweifel zog sie das grüne Herz Indiens jedem britischen Schlosspark im Sommer, jedem noch so extravaganten Landsitz einer ihr nachstellenden Lordschaft vor.

Nein, der indische Subkontinent war ihr Zuhause, ihre Heimat. Aber nicht dieser Teil. Das verbotene Land hatte es ihre Großmutter genannt, unkartografiert nannten es die Eierköpfe der Royal Geographic Society, das Reich der Anderen die für indische Verhältnisse seltsam großwüchsigen, oft grotesk muskulösen Bewohner der wenigen Dörfer am Rand.

Ein Stück Land östlich von Sundarnagar, dichtes, dunkles Grün, überwucherte Ruinen aus längst vergangenen Zeitaltern. Schleichend hatte sich die Stimmung verändert, als sie den beruhigend wegweisenden Godavarai-Fluss hinter sich gelassen und Richtung Norden geflogen waren. Das Grün des Blätterdaches war dunkler, entsättigt, kränklicher geworden, die Schatten und die Dunkelheit darunter dichter, beinahe physisch spürbar.

In Jimalgatta hatten sie das letzte Mal Halt gemacht, Wasser für die Kessel, frisches Fladenbrot und die letzten Gerüchte aufgenommen. Die Blicke, die ihnen die Einheimischen zugeworfen hatten, waren eindeutig gewesen. Hass auf die Kolonialherren bei den einen, ein mitleidiges Bedauern bei den anderen, abhängig davon, wo ihre Loyalität lag. In einem waren sie sich einig: Niemand rechnete damit, die Marauder oder ihre Besatzung wiederzusehen.

Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken, trotz der drückenden, schwülen Hitze. Angespannt öffnete sie den Rucksack und enthob ihm jene Speziallampe, die sich Fowler von einem exzentrischen Erfinder in der Schweiz hatte aufschwatzen lassen.

Fünfundachtzig britische Pfund hatten sie dafür in Zürich auf den Tisch gelegt. Mehr als das Jahresgehalt eines Fabrikarbeiters – und bis heute war sie noch nie zum Einsatz gekommen, hatte noch nie bewiesen, ob sie ihren horrenden Preis wert war. Ungefähr eine Elle hoch, mit einem aufwendig gearbeiteten, handtellergroßen Reflektor, dessen Brennweite mit einer Stellschraube geregelt werden konnte. Solide Schweizer Präzisionsarbeit, keine Frage. Aber das war nicht das Besondere.

Wenn sie wirklich all das vermochte, mit dem der geschäftstüchtige Sprüngli ihrem klugen, aber manchmal zu gutgläubigen Captain das Teil aufgeschwatzt hatte, dann hielt sie nichts weniger als eine Revolution in ihren Händen.

Sorgfältig öffnete sie die Rückseite der Lampe und schraubte einen der kleinen Messingzylinder ein. Ein leises Zischen verriet, dass die Membran durchstoßen war und das Gas in die Brennkammer strömte. Neugierig drückte sie den schweren, aus Horn gedrehten Knopf an der Seite, trieb ein Gestänge im Inneren der Brennkammer an einer Feuersteinplatte vorbei …

… und schnaufte erst mal enttäuscht. Das Gas hatte sich entzündet, wie erwartet, aber es gab kein Feuer, kein Licht, keine Helligkeit – nur ein ganz schwaches Glimmen. Nichts, was der Reflektor bündeln und auf sein Ziel werfen konnte. Zumindest nichts, was der Rede wert war. Allerdings auch nichts, was man vom Boden aus sehen konnte. Gut für sie.

Schulterzuckend zog sie das schwere Teleskop heraus und schraubte den Spezialfilter darauf. Vorsichtig, um das Gewinde nicht zu verschneiden. Ohne den helfenden, leitenden Lichtschein einer echten Fernlaterne, richtete sie die Lampe so aus, als ob sie den Dschungel unter ihr beleuchten wollte. Skeptisch und neugierig zugleich holte sie noch einmal tief Luft und setzte das Teleskop ans Auge.

Ein spitzer Schrei kam über ihre Lippen, ein unwillkürlicher Schreckenslaut, den sie gerade noch nach den ersten Silben abwürgen konnte. Ein Laut, der hoffentlich in den Geräuschen des Regenwaldes unter ihr unterging. Unbewusst war sie zurückgekippt, nur vom gnadenlos klammernden Griff ihrer Schenkel um den Sporn der Marauder in Position gehalten.

Sie sah.

Sie sah, wie noch nie in ihrem Leben zuvor.

