Kitabı oku: «Neue Theorien des Rechts», sayfa 3

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C. Recht jenseits des demokratischen Rechtsstaats

In der Beurteilung von Tendenzen der Rechtsentwicklung, die die Prozesse der Globalisierung in den letzten Jahrzehnten ausgelöst haben, unterscheiden sich die Entwürfe von HabermasHabermas, Jürgen und MausMaus, Ingeborg gravierend. Während Habermas bei aller Skepsis die Dimension der zu lösenden Probleme und die damit verbundenen Chancen supra- und transnationaler politischer Gestaltung akzentuiert, betont Maus die Risiken, die eine Überwindung des nationalstaatlichen Rahmens für die Ausübung demokratischer Autonomie birgt. Grundsätzlich vertreten beide in Fragen von Sicherheits- und Menschenrechtspolitik einen völkerrechtspositivistischen Ansatz, der sich gegen moralphilosophische Theorien des gerechten Krieges richtet, und verteidigen den völkerrechtlichen Omnilateralismus der UNO gegenüber imperialen oder anderen hegemonialen Ordnungsmodellen. Dabei liegt das theoretische Zentralproblem für beide Ansätze auf der Hand. Während Recht und DemokratieDemokratie im demokratischen RechtsstaatRechtsstaat intern miteinander verklammert waren, sind sie im Recht der postnationalen Konstellation auseinandergetreten. MausMaus, Ingeborg und HabermasHabermas, Jürgen wählen verschiedene Wege, um sich ihrer verlorengegangenen Komplementarität jenseits der Grenzen des Rechtsstaats wieder anzunähern.

HabermasHabermas, Jürgen entwickelt seine Rechtstheorie für eine post-nationalstaatliche Konstellation zwischen 1994 und 2011 in vier Anläufen, die jeweils unterschiedlich gelagerte Versuche darstellen, das Verhältnis zwischen Recht und DemokratieDemokratie jenseits des Staates neu zu fassen ((1)–(4)).

(1) Von Beginn an orientiert sich HabermasHabermas, Jürgen an Immanuel Kants Unterscheidung zwischen Völkerrecht und Weltbürgerrecht. KantKant, Immanuel hatte das Völkerrecht als Recht der Staaten gegeneinander konzipiert, während das Weltbürgerrecht als Recht von Individuen gegenüber jedem beliebigen Staat aufgefasst wurde[72]. Habermas interpretiert Kants Weltbürgerrecht nicht als Ausländerrecht, sondern als Mitgliedschaftsrecht für Individuen in einer Weltrechtsgemeinschaft[73]. Er sieht Völkerrecht und Weltbürgerrecht zunächst langfristig als Alternativen und einen »Übergang« vom einen zum anderen als geboten an[74]. Daher kritisiert er das schwache, nicht auf Dauer zu stellende kontraktualistische Modell des Kantischen Völkerbundes souveräner Staaten[75]. Allerdings bewegt sich Habermas |25|mit dieser Kritik noch innerhalb der traditionellen Alternative, die von der Frage »Weltstaat oder Staatenwelt?« vorgegeben wird und kontrastiert den instabilen, mit Effektivitätsmängeln behafteten Völkerbund mit einem monistischen Modell kosmopolitischer DemokratieDemokratie[76].

(2) Diese Vorstellung lässt er spätestens 1998 hinter sich und steuert unter der Formel einer »Weltinnenpolitik ohne Weltregierung« einen mittleren Kurs zwischen beiden Extrempositionen an. Er plädiert für eine Zweiteilung der Weltordnung zwischen einer auf »elementare Ordnungsleistungen« in der Sicherheits- und Menschenrechtspolitik beschränkten UN und überstaatlichen Verhandlungssystemen, die sich auf politische Fragen, etwa das globale Wohlstandsgefälle, ökologische Themen und Themen interkultureller Verständigung spezialisieren. An transnationale Verhandlungssysteme richten sich schwächere Legitimationsanforderungen als an die völkerrechtliche Ebene: so sollen beteiligte Regierungen sicherstellen, dass die verhandelten Themen an innerstaatliche Diskurse angebunden werden, die Partizipation zivilgesellschaftlicher Akteure an transnationalen Verhandlungen soll ermöglicht, schließlich auch eine begleitende transnationale Öffentlichkeit mit dem Potenzial, Probleme aufzugreifen und Missstände zu skandalisieren, erzeugt werden[77]. Das demokratische Potential einer solchen Ordnung sieht HabermasHabermas, Jürgen in der epistemischen, also in der Wissens-Dimension, die durch die »allgemeine[n] Zugänglichkeit eines deliberativen Prozesses« sichergestellt werden soll[78].

