Kitabı oku: «Neue Theorien des Rechts», sayfa 10
IV. Semantische Autonomie des Rechts
Das wahrheitskonditionale Interpretationsschema taugt zur Erfassung von Normen, weil es nicht mit dem weitergehenden Anspruch verbunden ist, für das Verstehen eines Satzes sei das Wissen um die Methode der Ausweisung seiner Wahrheit konstitutiv. Es ist völlig unstreitig, dass Normen nicht verifizierbar sind. Das gilt aber auch für viele nicht-normative Sätze, etwa im Bereich naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die in der Rechtstheorie übliche Unterscheidung zwischen Normen und Normsätzen (Sätzen, die sich beschreibend auf die Norm beziehen[366]) hat ihre Schwäche in dem Umstand, dass wir es keinem einzigen sprachlichen Ausdruck ansehen können, ob er als Norm oder als Normsatz fungiert. Ein sprachlicher Ausdruck beliebiger Form kann – je nach den Umständen seiner Verwendung – als Norm oder als Beschreibung der Norm fungieren. Da aber die Umstände der Verwendung eines sprachlichen Ausdrucks nicht derart zum Bestandteil dieses Ausdrucks gemacht werden können, dass seine Ambiguität im Hinblick auf die Frage »Norm oder Normsatz?« beseitigt wäre, kann die Unterscheidung zwischen Norm und Normbeschreibung nicht als Einwand gegen die wahrheitskonditionale InterpretationInterpretation anerkannt werden[367]. Die Polizeibeamtin kann sagen, »§ 15a IV StVO besagt, dass Krafträder nicht abgeschleppt |94|werden dürfen«, und dann ist diese Äußerung, jedenfalls normalerweise, nicht als Beschreibung dessen gemeint, was in der Straßenverkehrsordnung steht. Umgekehrt kann die Äußerung von »Krafträder dürfen nicht abgeschleppt werden« unter den passenden Umständen sehr wohl als eine solche Beschreibung zu verstehen sein. Dass jedenfalls § 15a IV StVO wahr genau dann ist, wenn Krafträder nicht abgeschleppt werden dürfen, scheint kaum bestreitbar zu sein und bestätigt die Tauglichkeit des Rechts als Gegenstand einer Theorie der Interpretation, wie sie DavidsonDavidson, Donald vorgeschlagen hat. Nebenbei enthält die Theorie auch eine Lösung des sogenannten Jörgensen-Dilemmas, d.i. das Problem, wie Rechtsnormen im Rahmen einer Logik der Wahrheitserhaltung (sprich: im juristischem Syllogismus) funktionieren können[368]. Die Lösung ist einfach: Die Logik der Wahrheitserhaltung taugt auch als Normenlogik, weil Normen etwas in Bezug auf Wahrheit besagen[369]. Der einfache und doch rätselhafte Gedanke, dass »der Richter […] nicht sein Recht, sondern das ihm in der Rechtsordnung vorgegebene Recht an[wendet]«[370], lässt sich wohl nur über diesen Zusammenhang von Norm, Interpretation und Wahrheit verständlich machen. Er widersteht dem Versuch einer »Fundamentaldynamisierung«[371]. Recht ist nicht nur Vollzug und Entscheidung, es ist auch Notation. Daher »ist die vorbehaltslose Ineinssetzung von Recht und Justizpraxis ebenso wenig richtig, wie es die Identifizierung eines Violinkonzertes mit seiner Aufführung durch den Solisten X und das Orchester Y wäre«[372].
Die implizite Moral von DavidsonDavidson, Donalds philosophischer Methode ist ein maximal inklusives Verständnis von Kommunikation. Vorausgesetzt wird (fast) nichts. Die Interpreten-Perspektive unterläuft sogar die Voraussetzung eines menschlichen Akteurs und arbeitet mit einer kompromisslos universalistischen Anerkennungsform[373]. Damit diese Anerkennungsform als theoretisches Modell für die spezifische Verbindlichkeit rechtlicher Bindungen verwendet werden kann, bedarf es freilich weiterer begrifflicher Vorkehrungen in deren Licht Kommunikation normativ gehaltvoll wird, sich der Reziprozität von Recht und Pflicht öffnet. Damit muss die semantische Theorie nun doch pragmatisch werden. Wichtige Ansatzpunkte hierzu finden sich in der SprachphilosophieSprachphilosophie Robert BrandomBrandom, Roberts.