Von einem grünlichen Schimmer begleitet, durchbrach ihr Blick die Dunkelheit, bohrte sich tief in jene Schatten, die normalerweise selbst bei hellem Tageslicht undurchdringlich waren. Dort, wo der unsichtbare Strahl des Sprüngliwerfers das Dickicht traf, konnte sie gestochen scharf die Details ausmachen. Nicht nur das, alles Lebendige schien zu glühen, ein diffuses, hellgrünes Licht abzugeben.

Sie sah die leuchtenden Schemen der kleinen Zwerghirsche durch das Unterholz hüpfen, die Silhouette einer mächtigen Raubkatze ihnen geschmeidig folgend. Gelassen, ruhig, ihrer Macht bewusst. Affen schliefen in den Bäumen rechts unter ihr, etwas Langes, Astdickes schlängelte sich durch das Unterholz – nur als vager Umriss zu erkennen, da es die gleiche Strahlkraft wie die Umgebung hatte.

Langsam legte sich ihre Faszination angesichts des technischen Wunders, und sie begann, sorgfältig den Dschungel abzusuchen. Ungefähr zwölf Meilen Nordnordwest lag eine größere Lichtung mit einem Dutzend Häuser. Nicht Hütten, Häusern, offenbar aus Stein erbaut. In diesem Teil des Subkontinents so fehl am Platze, dass sie unwillkürlich die Stirn runzelte. Die Anderen waren tatsächlich anders, und ihr Reich lag unmittelbar vor der Marauder.

Im Nordosten, noch ein gutes Stück weiter entfernt, erkannte sie die Struktur eines mächtigen Bauwerks, vermutlich eines alten Palastes oder einer Tempelanlage. Eine Pyramide, das universelle Bauwerk aller alten Kulturen, jahrtausendelang überwuchert, unter dem Dschungel begraben. Von den weit ausladenden, miteinander verwobenen Baumkronen derart perfekt abgeschirmt, dass niemand ohne ihrer Spezialausrüstung sie erkennen konnte. Langsam dämmerte ihr, dass sie – abgesehen von den Anderen, natürlich – vielleicht der erste Mensch seit Jahrtausenden war, dem ein Blick auf dieses Bauwerk vergönnt war.

Oder auch nicht. Ein kleines Stück dahinter, auf einer Lichtung, die künstlichen Ursprungs sein konnte, erhob sich ein dunkles Gerippe aus dem Boden, ein angsteinflößendes Skelett. Es war jener Anblick, der jedem Luftschiffsfahrer, egal ob Leichtmatrose in der Handelsmarine oder Admiral auf einem Träger Ihrer Majestät, die Angst ins Gebein jagen konnte.

Ein ausgebrannter Zeppelin, ein wahrer Gigant, der hier seine letzte Ruhestätte gefunden hatte. Und dahinter …

… ein eisiger Schauer lief über ihren Rücken, ließ sie frösteln, die Zähne unwillkürlich aufeinanderschlagen. Es war, als revoltierte ihr Körper gegen das, was ihre Augen sahen.

Einen Schemen, einen Schatten, zu einer Form kondensiertes Nichts. Ein Umriss, größer als das Wrack, größer als der Tempel, in ständiger, fließender Bewegung, ein Schwarz in einer Umgebung, die mit ihrer Sehhilfe schwarz nicht kannte, nicht kennen durfte. Jedes Mal, wenn sie versuchte, sich auf die Silhouette zu konzentrieren, zerfloss sie, verwandelte sich und kehrte dann wieder in die Ausgangsform zurück – die eine vage Ähnlichkeit mit einem Elefantenkopf hatte.

Ein leises, sanftes Pfeifen aus der Laterne, ein kurzes Flackern vor ihren Augen – und dann nichts. Schwärze. Dunkelheit. Das Spezialgas war verbraucht, das Wunderlicht, das die Nacht durchbrochen hatte, erloschen. Langsam setzte sie das Teleskop ab und schüttelte den Kopf.

Was genau hatte sie gesehen?

Wahrscheinlich nur eine Sinnestäuschung, einen Streich, den ihr die müden Augen und die langsam versagende Lampe gespielt hatten. Genau. Das musste es sein. Auf keinen Fall durften jene Geschichten ihrer Großmutter einen wahren Kern beinhalten, die sie bis heute zu vergessen versuchte, wenn sie nächstens in ihrer Kajüte lag. Legenden aus Gondwana und Ur, Erzählungen aus der Zeit vor der Vergangenheit, Sagen über Götter, die schon alt gewesen waren, als Ganesh noch nicht erdacht worden war.