(3) Dass eine deliberative Verflüssigung das Recht der Global Governance nicht hinreichend demokratisiert, stellt den Ausgangspunkt für HabermasHabermas, Jürgen’ Neuorientierung zum Global Constitutionalism dar. Im Zentrum steht ein Rückgriff auf den Vorschlag, den Begriff einer demokratischen Verfassung auf post-staatliche Kontexte zu extrapolieren[79]. Wieder unterscheidet HabermasHabermas, Jürgen zwischen dem »juristischen« und einem »politischen« Teil einer ›pluralistischen‹ Globalverfassung, betont aber, dass auch der erstere sich der Forderung nach demokratischer Legitimation nicht entziehen kann. Während für politische Fragen weiter internationale Verhandlungssysteme zuständig sind, bildet die UN-Charta das Zentrum des supranational organisierten Teils einer konstitutionalisierten Weltgesellschaft. Bereits das klassische vernunftrechtliche Völkerrecht habe sich aufgrund seiner gewaltendisziplinierenden Funktion als »Protoverfassung« begreifen lassen, die jedoch erst mit der freiwilligen Abtretung von Souveränitätsbefugnissen zur politisch verfassten Rechtsgemeinschaft wurde: Die Bedeutung der |26|konsensuellen Ächtung des Angriffskriegs[80] kann in diesem Zusammenhang gar nicht überschätzt werden. Die völkerrechtliche Verfassung ist in ihren Aufgaben beschränkt auf die »juristischen Fragen« des Friedens- und Menschenrechtsschutzes und erwirbt damit auch – im Gegensatz zur kosmopolitischen DemokratieDemokratie – nicht die Kompetenz-Kompetenz, weitere Funktionen an sich zu ziehen oder über die Allokation von Funktionen zu entscheiden[81]. Trotz der konsensuellen Etablierung der UN-Institutionen durch die Mitgliedstaaten, so betont HabermasHabermas, Jürgen, ist Weltverfassungsrecht nicht automatisch legitimiert; dies würde übrigens auch dann gelten, wenn die UN ihren Aufgaben effektiv und nicht-selektiv nachkämen. Die Institutionen der UN genießen bisher nur einen legitimatorischen »Vorschuss«, weil sie in Analogie zu den Institutionen demokratischer Staaten operieren und die Ergebnisse innerstaatlicher demokratischer Lernprozesse dem Sinn nach für sich geltend machen können: Die Menschenrechte genießen eine anamnetische Legitimität in der Erinnerung an die Ergebnisse der demokratischen Revolutionen seit 1776 und 1789[82]. Dass sich weltbürgerliche Mitgliedschaft letzten Endes nur als Aktivbürgerschaft einlösen lassen kann, sollte aber nicht dazu verleiten, den internen Zusammenhang zwischen Rechtsgeltung und Demokratie jenseits des Staates gänzlich auf der globalen Ebene anzusiedeln.

(4) Um den Verfassungscharakter globaler Ordnung mit der Notwendigkeit einer aktivbürgerlichen Legitimation zusammenzudenken, bietet sich schließlich die Idee einer grenzüberschreitenden verfassunggebenden Gewalt an. HabermasHabermas, Jürgen hat diese Figur zunächst in Arbeiten zur Europäischen Union ausprobiert, um sie schließlich auch für die Ebene der Weltverfassung vorzuschlagen.[83] Die verfassunggebende Gewalt in der EU und in den Vereinten Nationen lässt sich aber nicht nach dem kosmopolitischen Muster einer Weltrepublik vorstellen. Sie muss die staatliche Organisationsebene und deren Aufstufung zur supranationalen Ordnung berücksichtigen, so dass sie Aktivbürgerinnen in zweierlei Gestalt – als Bürgerinnen ihrer Nationalstaaten und als Bürgerinnen des überstaatlichen Gemeinwesens – ins Auge fasst[84]. Die verfassunggebende Gewalt ist dann »gespalten« in ihrer Ausübung, da die Bürger in Permanenz den staatlichen wie den suprastaatlichen Zusammenhang autorisieren. Das komplementäre Verhältnis von Völkerrecht und Weltbürgerrecht soll nicht mehr nach einer Seite aufgelöst werden.