|95|B. Inferenz – Robert Brandom[374]
Robert BrandomBrandom, Roberts Hauptwerk »Making it Explicit«[375] trägt in der deutschen Übersetzung den Titel »Expressive Vernunft«. Während der amerikanische Titel den Vorgang betont, hebt die Übersetzung das Ziel hervor. BrandomBrandom, Robert entwirft eine Theorie des Zusammenhangs von Normativität und Sprache, in der Vernunft praktisch vollzogen sein soll. Sein Unternehmen stellt er ausdrücklich in die Tradition des amerikanischen Pragmatismus[376], den er mit den Mitteln der analytischen Philosophie fortentwickelt. Jürgen Habermas zu Folge ist BrandomBrandom, Roberts Buch »ein ähnlicher Meilenstein in der theoretischen Philosophie wie Anfang der siebziger Jahre ›A Theory of Justice‹ in der praktischen«[377].
I. Die Kompetenz zur Inferenz
BrandomBrandom, Robert fragt, was uns als Menschen eigentümlich ist und geht dabei in pragmatischer Manier davon aus, dass es dabei um Kompetenzen handelt, die unserem praktischen Handeln implizit sind. Was zeichnet unser Handeln als Menschen aus[378]? Als Antwort könnte man vorbringen, dass wir ganz zentral als »geistige Wesen« dazu fähig sind, unsere Umwelt zu klassifizieren. Doch, so wird schnell klar, verfügen selbst Gegenstände über diese Fähigkeit zur Klassifikation: etwa Eisen, das bei Feuchtigkeit rostet oder ein Thermometer, das eine Temperatur anzeigt. Auch die Fähigkeit, verbal zu klassifizieren, kommt uns nicht exklusiv zu: man kann sich einen Papagei vorstellen, der dazu abgerichtet ist, jedes Mal »rot« zu rufen, wenn er einen roten Gegenstand wahrnimmt.
Was uns hingegen wirklich auszeichnet ist BrandomBrandom, Robert zufolge die Fähigkeit zu begrifflicher Klassifikation, das heißt die Kompetenz, Verhaltensakte sinnvoll in ein Netz von anderen Verhaltensakten einordnen zu können. Dies ist eng mit der Vorstellung vom Verstehen verwandt. Denn wir verstehen einen Begriff oder Satz, wenn wir wissen, welche Rolle er im Geflecht weiterer Begriffe/Sätze einnimmt, welche Konsequenzen also aus ihm für weitere Begriffe/Sätze folgen. Die Bedeutung eines Begriffs oder Satzes ergibt sich also aus seiner Rolle, die er in |96|einer Kette von Schlussfolgerungen einnimmt. BrandomBrandom, Robert spricht daher von einer schlussfolgerungsbezogenen Theorie der Bedeutung, von inferentieller Semantik[379].
II. Die Rückführung von Semantik auf Praxis
Die inferentielle Semantik als formales Gerüst fußt, so BrandomBrandom, Robert, auf praktischer Betätigung, an der wir alle teilnehmen, nämlich der sozialen Praxis, die im Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen besteht. Der grundlegende Zug dieses Spiels liegt darin, etwas zu behaupten – es ist nämlich prinzipiell möglich, jeden Verhaltensakt als Behauptung zu rekonstruieren. Und durch das Aufstellen einer Behauptung legt sich die Sprecherin auf das Behauptete fest und berechtigt zugleich die Hörenden dazu, sie auf diese Behauptung festzulegen. Die Behauptung entfaltet somit zwei Wirkungen, sie generiert nämlich Autorisierung und Verantwortung[380]. Sie autorisiert, indem sie über die Angemessenheit bestimmter weiterer Behauptungen bestimmt. BrandomBrandom, Robert bezeichnet dies als inferentielle Rolle einer Behauptung, wobei er verschiedene Ausprägungen dieser Rolle nennt: Unterscheiden lassen sich Behauptungen, die auf weitere Behauptungen festlegen, Behauptungen, die zu weiteren Behauptungen berechtigen und Behauptungen, die bestimmte weitere Behauptungen ausschließen. Ein klassischer Anwendungsfall für die erste, festlegende Wirkung ist die Deduktion: wer sich auf s festlegt, ist, wenn aus s logisch t folgt, auch auf t festgelegt.
