Kitabı oku: «Neue Theorien des Rechts», sayfa 4
III. MetaphernMetapher ausbeuten
Der Weg dorthin ist nicht geradlinig. Die Bewegung der DekonstruktionDekonstruktion verweigert, was im platonischen Zusammenhang definitorisch heißen würde, also die Einordnung eines Wortes in ein größeres Ganzes, verbunden mit einer spezifischen DifferenzDifferenz, die dem Einzuordnenden seinen logischen Platz im Ganzen zuweist. Es gibt zwar ein Zentrum, eine Kapitale, aber die Dekonstruktion vermeidet den Hauptplatz und betont die Differenz. Solche DifferenzenDifferenz findet man, indem man einen Begriff buchstäblich untersucht, und das heißt: beim Namen nimmt. Für Derrida liegt darin eine »Aufkündigung« (suspension), eine Absage an Zustände, die auffallen. Die suspension befragt das Wort gegen seinen manifesten Sinn, indem sie am Buchstaben haftet und der bleibenden Schriftform Vorrang vor dem flüchtigen, mündlichen Ausdruck gibt. Das darf man in platonisch-sokratischer Tradition nicht machen. Wer ein Wort buchstäblich nimmt, behandelt es wie einen Namen, und dann entsteht das Gegenteil einer Definition. In der begriffssyllogistischen Tradition spricht man von »MetaphernMetapher«, und Juristen lernen, dass sie nicht metaphorisch, sondern begrifflich trenngenau reden sollen. Die dritte Operation besteht deshalb in einer zweifachen sprachlichen Bewegung. Man nimmt einen Begriff beim Namen und stellt Verbindungen her, die metaphorisch wirken und inhaltlich nutzbar gemacht werden können. Zu achten ist auf Assoziationen, mögen sie auch im Text als vollkommen nebensächlich erscheinen, mag sich der Autor im Zweifel vom Namen distanzieren und sagen, so habe er es nicht gemeint und man solle einfach ein anderes Wort benutzen. Mit der Buchstäblichkeit des Namens stößt man zur MetapherMetapher vor. Das klingt zunächst einmal rätselhaft, und bleibt es auch eine Zeitlang. Man fragt sich, wohin es führen soll und warum jemand, der die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika liest, als wesentliches Merkmal die Eingangsformel festhält (»We, therefore, the Representatives of the United States of America […] «)[108]. Man fragt sich, inwiefern die wechselnde Regieanweisung Enter the Ghost, dann exit the Ghost und schließlich re-enter the Ghost ein Drama wie »Hamlet« charakterisiert[109], und ganz ähnlich fragwürdig erscheint es, wenn ein Redner über das Recht des Stärkeren mit der Feststellung beginnt, Drehungen, Wendungen und Windungen, dazu der Turm und der Kreislauf von Runden und |34|Umrundungen bestimmten das Thema[110]. Es sind die abwandelnde Wiederholung wie der Umbau von Worten, mit denen ein Titel entwickelt und Begriffe wie Namen[111] benutzt werden, sodass ein Kap zur Kapitale wird und von dort ins Kapital hinüber gleitet.