Ingeborg MausMaus, Ingeborg hat in den Diskussionen über Recht jenseits des Nationalstaats eine demokratietheoretisch und rechtsstaatlich begründete, skeptische |27|Position bezogen. Während HabermasHabermas, Jürgen die Erweiterung des positiven Völkerrechts von der Friedenssicherung auf den Menschenrechtsschutz begrüßt, betont Maus dessen entformalisierteEntformalisierung und vielfach willkürliche Handhabung. Sie sieht in der Zunahme militärischer Interventionen auf der Basis von Menschenrechtsverletzungen einen Trend zur Umwandlung der Menschenrechte in »Ermächtigungsnormen internationaler Politik«, die vollständig aus ihrem demokratischen Interpretationszusammenhang herausgelöst werden[85]. Mit KantKant, Immanuel hält sie an einer friedensorientierten Demokratieförderung und einem strengen Interventionsverbot fest[86]. Dem Prinzip der Nichtintervention liegt ihr zufolge auch gegenüber autoritären Staaten ein Volkssouveränitätsargument zugrunde: der von einem Staatsvolk einzuschlagende Weg zur und seine Ausgestaltung der DemokratieDemokratie sei von diesem in autonomen Lernprozessen zurückzulegen; Nichtintervention sei eine notwendige Bedingung für das Gedeihen solcher Lernprozesse[87]. Weiterhin sei die Verrechtlichung von Interventionsbefugnissen mit dem unlösbaren Problem konfrontiert, unumstrittene Quantitäten der Menschenrechtsverletzung festzulegen. Im Falle außerordentlich gravierender Menschenrechtsverletzungen sieht sie daher nur die Möglichkeit des bewussten Rechtsbruchs: »Für das extreme Verbrechen des Völkermords existiert […] nur die extreme Möglichkeit der außerrechtlichen Intervention«[88]. Gegenüber Vorschlägen zur Verrechtlichung des militärischen Menschenrechtsschutzes besteht sie auf der Einführung prozeduraler Beschränkungen innerhalb der UN, die Interventionsbeschlüssen des Sicherheitsrates enge Fesseln anlegen sollen[89]. Der entscheidende Einwand gegen eine interventionistische Menschenrechtspolitik liegt in der, auf globaler Ebene fehlenden, demokratisch legitimierten Rechtsetzungsinstanz, die MausMaus, Ingeborg angesichts der Komplexität der Weltgesellschaft auch in anspruchsvollen Modellen kosmopolitischer Demokratie für unrealisierbar und auf friedlichem Weg unerreichbar hält.[90] Im ausdrücklichen Gegensatz zu supranationalen Modellen sieht MausMaus, Ingeborg auf globaler Ebene ausschließlich horizontale Beziehungen zwischen Staaten vor. Zwischenstaatliche vertragliche Vereinbarungen (über z.B. Arbeits- und Umweltschutzbestimmungen) seien dort erforderlich, wo die gleichen Verhältnisse anzutreffen sind; zudem könne über die nationalstaatliche parlamentarische Kontrolle solcher Vertragsschlüsse dem Demokratieprinzip entsprochen werden[91].

|28|D. Literaturhinweise

Baxter, Hugh, Habermas: The Discourse Theory of Law and Democracy, Stanford 2011.

Baynes, Kenneth, Habermas, London 2016.

Brunkhorst, Hauke/Kreide, Regina/Lafont, Christina (Hrsg.), Habermas-Handbuch, Stuttgart 2009.

Eberl, Oliver (Hrsg.), Transnationalisierung der Volkssouveränität. Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates (FS Ingeborg Maus), Stuttgart 2011.

Habermas, Jürgen, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats [1992], 4. Aufl., mit einem neuen Nachwort, Frankfurt am Main 1994.

ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt am Main 1996.

ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt am Main 2004.

ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011.