Sorgfältig verstaute sie Lampe und Fernrohr in ihrem Rucksack und kletterte zurück ins Innere der auf Sparflamme beleuchteten Kabine. Der Captain erwartete sie bereits, mit gut verborgener Erleichterung darüber, dass sie nicht in das Nichts unter ihnen gefallen war. Und mit kaum verhohlener Neugier, die er mit den beiden speziellen Gästen an Bord teilte.

»Das Teil funktioniert wirklich – ich konnte in der Nacht sehen wie am Tag, wenn nicht sogar besser! Wir haben ein Dorf vor uns, einen bis dato unentdeckten Tempel und, viel wichtiger, auch die Admiral Nelson! Etwas mehr als zwanzig Meilen von hier – vollkommen ausgebrannt.«

In seiner ruhigen, stoischen Art nickte Captain Nicolas Fowler nur kurz, aber ein verräterisches Zucken um den Mundwinkel verriet, dass ihm die Nachricht nicht gleichgültig war. Er hatte sich lediglich besser unter Kontrolle als gewisse andere.

»Bist du dir da sicher, Weib? Die Nelson ist ein Schwerer Kreuzer Ihrer Majestät! Drei Dutzend Kanonen, zwölf Raketenrohre, acht Ornithopter! Wenn sie im Kampf gegen diese Wilden wirklich runtergegangen wäre, wäre der halbe Dschungel verwüstet, wir würden …«

Sie ließ ihn nicht aussprechen. Hatte seine lüsternen Blicke, ebenso wie die herablassenden, ignoriert. Bis jetzt.

»Das heißt immer noch Lieutenant Kirwashi oder First Lieutenant, Commander. Und ja, ich bin sicher. Das Schlachtschiff ist gefallen, und der Regenwald rund um die Absturzstelle sieht reichlich unbeschädigt aus. Vielleicht können wir die Raketen sogar noch bergen.«

Der Zurechtgewiesene blinzelte einen Augenblick lang verwirrt, gefangen in jener Unsicherheit, die so viele Männer erfasste, wenn ihr tadelloses, aristokratisch britisches Englisch ihre dunkle Haut und beinahe schwarzen Augen Lügen straften.

Fähnrich zur Luft Henry Cusack, der blutjunge, schüchterne Adjutant des Offiziers, riss entsetzt die Augen auf. Zu gut kannte der den Jähzorn und die Arroganz seines Vorgesetzten, sah die Katastrophe am Horizont dämmern, wollte reagieren.

Zu spät.

Der graue Schnurrbart zitterte empört im stets etwas aufgedunsen wirkenden, von jahrelangem Ginkonsum gezeichneten Gesicht des Commanders. Man musste keine Hexe aus Siebenbürgen oder ein gesegneter Eremit sein, um seine Gedanken zu lesen. Er, der dritte Sohn des vierten Earls von Irgendwo, der einzige Adelige auf der Brücke, war in seiner Ehre gekränkt. Eine Frau, und noch dazu eine halbe Wilde, ein primitiver Mischlingsbastard, hatte es gewagt, ihm ins Wort zu fallen. Er spie seine nächsten Worte förmlich in den Raum.

»Schweig, Mätze! Das Toleranzpatent Ihrer Majestät gibt dir das Recht auf einen Platz in der Handelsflotte, aber nicht darauf, einen Vertreter der Krone zu unterbrechen. Wer glaubst du eigentlich zu sein …? «

»First Lieutenant Shiara Kirwashi, meine Erste Offizierin und wahrscheinlich der beste Kanonier, der gerade über dem Subkontinent zur Luft fährt. Hat in der zweiten Luftschlacht um London einen preußischen Kreuzer vom Himmel geholt. Als achtzehnjährige Freiwillige, als letzte Überlebende auf einem brennenden Aufklärungszepp, nur mit einem alten Siebenpfünder bewaffnet. Während Sie sicher in Birmingham in der Schreibstube saßen, Commander. Ich weiß alles über Sie, ich habe mein Briefing ernst genommen.«

Shiara blickte zur Seite, auf ihren Captain, der sich zu seiner vollen, imposanten Höhe von mehr als sechs Fuß erhoben hatte. Sie konnte und wollte sich selbst verteidigen, kam aber trotzdem nicht umhin, eine tiefe Dankbarkeit für den alten Luftbären zu empfinden. Ebenso wie für Juri, seinen Heizer und Maschinisten, der sich gerade subtil hinter seinem Captain positionierte. Und den zwei Schritt langen, mehr als zwanzig Pfund schweren Schraubenschlüssel betont entspannt auf die Schulter legte.