IV. Fremdes aufpfropfen (la Greffe)
Die Bewegung aus der MetaphorikMetapher im Namensgebrauch ergreift am Ende alle, vor allem denjenigen, der gerade spricht. Er selbst könnte derjenige sein, der gerade das Recht des Stärkeren ausspielt, für das Derrida im Schurken-Essay auf die Fabel vom Wolf und dem Lamm zurückgreift, wie sie Jean de la Fontaine erzählt. Danach scheint es nur so, als wolle der Wolf mit dem Lamm über unrechtmäßige Handlungen argumentieren. Aufgepfropft wird die Gewalt: Das Lamm soll gefressen werden, weshalb die Fabel mit dem Vers beginnt: »Das Recht des Stärkeren ist das beste immerdar«[112]. Die Fabel wird der rechtstheoretischen Frage nach der Bedeutung von Macht und Gewalt »aufgepfropft«, wie Derrida es selbst nennt[113]. PfropfungPfropfung ist die vierte Operation im Dekonstruieren (wobei es keine obligatorische Reihenfolge gibt und Pfropfungen auch schon in den Gegensätzen liegen): PfropfePfropfung dem Text das Andere auf. Derrida empfiehlt la greffe für den Bau von Interpretationen. Greffer (PfropfenPfropfung) stammt als Wort aus dem Obst- und Gartenbau und ist eine aktive Operation, die Inhalte verändert wie aufgepropfte Edelreise eine Pflanze verändern. Derrida liest sein Thema wieder und wieder, in Windungen und Wendungen, vor allem die These, die Demokratie sei »im Kommen«, sie müsse erst noch entstehen, und das mehrfache Lesen ist eine wesentliche Bedingung der Pfropfung. Die These taucht gleich am Anfang auf, wenngleich in einer Verkürzung, die kaum verständlich zu sein scheint, wenn es heißt[114]: »die kommende Demokratie: dafür braucht es die Zeit, dafür muss es die Zeit geben, die es gar nicht gibt«. Den Gedanken der democratie à venir, der Demokratie-im-Kommen, bezeichnet Derrida dann als Syntagma ohne Paradigma und dekonstruiert damit gleichzeitig die Sausurresche Formation des Zeichens. Im Syntagma treten immer zwei Zeichen gemeinsam auf, etwa »Kommen« und »Demokratie«, und man versteht die damit erschlossenen Zusammenhänge, wenn man die Beispiele sieht und hört, die syntagmatisch erfasst werden[115]. Aber Derrida findet kein Beispiel vor. Die DekonstruktionDekonstruktion erschließt Neuland.
|35|V. Das Andere (er-)finden
Neuland gewinnen heißt aber nicht nicht etwas inhaltlich erobern oder besetzen, sondern Neuland gewinnt man durch eine inzwischen oft »postmodern« genannte Operation, die man in der fünften und letzten Operation so zusammenfassen kann, dass in einem Begriff oder Konzept nach dem Ausschau gehalten wird, was anders ist und die Abhängigkeit eines Terms von der Gegenwart dessen offenbart, das als Drittes weder dem Gegensatz noch dem Ausgangsbegriff angehört. Wenn ein Text falschen Glauben anprangert, untersucht man ihn daraufhin, auf welchem Glauben er selbst aufbaut und was daran zweifelhaft ist. Wenn er die richtige Lehre verteidigt, untersucht man den Text darauf, auf welchen Voraussetzungen die propagierte Richtigkeit beruht. Man gelangt auf diese Weise an die Punkte in einem Text, an denen sich ermessen lässt, welche Anstrengungen der Versuch kostet, logozentrische Konstruktionen zu erstellen bzw. Regeln zu formulieren und Ausnahmebedingungen abzuwehren. In der gegenwärtigen philosophischen Debatte tritt an dieser Stelle nicht nur eine beliebige Andersheit zu Tage, sondern schlechthin das Andere[116], das oft auch im Hinblick auf die fundamentalphänomenologische Sicht von LévinasLévinas, Emmanuel der oder die Andere heißt und mit dem unentrinnbaren Anruf des Antlitzes unterlegt wird[117]. In der Erkundung des vorher nicht für möglich gehaltenen Anderen besteht eigentlich das Ziel und der Zweck eines dekonstruktiven Modells. In einem Wort ausgedrückt, ist die DekonstruktionDekonstruktion dann »the experience of the impossible«[118], wobei – abgesehen von der selbst schon dekonstruktiven Formulierung – die Unmittelbarkeit einer Erfahrung neben die logische Unmöglichkeit des Anderen gesetzt wird.