Neben dieser autorisierenden, vorwärts gerichteten Folge, führt eine Behauptung rückwärts gerichtet zugleich zu Verantwortung, und zwar zur Verantwortung gegebenenfalls nachzuweisen, dass man dazu berechtigt ist, die fragliche Behauptung aufzustellen[381]. Der Nachweis der Berechtigung lässt sich wiederum auf verschiedenen Arten erbringen: durch die Berufung auf die Autorität anderer, durch die Berufung auf eine (nicht weiter inferentiell-ableitbare) eigene Wahrnehmung[382] oder aber durch das Anführen weiterer – insofern berechtigender – Behauptungen.
Man mag nun argwöhnen, dass diese inferentielle Struktur offensichtlich in einen infiniten Regress mündet, sich also immer weiter begründende Behauptungen fordern ließen. BrandomBrandom, Robert reagiert hier – im Sinne des antiskeptischen |97|Arguments – mit einem Vorschuss- und Anfechtungskonzept[383] der Berechtigung: Grundsätzlich ist, sofern keine substantiierten Zweifel bestehen, von der Berechtigung auszugehen; und es kann zudem der Fall sein, dass eine Behauptung gar nicht weiter begründungsbedürftig ist – wann diese hinreichende Begründungstiefe erreicht ist, soll von den praktischen Einstellungen der Akteure abhängen.
Damit sind wir beim pragmatischen Kern von BrandomBrandom, Roberts Vorstellung, nämlich der Vermittlung und dem Zusammenspiel der praktischen Einststellungen der Praxisteilnehmer: »Kompetente sprachliche Akteure bleiben ihren eigenen Festlegungen und Berechtigungen und denen der anderen auf den Fersen«[384]. Diese auf David Lewis’ Assoziation des Sprachspiels mit dem Baseballspiels[385] zurückgehende Praxis des wechselseitig beurteilenden Handelns bezeichnet BrandomBrandom, Robert als Praxis des deontischen Kontoführensdeontische Kontoführung: die Akteure führen Buch über ihre eigenen Festlegungen und Berechtigungen und diejenigen der anderen. Eine Behauptung hat dabei nicht nur die oben beschriebenen autorisierenden und verpflichtenden Konsequenzen für das Konto des Sprechers, sondern führt auch zu entsprechenden Zuschreibungen in den Konten der Zuweisenden. Behandeln die Hörer eine Behauptung als zutreffend, so können sie noch dazu diese Behauptung »erben«[386], sind also nun selbst auf die Aussage festgelegt und unterliegen denselben Autorisierungs- und Verantwortungsfolgen.
Entscheidend dabei ist, dass die Akteure diese Zuschreibungen nicht nur gemäß vorgefundener Inferenzbeziehungen vornehmen, also das Verhalten vor dem Hintergrund existierender Normen bewerten, sondern durch ihre praktischen Einstellungen die Inferenzbeziehungen selbst als zutreffende oder unzutreffende behandeln. Akzeptieren sie nämlich eine vorgebrachte Rechtfertigung für eine Behauptung, so schreiben sie nicht nur dem Sprecher diese Behauptung als berechtigte zu, sondern billigen damit implizit die angewendete Inferenzbeziehung. Durch diesen das Geflecht der Behauptungen ordnenden Prozess übertragen sie bestimmten Begriffen/Sätzen Bedeutungsgehalt[387].