Maus, Ingeborg, Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluss an Kant [1992], Frankfurt am Main 1994.

dies., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie, Berlin 2011.

dies., Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisation, Berlin 2015.

dies., Justiz als gesellschaftliches Über-Ich. Zur Position der Rechtsprechung in der Demokratie, Berlin 2018.

Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hrsg.), Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der internationalen Politik, Frankfurt am Main 2007.

Rosenfeld, Michael (Hrsg.), Habermas on Law and Democracy, Cardozo Law Review 17, 4–5, 1995, 767–1648.

von Schomberg, René/Baynes, Kenneth (Hrsg.), Discourse and Democracy: Essays on Habermas’s Between Facts and Norms, Albany 2002.

|29|Derrida und das Modell der Dekonstruktion

Thomas-Michael Seibert

DekonstruktionDas praktische Recht hat einen doppelten Boden. Jeder, der die Justiz anruft und ihre Mittel nutzen möchte, hat zwar eine Vorstellung, in welche Richtung sie wirken soll. Oft kommt aber etwas anderes heraus als gedacht, und nicht selten erschlägt die Justiz diejenige, die sie zu Hilfe ruft. Strafprozesse wegen Vergewaltigung sind ein Beispiel dafür, dass sich die Justiz gegen diejenige wenden kann, die ihre Macht und Hilfe benötigt hätte. Was das praktische Recht anrichtet, kann seit hundert Jahren mit den Methoden der Rechtssoziologie untersucht werden. Seitdem es eine Rechtssoziologie gibt, existiert ein semiotischer Verdacht, der dahin geht, was als Recht ausgegeben werde, sei in Wirklichkeit nur ein verbrämtes Modell der Gewalt. Wer sich seitdem für das Recht zwischen Erkenntnis, Macht und Gewalt interessiert, muss mit diesem Verdacht umgehen. Man kann ihn bezweifeln, besänftigen, manchmal sogar zerstreuen, aber man wird ihn nicht los[92]. Wer Spuren lesen kann, verharrt in beständigem Fragen und in Zweifeln. Ein Modell dafür bietet die DekonstruktionDekonstruktion. Dekonstruktion ist der Einsatz, den man wagen muss, wenn man Zweifel hat: nach dem Unausgesprochenen fragen, Gründe umkehren und jede Umkehr der Gründe wieder verdächtigen, denn es kann etwas anderes als Recht dahinter stecken. (Juridische) GerechtigkeitGerechtigkeit ist immer unterwegs. Sie verlangt nach Fragen.