Ich fasse die strategischen Züge des dekonstruktiven Modells zusammen: zuerst die Suche nach Gegensätzen, dann die möglichst dichte Formulierung eines solchen Gegensatzes im ParadoxonParadoxie (Freunde, es gibt keinen Freund), womit der Form nach eigentlich schon alles geleistet ist. Alles Weitere dient dieser Doppelbewegung. Man geht mit den weiteren Operationen noch einmal in die Methode der Suche nach Gegensätzen und ihrer Ausbeutung hinein. Das sind insoweit alles rhetorische Manöver: etwas aus dem Namen entwickeln und dabei die Gleichmäßigkeit der äußeren Form nutzen, Anderes aufpfropfen und schließlich die Abhängigkeit des Einen vom ausgeschlossenen Anderen zeigen. Aber unabhängig davon: Alle diese Bewegungen kommen in der juristischen Auslegungslehre nicht vor, so dass Auslegungstheoretiker von einer »Apotheose des Dekonstruktivismus«[119] sprechen. Im angewandten Recht soll der Name hinter der Sache zurücktreten, d.h. das willkürliche AufpfropfenPfropfung ist verboten und die Betonung |36|des Einen soll das Andere gerade ausschließen und zurücktreten lassen, damit entschieden werden kann.
C. Was für das Recht passt
Wenn man Entscheidung als die zentrale Aufgabe des Rechts ansieht und alles, was juristisch zu denken und zu handeln ist, dem Ziel der Entscheidung unterordnet, dann entsteht zunächst ein Eindruck, den Lorenz Schulz entfaltet hat und der sich dahin zusammenfassen lässt, dass die dekonstruktiven Operationen methodisch zweifelhaft und für die Rechtsarbeit ohne Bedeutung sind[120]. Manche haben diesen Eindruck, zumal Entscheidungen durch Gerichts- oder Behördenurteil im Modell der DekonstruktionDekonstruktion meist mit dem gegenteiligen Merkmal, also paradoxParadoxie, vorkommen: als UnentscheidbarkeitUnentscheidbarkeit[121]. Derrida selbst wird mit dem Satz zitiert[122], er habe niemals und nichts entschieden. Das ist ein zweifelhaftes und noch dazu fragwürdiges biographisches Wort, denn man muss sich fragen, ob es so etwas wie ein Leben ohne Entscheidungen überhaupt gibt. Derrida deutet die alltägliche Entscheidung aber anders, und zwar auf zwei Seiten in der »Politik der Freundschaft«, die Laroche für paradigmatisch erklärt hat. Eine Entscheidung ist danach »letztlich unbewusst«, sie neutralisiere das »unverhoffte Hereinbrechen« eines Ereignisses[123]. Ähnliches lässt sich vom Urteil am Ende eines Verfahrens nur in ironischem Stil sagen. Jedenfalls versucht die Justiz, Urteile nicht »hereinbrechen« zu lassen. Nun widmet sich Derrida nicht dem Recht im Sinne der Justiz, wohl aber der GerechtigkeitGerechtigkeit im Sinne des Rechts, die von oben, von der Seite oder am Ende immer in den Betrieb hineinspielt, nicht selten stört und die routinierte Erledigung einer Sache hindert. Das Fundament des entscheidungsbereiten Rechts findet Derrida nicht in der Wahrheit seiner tatsächlichen Feststellungen und in der Richtigkeit seiner normativen Regeln, sondern in Macht und Gewalt.