Für die Rechtstheorie lässt sich BrandomBrandom, Roberts Ansatz fruchtbar machen, indem man das Modell der deontischen Kontoführungdeontische Kontoführung mit der Vorstellung vom Recht als einer sich selbst produzierenden Praxis in Verbindung bringt (i). Daneben eröffnen sich, begreift man die deontischedeontische Kontoführung Kontoführung als Analyse unserer Lebensform, attraktive Assoziationen zu Leistung und Grenzen des Rechts sowie zum Ursprung von Normativität (ii).
|98|III. Der Praxischarakter des Rechts
Forciert man das pragmatistisch-produktive Moment der Konzeption (i)[388], so tritt die aktive Rolle der Akteure bei der Entstehung von Recht zu Tage: es sind die Akteure, die durch wechselseitige Bewertungen die Normen der Gemeinschaft schöpfen. BrandomBrandom, Roberts Idee der Praxisvorgängigkeit wirkt sich insbesondere auf die Rechtsanwendung aus: die Aussage einer Norm lässt sich – gegenläufig zur Neigung der Juristen – nicht als ein vorpraktischer Maßstab fixieren, die Annäherung an eine Norm liegt vielmehr in der von den Akteuren wechselseitig unterstellten »perspektivische[n] Form«[389]. Insofern vermag auch nicht ein Versuch des Auffindens, sondern nur der praktische Streit diejenige Kluft zu überbrücken, die zwischen der Existenz der Norm und ihrem Inhalt klafft. Dadurch bringt BrandomsBrandom, Robert Modell der deontischen Kontoführungdeontische Kontoführung nach Ralph Christensen und Michael Sokolowski die »Grundparadoxie« der Rechtstheorie zum Vorschein, indem es die Frage aufwirft, wie es möglich ist, dass wir an Normen gebunden sind, die wir im selben Akt erst instituieren. Das ParadoxParadoxie lasse sich auflösen, indem man den Praxischarakter des Rechts herausstellt, also Rechtsfindung als einen Vorgang der Suche nach der Lesart mit den besten Argumenten[390]Auslegung begreift, wobei die Maßstäbe der Suche aus einer »fortlaufende[n] Präzisierung der Selbstbeschreibung der Praxis« herrühren[391].
Besonders virulent wird diese Spannung zwischen Gebundenheit und gleichzeitiger Schöpfungskompetenz in der Tätigkeit des Rechtsprechens. Die Richterin begibt sich mit den bisher entschiedenen Fällen in eine »normative Unterhandlung«[392]. Sieht man sie ausschließlich verantwortlich gegenüber der entstandenen Tradition, die durch faktische Anwendung den Gehalt der anzuwendenden Begriffe konstituiert hat[393], so scheint die Entscheidungsgewalt – aufgrund der |99|Vielstimmigkeit der Tradition – wesentlich bei der gegenwärtig Richtenden zu liegen. Doch verkürzt diese Sicht: Denn berücksichtigt man den Fortgang, wird deutlich, dass die gegenwärtig Richtende auch deswegen gebunden ist, weil ihre Lesart »als Autorität für die Zukunft gelten will«[394]. Und diese Zuerkennung von Autorität kann nur gelingen, wenn die Performanz von künftig Richtenden wiederum als Teil der Tradition begriffen wird[395]. Die Verflochtenheit in das geschichtliche Netz von als richtig anerkannten Inferenzen schafft also Bindung, während es zugleich die produktive und souveräne Entscheidung der gegenwärtig bewertenden Praxisteilnehmerin anerkennt.
IV. Sanktionale Normativität
Wenn man anstelle des produzierenden Moments verstärkt den inferentiellen, also schlussfolgernden Aspekt in den Blick nimmt (ii), ergeben sich aus BrandomBrandom, Roberts Modell ebenfalls Impulse für die Theorie des Rechts. Denn die Vorstellung vom deontischen Kontoführendeontische Kontoführung lässt sich als Rekonstruktion unserer Lebensform interpretieren, und zwar als Praxis des wechselseitigen Auf-den-Fersen-Bleibens[396] über die von uns selbst und von anderen vollzogenen Verhaltensakte. Sämtliche Performanzen lassen sich, wie BrandomBrandom, Robert zeigt, im Modus der Behauptung reformulieren. Und diese Behauptungen stehen in einem Verhältnis der Folgerung zueinander: Aus Behauptungen folgen Berechtigungen und Verpflichtungen zu weiteren Behauptungen, umgekehrt fungieren Behauptungen auch als Begründung für andere Behauptungen. Diese folgernde, also inferentielle Verknüpfung scheint auf den ersten Blick vornehmlich formaler Natur zu sein: Etwa, wenn derjenige, der die Behauptung »Das hier ist purpurrot« tätigt, auch als ebenso auf die Behauptung »Das hier ist rot« festgelegt angesehen wird[397].