Captain Fowlers letzte Anmerkung versetzte dem Offizier Ihrer Majestät eine unsichtbare Ohrfeige. Überraschung und noch mehr Empörung darüber, wie frech und vorlaut diese Zivilisten mit ihm umgingen. Sicher, alle an Bord waren Veteranen des Vierfach-Krieges, aber er war noch in Dienst, Sold und Rang! Niemand konnte ihm …

»Und wenn Sie Ihr Briefing gelesen hätten, Commander, wüssten Sie, dass First Lieutenant Kirwashi die Tochter von Lord Lockerby ist.«

Ein kurzer Anflug von Panik schlich sich in die Augen des Flottenoffiziers, ein Moment des Zögerns, noch mehr Unsicherheit. Fast schien es, als ob er bereit war, sich geschlagen zu geben, es unter in den Bart gemurmelten Verwünschungen gut sein zu lassen.

Der Eindruck täuschte. Zu groß war die Wut, zu unkontrolliert sein Zorn, zu schwach seine Selbstbeherrschung. Höhnisch spuckte er aus. Nicht direkt vor die Füße des Captains oder seiner Ersten Offizierin, aber die Geste ließ keine Zweifel an ihrer Intention. Ebenso wenig wie sein abschätziger Tonfall.

»Eine uneheliche, nicht legitimierte Tochter. Was kümmert es mich, wie viele Mischlingsbastarde der alte Hurenbock irgendwo gezeugt …«

Er kam nicht weiter. Shiara verwandelte sich in einen Schemen, in eine exotisch tänzelnde Furie, deren Bewegungen so schnell waren, dass ihnen kein menschliches Auge folgen konnte. Der erste Schlag einer dunkelbraunen, nur auf den ersten Blick zierlich wirkenden Handkante traf seine rechte Niere, der zweite die linke. Grausame Schmerzen, dem Bürooffizier und Berufssohn ebenso fremd wie ehrliche Arbeit, schossen durch seinen Körper. Er wollte aufschreien, als der nächste Schlag, diesmal mit einem Handballen geführt, sein Brustbein traf.

Paralysiert.

Gelähmt.

Unfähig zu atmen, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu schreien.

Und vor allem nicht in der Lage, den letzten Schlag abzuwehren. Dieser erfolgte langsam, direkt von vorne – und mit einer ganz anderen Intention. Ein sattes Klatschen hallte in der Kabine wider, als die flache Hand Shiaras das rotgeäderte Gesicht, die feiste Wange des Commanders traf.

Eine Ohrfeige, vor aller Augen. Jeder im Raum hielt den Atem an – der Getroffene immer noch unfreiwillig. Erst nach einigen Augenblicken schaffte er es, japsend nach Luft zu ringen. Gekrümmt und keuchend trat er einen schwankenden Schritt weg von der Frau, die ihn derart gedemütigt hatte. Gerne hätte er sich wimmernd den Schmerzen hingegeben, doch seine unbändige Wut ließ ihn schwerfällig zur Waffe greifen.

Nein, er wollte nach seiner Waffe greifen. Diesmal war sein Adjutant auf der Lauer gewesen, hatte all seinen Mut zusammengenommen und verhinderte, was er kommen sah. Beschwörend hielt Cusack den Arm seines Vorgesetzten fest, schüttelte heftig den Kopf.

»Sir, die Mission. Die Mission hat immer Vorrang!«

Commander Pence atmete schwer durch, nickte widerwillig – war aber weit davon entfernt, so zu tun, als ob nichts geschehen wäre.

»Captain, ich verlange, dass Sie einen Eintrag ins Logbuch machen! Diese Wilde hier muss bestraft werden!«

Mit zitterndem Zeigefinger deutete er auf Shiara, die sich wieder in eine entspannte Position zurückgezogen hatte.

Fowler lächelte amüsiert.

»Gerne. Ich werde ins Logbuch eintragen, dass sich der Offizier der Royal Air Navy, der auf mein privates Schiff als Beobachter entsandt war, gegen jeden Anstand und jedes Standesverhalten benahm. Die Mission meines vom Gouverneur um Hilfe gebetenen Zepps dadurch gefährdete, dass er Commodore Lord Lockerby als Hurenbock bezeichnete. Jenen von der Majestät posthum als Commander in den Royal Order berufenen Kriegshelden, der bei der Ersten Luftschlacht um London als Oberbefehlshaber an der Spitze seiner Flotte sein Leben ließ.«

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