Das Recht des Stärkeren ist an sich so wenig neu wie die Fabeln de la Fontaines. Das »Poststrukturalistische« in der Rechtskonzeption Derridas – mit diesem Ausdruck wird sie gelegentlich eingeordnet[124] – besteht nur darin, Gewalt nicht als das Andere des Rechts auszusperren und einhegen oder zähmen zu wollen, sondern sie jederzeit präsent zu halten und damit zu leben. Mit der Rechtsgewalt lebte Derrida persönlich vom 30.12.1980 bis zum folgenden Neujahrstag, als er |37|in der damals noch dem »Ostblock« angehörigen ČSSR verhaftet und ins Gefängnis geworfen wurde wegen Drogenbesitzes[125]. Berühmt und von vielen beschützt, wie Derrida damals schon war, wurde der Vorwurf (den gewöhnliche Drogenkuriere niemals loswerden) nach weniger als 48 Stunden fallen gelassen. Die Stunden dazwischen hinterließen gleichwohl eine bleibende Spur. Dem Recht unterlegt Derrida eine detaillierte »Gespenstergeschichte«, in der eine Institution die Hauptrolle spielt, die jeder kennt, die immer Recht hat (oder haben will) und doch nicht selten und vor allem professionell gewaltsam Unrecht durchsetzt: die Polizei. Das Gespenstische der Polizei benennt Derrida mit und in einer alten Studie von Walter BenjaminBenjamin, Walter aus dem Jahre 1921 unter dem Titel »Zur Kritik der Gewalt«[126]. In dieser Studie versucht BenjaminBenjamin, Walter Rechtssetzung und Rechtserhaltung voneinander zu unterscheiden[127], und Derrida fällt auf[128], dass BenjaminBenjamin, Walter die Polizei nicht als Hüterin des Gesetzes ausmacht, die nur dort vertreten wäre, »wo Gesetzeskraft existiert«. Denn gleichzeitig bringt die moderne Polizei das Gesetz, »von dem man annimmt, dass sie es eigentlich bloß anwendet«[129], auch hervor. Ohne Polizei bleibt das Recht kraftlos, ausgedacht und ohne Durchsetzungsmacht. Damit ist die zentrale Stelle der gegenwärtigen Rechtstheorie bezeichnet, die alle postmodernen Motive orchestriert: Es gibt keine Trennung zwischen Anwendung und Setzung, zwischen Herstellung und Darstellung des Rechts, zwischen Entscheidungsfindung und deren Begründung, und doch halten wir an diesen Unterschieden fest. Sie sind selbst schon Teil eines gewaltsamen und gespenstischen Rechtsauftritts.
Die MetapherMetapher des Gespensts behält Derrida bei. Ausgerechnet das Erbe von Karl MarxMarx, Karl interpretiert er als Gespenstergeschichte, aber nicht wegen des gespenstischen Staatssozialismus, sondern wegen der transfaktischen Aufforderung, etwas zu rächen, was noch im Unrechtszustand blüht. Literarisches Symbol dafür ist Hamlet. Ohne Hamlet kommt keine Rechtskenntnis aus, und wer Hamlet kennt, weiß, weshalb man dem Unrecht nur widerstehen kann, wenn man das Gespenst nicht verscheucht, sondern sich mit ihm verbündet. Es ist ein »ehrliches Gespenst« (1. Akt, 5. Szene), dem man zuhören soll, und es gibt ein Zeichen, das deutlich macht, dass etwas fehlt und denjenigen, der Gespenster sieht, von der Gegenwart in eine Zeit drängt, die nicht die jetzige ist. Entweder fehlt für eine nicht abzuweisende Bedeutung aktuell ein Ausdruck, und dieser Ausdruck drängt sich gespenstisch zur Unzeit auf, scheinbar ohne Anlass und ganz unvernünftig, oder einem aktuellen Ausdruck ist die eigentliche Bedeutung abhanden gekommen. Sie wurde verdrängt und tritt zur Unzeit wieder hervor, spukt scheinbar ohne Anlass und schürt die Angst. Die Formel dazu stammt von Shakespeare, und Derrida interpretiert sie so:
|38|Wir untersuchen diesen Augenblick, der sich der Zeit nicht fügt, zumindest nicht dem, was wir so nennen. Verstohlen und einzig gehört das Erscheinen des Gespensts nicht dieser Zeit da an, es gibt nicht die Zeit, nicht diese da: Enter the Ghost, exit the Ghost, re-enter the Ghost[130].