Doch BrandomBrandom, Robert, und das ist für die Rechtswissenschaft interessant, stellt heraus, dass die Schlussfolgerungsbeziehungen von den sanktionalen[398] Einstellungen der Akteure abhängen und durch sie zustande kommen. Die Akteure nehmen sanktionale Haltungen gegenüber den beobachteten Performanzen ein. Sofern sie einen Behauptungsakt als durch einen vorherigen Behauptungsakt gerechtfertigt behandeln, billigen sie dadurch implizit die zugrunde liegende |100|Schlussregel, saktionieren also den Sprecher positiv, indem sie ihm die Behauptung als gerechtfertigte zuweisen. Halten sie eine Behauptung – angesichts der vom Akteur bisher eingegangen Festlegungen – für nicht gerechtfertigt, so sanktionieren sie den Akt negativ, indem sie ihn als unzulässige Anschluss-Performanz behandeln. Und indem sie diese praktischen Beurteilungen vornehmen, also bestimmte Folgerungsbeziehungen als zutreffend behandeln, schaffen sie materiale Inferenzen[399]. Diese wechselseitige, sanktionale Struktur ist nun der Kern von BrandomBrandom, Roberts Modell von Normativität und Sprache: Es sind also die Sanktionseinstellungen der Akteure, die etablieren, welche Inferenzen als zulässig gelten und die durch die so etablierte Kontoführungspraxis normative Bindung generieren[400]. BrandomBrandom, Robert macht darauf aufmerksam, dass wir in unseren Alltagsverhalten laufend und unhinterfragt mit solchen materialen Inferenzen hantieren, und dass uns das logische Vokabular dabei helfen kann – das erklärt den Titel im Englischen: »Making it Explicit« –, die in diesen materialen Inferenzen impliziten Billigungen explizit und damit kritisierbar zu machen[401]. Projiziert man die Vorstellung auf das Recht so werden dadurch mehrere Assoziationen sichtbar.
Zum einen pointiert das Modell des deontischen Kontoführensdeontische Kontoführung radikal die Gemachtheit und Kritisierbarkeit materialer Inferenzen. Und dies betrifft insbesondere die rechtlichen Normen, denn sie sind stets materiale Inferenzen, sofern sie einen Sachverhalt mit einer Folge verknüpfen. Während die These von der Gemachtheit des Rechts – sieht man allein auf das Resultat – inzwischen womöglich weniger spektakulär ist, lässt sich aus der sanktionalen Macht, die dem einzelnen Akteur im Modell der Kontoführung zukommt, zum anderen auch das Regelungsvakuum erahnen, durch dessen Ausfüllung das Recht überhaupt zu legitimieren ist. Kann nämlich das Einnehmen und Ausführen von normativen Haltungen zu intransparenten und volatilen Inferenzstrukturen oder auch zu invasiven Bewertungs- und Begründungsanforderungen führen, so kommt dem Recht die Funktion zu, allgemeingültige materiale Inferenzen festzuzurren und den Bereich ihrer Anwendung zu begrenzen[402]. Durch das Recht wird für gewisse Handlungsfelder eine einheitliche Perspektive festgelegt, aus der sich allgemeinverbindlich beurteilt, was angemessene Inferenzen, das heißt gute Gründe, sind. Zugleich ist das Recht auch weniger invasiv, indem es nämlich einen Bereich markiert, in dem rechtlich relevante Gründe nur verlangt werden dürfen – und damit umgekehrt bestimmt, wann der Hinweis auf die generelle |101|Handlungsfreiheit weitere Begründung überflüssig macht sowie dadurch zugleich einen Bereich berechtigter Geheimsphären ermöglicht[403].