A. Zur Vorstellung der Fragen

Der Philosoph der Fragen ist Jacques Derrida. Ganze Absätze seiner Texte bestehen aus Fragen und vergeblich sucht der Leser nach entsprechenden Antwortsätzen. Man muss sie erst noch selbst bilden. Derrida stammt aus Zwischenreichen, die Merkmale prägen: er war Jude, aber nicht religiös, Franzose, aber (Jahrgang 1930) aus Algerien mit der Folge, dass die französische Staatsbürgerschaft von Vichy-Frankreich 1942 aberkannt wurde, Philosoph, Leser klassischer Texte von Aristoteles und Plato, schreibender Autor, aber ständig in Vorträgen auf weltweiten Konferenzen präsent. Bereits im Jahre 1967 sind seine Programmschriften erschienen, nämlich die Husserl-Lektüre »Die Stimme und das Phänomen«, die den Primat der Lautlichkeit in der Sprache bestreitet, das Hauptwerk »Grammatologie«, das den Vorrang der Schrift begründet, und schließlich eine |30|Aufsatzsammlung unter dem Titel »Die Schrift und die DifferenzDifferenz«, mit der Derrida die herrschende strukturale Betrachtung auf Prozesse, die »im Kommen sind«, umstellt. Die NietzscheNietzsche, Friedrich-Lektüre bietet für Derrida im Jahre 1976 den Einstieg in eine grundlegende Rechtsfrage[93], die Juristen scheinbar beantwortet haben: Wer ist Autor einer Verfassung? Dass es »das Volk« sei, halten inzwischen auch die Juristen für eine dekonstruierbare Aussage, die nicht über DekonstruktionenDekonstruktion reden. Derrida bewegt sich programmatisch »vor dem Gesetz«, liest auf einem weiteren Kolloquium in Cerisy-la-Salle im Jahre 1982 die gleichnamige Kafka-Parabel über den Türhüter »Vor dem Gesetz« und übersetzt die Position des »Mannes vom Lande« als vorbeurteilt, vorverurteilt, vorurteilsverhaftet, fast unübersetzbar aus dem französischen Titel »Préjugés«[94]. Es folgen weitere Beiträge über den Zusammenhang von Recht und Philosophie, mit denen Derrida die Kantische Rechtslehre aufnimmt[95], es folgen lange Ausführungen über NietzschesNietzsche, Friedrich Politik der Feindschaft[96], und es folgt vor allem der für die Rechtstheorie programmatisch gewordene Vortrag über »Force of Law« vor der amerikanischen Critical Legal Society im Jahre 1989[97]. Markenzeichen für Derrida-DekonstruktionenDekonstruktion sind lange Textlektüren, die das Augenmerk auf sprachliche Feinheiten richten, Worte, Wortklänge, Assoziationen, die der eilige Leser nicht entdecken wird, mit denen aber dem gelesenen Text etwas Neues »aufgepfropft« werden kann. Diesen Ausdruck verwendet Derrida selbst[98] und er versteht sich gern als Gärtner, als Kultivator, der ein Reis aufpfropft und aus Altem Neues wachsen lässt. Wie dieses Neue aussehen wird oder wie lange es braucht, um zu wachsen, verrät der Meistergärtner aber an keiner Stelle. Was aufgepfropft wird, kommt langsam und ist – ein Grundton der dekonstruktiven Philosophie – »im Kommen«. Was das für das Recht heißen könnte, bleibt noch zu entdecken, und das muss man inzwischen ohne autorisierte Anleitung tun. Derrida starb schnell und unerwartet im Oktober 2004. Hinterlassen hat er ein semiotisches Modell für den Umgang mit Sprachzeichen, das Besonderheiten aufweist, wenn man nur übliche hermeneutische Traditionen kennt, in dem aber gerade Juristen fortlaufend arbeiten, ohne es zu wissen. Das Modell soll zunächst in einer der DekonstruktionDekonstruktion an sich nicht angemessenen Kürze dargestellt werden (B), ehe man fragen kann, was davon auf das Recht passt (C) und was in der Rechtslehre bisher diskussionsweise angekommen ist (D) mit einigen wenigen Lektürehinweisen am Schluss (E).

|31|B. Die DekonstruktionDekonstruktion in fünf Operationen
I. Gegensätze in Texten suchen

DekonstruiertDekonstruktion werden fast immer Texte. Das mag erstaunen, weil Derrida sich durchaus allgemeiner philosophischer und lebensweltlicher Phänomene annimmt und die Freundschaft zwischen Menschen oder die Gabe des einen an den anderen untersucht. Für alle diese Lebensweltkonzepte präsentiert er aber schnell und ohne Umstände schon auf den ersten Blick problematische Texte. »O meine Freunde, es gibt keinen Freund« heißt der thematische Satz für die »Politik der Freundschaft«, der Aristoteles zugeschrieben wird[99], ohne dass Entstehung und Kontext klar wären, und ihm wird eine Ergänzung NietzschesNietzsche, Friedrich aus »Menschliches, Allzumenschliches« zugeordnet, die da lautet:

Freunde, es giebt keinen Freund, so rief der sterbende Weise. Feinde, es giebt keinen Feind, ruf ich, der lebende Thor[100].

Beide Sätze zeigen auf den ersten Blick, wie die dekonstruktive Interpretation sich bewegt und vor allem: wie sie in Bewegung kommt. Sie sucht Gegensätze auf und versucht, sie so zu steigern, dass sie sich nicht friedlich nebeneinander vereinbaren lassen, sondern in möglichst großer Nähe einen scheinbar oder wirklich unauflöslichen Widerspruch herstellen. Wer wissen will, was Freundschaft bedeutet, soll zunächst einmal nach der Feindschaft suchen und überlegen, in welchen Zusammenhängen er wie oft Feinden begegnet. Wer nach der Rechtfertigung der Todesstrafe fragt, soll sich mit den Bedingungen der Begnadigung befassen[101]. Wer die Unabhängigkeit eines Staates fordert, ist aufgefordert, darüber nachzudenken, welchen Abhängigkeiten er oder sie folgen[102]. Wer in der Welt »Schurken« oder gar »Schurkenstaaten« denunziert, mag über das Gute und den guten Staat nachdenken, der möglicherweise in weiter Ferne liegt[103]. Das alles sind verhältnismäßig grobe Oppositionen und Supplemente, vor allem solche, die lexikalisch ohne große weitere Bemühungen auffallen. Freundschaft und Feindschaft, Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Schurken und Gutmenschen, Todeskandidaten und Begnadigte – diese Paarbeziehungen sind klassisch.