So fremd und abseitig wie diese Regieanweisungen klingen, so viel Interpretationen und Rechtsbelehrungen haben sie bewirkt. Programmatisch ist zunächst dies festzuhalten: Die dekonstruktiven Operationen legen jene zwei Gewalten offen, die innerhalb des Rechts für Unruhe sorgen: auf »der einen Seite die Entscheidung ohne entscheidbare Gewissheit, auf der anderen die Gewissheit des Unentscheidbaren – aber ohne Entscheidung«[131]. Daraus entsteht eine erstaunliche, viel zitierte These[132], die lautet: Die DekonstruktionDekonstruktion ist die GerechtigkeitGerechtigkeit.
Sie findet sich schon gleich zu Beginn jener zweiteiligen Vorlesung, die in ihrem zweiten Teil die eben referierte Darstellung BenjaminsBenjamin, Walter zur Gewalt enthält. Derrida trug dazu auf der Conference for Critical Legal Studies in New York im Jahre 1989 vor. Adressaten waren rechtsskeptische Juristen der politischen Linken, und Derrida wurde als Sprecher eingeladen, um ihnen für das Recht eine Methode vorzustellen, die 1989 in der Interpretation von Literatur, Kunst und Philosophie – eben als »DekonstruktionDekonstruktion« – bereits einen Namen hatte[133]. Die Dekonstruktion trennt GerechtigkeitGerechtigkeit und Recht, was in der rechtsphilosophischen Tradition als durchaus bekannt gelten kann. Zur Gerechtigkeit muss man erst gelangen, man hat sie nicht. Gerechtigkeitsbewegungen kennen keine Fixpunkte, sondern machen das Scheitern des Rechts deutlich. So radikal hat es die alte Rechtsphilosophie aber nicht gesehen. Der Gerechtigkeit nähert man sich dekonstruktiv, indem man: konkrete Ungerechtigkeiten denunziert, solche Ungerechtigkeiten, die dort geschehen und deren Wirkungen besonders sinnfällig sind, wo das gute und ruhige Gewissen dogmatisch bei dieser oder jener überkommenen Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit stehenbleibt[134].
Damit wird der elementare Protest geadelt, der gleichzeitig die Bindung an bestimmte einzelne Elemente aufkündigt. Der Dogmatiker, der Jurist mit dem sprichwörtlich immer guten Gewissen, der dieses Gewissen für die Bestimmung der GerechtigkeitGerechtigkeit verwaltet – dieser Jurist sieht über kleinere oder größere Ungerechtigkeiten hinweg, solange das System im Ganzen erhalten bleibt und nicht in seinem Bestand gefährdet ist. Der Dogmatiker denunziert nicht, er verarbeitet neue Elemente im Rahmen des alten Systems.
Dennoch ist die Denunziation konkreter Ungerechtigkeit von einer Dogmatik der GerechtigkeitGerechtigkeit nur einen Steinwurf weit entfernt. Wer den Stein werfen will, |39|muss die Gerechtigkeit schon in seinem Rücken wissen. Er fühlt sie als Motiv und ist sich ihrer sicher, auch wenn er sie nicht in Sätzen beschreiben kann. Denunziation und Protest setzen insofern eine andere, nur scheinbar entgegengesetzte zweite Bewegung voraus, ohne die man Ungerechtigkeiten gar nicht beim Namen nennen kann. Man kann es nur, wenn man wenigstens in einem konkreten Moment ein entsprechend konkretes Bild davon hat, was gerecht wäre, wie Recht »jetzt, im gegenwärtigen Zeitpunkt« sein müsste[135] – und gleichzeitig kann man das doch nicht wissen, weil das Ganze sich aus der Partialperspektive nicht erfassen lässt. In dieser paradoxen Doppelung liegt alles das beschlossen, was Derrida selbst einen »Wahn« nennt. Der Wahn umkreist die Idee der Gerechtigkeit, die immer bejaht, die eine »Gabe ohne Austausch, ohne Zirkulation, ohne Rekognition, ohne ökonomischen Kreis, ohne Kalkül und ohne Regel, ohne Vernunft und ohne Rationalität im Sinne des ordnenden, regelnden, regulierenden Beherrschens« fordert[136]. Diese Forderung setzt etwas als konkret, etwas, das man einen Zustand nennen könnte, und die Aufkündigung des realisierten Zustands hält dieses Etwas wieder in der Schwebe. Es ist so wirklich wie unwirklich. Die Frage nach Gerechtigkeit begnügt sich nicht mit Rückzugspositionen, sie will geltendes, konkretes Recht werden. Eben deshalb ist sie DekonstruktionDekonstruktion, Aufkündigung des Bestehenden wie Ankündigung des zukünftig Wahren, jedoch nie präsent. Was dazwischen steht, ist Derridas zentrale Aussage: Die Gerechtigkeit ist immer unterwegs. Sie hat ihre Heimat nicht im Recht.