Neben dieser Leistungsbeschreibung an das Recht, lässt ein anderes Merkmal der Kontostruktur die Grenzen des Rechts erahnen: gemeint ist die erwähnte Vertrauensvorschuss- und Anfechtungsstruktur[404]. Zwar besteht nach dem Modell deontischer Kontoführungdeontische Kontoführung potentiell bei jeder Behauptung – so sie zu weiteren Inferenzen berechtigen soll – die Möglichkeit, nach einer Begründung für das Behauptete zu fragen, das heißt zur Explizierung der angewendeten Inferenzen aufzufordern. Doch stößt diese Modellannahme an Grenzen: Zum einen lässt sich theoretisch in der Art eines antiskeptischen Arguments in Frage stellen, ob das gleichzeitige Bezweifeln jeder Behauptung überhaupt möglich ist. Zum anderen ist es in der sozialen Situation schlicht praktisch unmöglich, alle materialen Inferenzen zu explizieren. Dies hat zur Konsequenz, dass gerade das Modell deontischer Kontoführungdeontische Kontoführung auf Vertrauen angewiesen ist. Für das Recht wird damit die Frage relevant, wie das Vertrauen, eine Person werde sich gemäß den ihr zugeschriebenen Festlegungen verhalten, zu operationalisieren ist[405].
Während BrandomBrandom, Roberts Modell implizit die Frage aufwirft, wann damit gerechnet werden kann, dass sich ein Akteur gemäß seiner Gebundenheit verhält, so lässt sich dem Modell der Kontoführung die Antwortmöglichkeit auf die vorgelagerte Frage entnehmen: Nämlich wie diese Gebundenheit überhaupt entsteht – die Frage nach der Begründung von Normativität. Wie wir sahen, lassen sich für die Schlussfolgerungsakte, über die wir die deontischen Konten führen, Gründe erfragen. Doch enden diese Frageketten in materialen Inferenzen, also solchen Inferenzen, die wir als akzeptierte behandeln. Doch wie ergeben sich solche materialen Inferenzen? Das interessante an BrandomBrandom, Roberts Konzeption liegt hier darin, dass ihm zufolge die ursprüngliche Ressource der Normativität in der sanktionalen Haltung gegenüber einer Performanz zu finden ist. Normative Relevanz gewinnen Verhaltensakte dadurch, dass sie Sanktionen nach sich ziehen. Die minimalste Sanktionseinheit ist dabei, einen Akt als berechtigt bzw. als nicht-berechtigt zu behandeln – und dadurch zu weiteren Akten berechtigend bzw. nicht-berechtigend[406]. Man kann diese Sanktionsstruktur als problematisch ansehen[407], oder aber darin ein Anerkennungs-Moment erkennen, und zwar die Struktur der wechselseitig sanktionsbefähigten Akteure[408]. Tut man dies, lässt sich BrandomBrandom, Roberts Ansatz |102|bezogen auf die Frage der Normativität als proto-sanktionaler Ansatz begreifen. Die Gleichgerichtetheit und Gleichförmigkeit in der Behandlung eines Aktes als berechtigt bzw. nicht-berechtigt ist die Generierung von Normativität. Der Prozess der Normativität hat die Gestalt eines unendlichen Spiegels[409] (»Ich behandle die Performanz als berechtigt und behandle dein Berechtigt-halten für berechtigt usf.«)[410]. In dieser sanktionalen Gleichförmigkeit kommt BrandomBrandom, Robert der klassischen Form der Koordinierung künftigen Verhaltens äußerst nahe, nämlich der Form des Vertrages. Man kann sogar so weit gehen, seinen Ansatz als proto-kontraktualistisches Programm zu rekonstruieren[411]. Gegenüber herkömmlichen Kontraktualismen besteht ein Vorzug seines Modell darin, dass die sanktionale Struktur bereits an proto-kooperative Verhältnisse[412] anknüpfen kann: Sie muss nicht auf eine (konkludente) vertragliche Vereinbarung warten, sondern kann bereits mit dem Handeln (prattein) beginnen, einem Handeln, das im Bewusstsein der sanktional-anerkennenden Beobachtung durch den anderen Akteur vollzogen wird. Dadurch ergibt sich die universelle Struktur, die den Anderen im Anerkennen anerkennt.