|32|II. Zu Paradoxa kondensieren

Weniger klassisch ist die zweite dekonstruktive Bewegung, die Derrida unter Bezug auf Montaigne oder NietzscheNietzsche, Friedrich im Freundschaftsbeispiel augenfällig demonstriert. Man wird auf das Verhältnis der Supplementarität und auf die damit einhergehende ParadoxieParadoxie in einem einzigen Satz gestoßen. Die Widersprüchlichkeit wird kondensiert an einer Stelle, an der man sie hören kann. Als Operation heißt das: Formuliere die Paradoxie und ziehe dabei den Widerspruch auf die deutlichst mögliche Form zusammen. Dazu darf man fernliegende, abseitige Methoden benutzen. Was sieht man, wenn man auf Europa sieht? Wie geht das überhaupt: auf Europa sehen? Von welchem Ort aus oder in welchem Medium lässt sich ein Erdteil überhaupt sehen? Da muss man schon eine Landkarte zu Hilfe nehmen, und wenn man über Phantasie verfügt, sieht man, dass Europa auf einer solchen Landkarte wie ein Kap aussieht oder wie eine Landspitze, die sich vor der viel größeren Landmasse des Kontinents Asien gleichsam in den Ozean schiebt[104]. Europa ist dann »ein Kap« so wie Afrika ins Kap der guten Hoffnung ausläuft oder Südamerika in Kap Horn mündet, und wenn Europa ein Kap ist, dann fragt man wegen des Gegensatzes nach dem »anderen Kap«. Eine solche Frage gelingt möglicherweise nur vor dem akademischen Publikum eines Kolloquiums über die kulturelle Identität Europas, vor dem Derrida im Jahre 1990 einen politischen Vortrag unter dem Titel »L’autre Cap«, also »Das andere Kap« hielt und nach dem Blick auf die Landkarte den Eindruck des Kaps auf das Wort übertragen hat, für das er eine zweifache Bedeutung untersucht. Das Kap ist die Kapitale und stellt eine »Frage im Femininum«[105]: »Hat eine Kapitale der europäischen Kultur heute einen Ort, gibt es einen Ort für sie?« (Kursivierung im Orig.). Die zweite, sächliche Frage richtet sich auf das Kapital, und Derrida zögert nicht, das Werk von Karl MarxMarx, Karl unter diesem Titel sogleich in seine kulturelle Identitätsfrage zu übernehmen, aber er erweitert die Frage auf den Mut »zu einer neuen Kritik der neuen Auswirkungen des Kapitals (in bislang unbekannten technisch-sozialen Strukturen)«[106]. Benutzt werden dabei rhetorische Figuren wie die Kondensation in Begriffen oder Sätzen, in denen ein einzelner Ausdruck (Freundschaft, Kap, Kapital) verschiedene Argumentationslinien oder Wertkomplexe zusammenbringt. Man wird einräumen müssen, dass der Fortgang einer Argumentation vom Bild auf einer Landkarte über die Bildung eines Wortes, dem man schließlich einen Buchstaben nimmt und einen anderen Artikel gibt, so dass man zu einem anderen Wort kommt, künstlich und nicht ohne Vorerfahrung nachvollziehbar ist. Der Weg vom Kap der guten Hoffnung über das Kap Europa zur Kapitale Europas (die es aber nicht gibt) zu MarxMarx, Karl’ »Kapital« gelingt nur Jacques Derrida. Aber eindrücklich wird diese Kondensation, wenn Derrida am Ende seines Vortrags |33|über die kulturelle Identität von den Pflichten redet, denen man genügen muss, um zum »anderen Kap« zu gelangen[107], zu dem Kap ohne Kapitale und jenseits allfälliger Akkumulation des Kapitals.

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