D. Zur Diskussion in Theorie und Anwendungspraxis
Es ist nicht überraschend, dass innerhalb der critical (legal) studies, in deren Rahmen Derrida 1989 über force of law vortrug, auch die wesentliche, zunächst theoretische Diskussion begann. Wesentlich war, was man von der DekonstruktionDekonstruktion und ihren Lektüren und Operationen politisch eigentlich halten sollte. Derrida las zwar MarxMarx, Karl und lobte ihn, vertrat aber ersichtlich keine marxistische Lehre; er las auch Carl Schmitt und Heidegger, ohne sie sogleich wegen ihrer NS-Verstrickung zu verwerfen. Was konnte das politisch heißen? Auf elegante Weise hatte Richard RortyRorty, Richard schon in den Achtzigerjahren Derrida als privaten Ironiker ins Lager der Selbstverwirklichung ohne politischen Bezug abgelegt[137]. Die möglicherweise auf Aktionismus eingerichtete Linke ist dem nicht beigetreten.
Auf einem im Jahre 1993 von Chantal MouffeMouffe, Chantal unter dem Titel »Deconstruction and Pragmatism« organisierten Symposium hat die Veranstalterin die DekonstruktionDekonstruktion als Verabschiedung einer konsenstheoretischen Illusion vorgestellt. |40|Man habe fälschlich unterstellt, »dass es möglich sei, ein ›Wir‹ herzustellen, das ›die Anderen‹ nicht beinhaltet«[138], weil der demokratische Konsens vorspiegele, es gebe so etwas wie einen alle umfassenden »Grundkonsens«. Der heute von MouffeMouffe, Chantal vertretene »linke Populismus« folgt ebenso wenig aus dieser Diagnose, wie dekonstruktives Denken einfach unpolitisch wäre. Derrida selbst hat darauf bestanden, dass »die Dekonstruktion scheinbar politisch neutral ist«, aber gleichzeitig auch – »indem sie Pfaden und Codierungen folgt, die nicht rein traditionell sind« – eine »Hyperpolitisierung« bewirke[139]. Simon CritchleyCritchley, Simon wiederum ist programmatisch der RortyRorty, Richard-These entgegengetreten, die Dekonstruktion diene allein der privaten Selbstverwirklichung und bewähre sich in einem neuen Genre der Liebesbriefe und Bekenntnisse wie in Derridas Sammlung über die Postkarte aus den Siebzigerjahren[140]. Als Gegenbeispiel führte er die beiden Vorträge zu Force of Law an und beharrte für die Dekonstruktion als Methode und Derrida als Person auf dem Prädikat des öffentlichen Liberalen[141]. Eine Gelegenheit zur Darstellung dieses öffentlichen Liberalismus bot der 1994 veranstaltete und gut dokumentierte Villanova Roundtable. John Caputo erläuterte in der Tagungsveröffentlichung, dass erst dekonstruktiv die Lücke zwischen Recht und GerechtigkeitGerechtigkeit eröffnet werde. Oberflächenbetrachter des Rechts bemerkten sie nicht. Erst wenn man sie bemerkt, wird es möglich, aus der Möglichkeit der Dekonstruktion wirkliche Schlussfolgerungen zu ziehen, denn es handelt sich nach der Konzeption von Caputo dabei keineswegs um ein beobachtend philosophisches Verfahren[142]. Dekonstruktive Eingriffe prägen einen Regimewechsel, sie formen den Übergang von altem Unrecht zu eigentlichem Recht, wobei dieser Übergang nur gelingen kann, wenn und weil es eine Wirklichkeit der Dekonstruktion gibt. Der weltweite Anwendungsfall dafür ist unter dem Titel transitional justice zum Stichwort geworden[143].
Offensichtlich ist DekonstruktionDekonstruktion notwendig, wenn ein früher als geltend erklärtes Recht heute zu Unrecht erklärt wird. Erst vom Ursprungsparadox her – vor dem Hintergrund der DifferenzDifferenz zwischen Recht und Nicht-Recht – sieht man, dass nicht etwa beliebige Inhalte zu Recht gemacht werden können. Bloßes Zurechtmachen und Herrichten schafft keine Geltung. Was abstrakt klingt, hat Marc Amstutz am Nürnberger Anklagepunkt 4 im |41|Hauptkriegsverbrecherprozess konkret verdeutlicht[144]. Dabei ging es um die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einem bis zum heutigen Tage wichtigen Topos im Völkerstrafrecht. Beruht die Verfolgung insoweit auf neuem, vorher unbekannten Recht oder war sie schon von jeher Rechtsinhalt?
Gustav RadbruchRadbruch, Gustav hat bereits im Jahre 1946 klar gemacht, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur GerechtigkeitGerechtigkeit ein Gesetz zu »unrichtigem Recht« machen kann (die sog. »RadbruchRadbruch, Gustav-Formel«)[145], und Amstutz beschreibt die methodische Bewegung dabei als supplément. Grundlegende Rechtsgehalte wirken als negatives, im Hintergrund immer gegenwärtiges, aber vordergründig marginales Verständnis und können die gesetzlichen Bestimmungen unwirksam machen. Das ist Recht, nicht Politik. Catherine Turner hat den Zusammenhang beschrieben[146]. Sie macht dabei deutlich, dass in einem dekonstruktiven Konzept von justice nicht nur ein immer schon vorhandenes regulatorisches Idealbild des Rechts steckt. Das Verlangen nach justice erweitert vielmehr die Rechtsformen. Was das praktisch heißt, sieht man am »Recht auf Wahrheit«. Dabei handelt es sich um mehr als um die Wahrheitsmäßigkeit gerichtlicher Feststellungen. Im Gegenteil: Eingeklagt wird die Notwendigkeit solcher Feststellungen beim Ausbleiben der Wahrheit. Juristen haben sich erst daran gewöhnen müssen, dass die Hinterbliebenen der Opfer der RAF keine Ruhe geben, dass die Auschwitz-Opfer von dem Wachmann Demjanjuk eine Beschreibung dessen erwarten, was er getan hat, und der Vater von Wolfgang Grams nicht hat glauben wollen, dass sein nach einem Schusswechsel mit Polizeibeamten toter Sohn einem Selbstmord erlegen wäre. Diese deutschen Beispiele stehen neben den Schicksalen Hunderttausender, die auf Verfahren warten, in denen dargestellt wird, wie ihre Angehörigen zu Tode gekommen sind. Die Praxis des argentinischen Militärregimes, Missliebige zu verschleppen und dauerhaft verschwinden zu lassen, bis den Angehörigen klar war, dass die Kinder oder Ehemänner umgebracht worden sind, hat zu einem neuen Wahrheitstyp geführt[147]. Den Müttern der Plaza de Mayo gesteht José Brunner[148] den bedeutsamsten Beitrag für die Genese eines »Rechts auf Wahrheit« zu. Den Hintergrund für das unstillbare Bedürfnis, genauen Aufschluss über den Tod zu bekommen, sieht er in der gefühlsmäßigen Verfassung derjenigen, die ein solches Recht einfordern. Susanne Buckley-Zistel verweist im gleichen Zusammenhang auf Derrida und die Verfahren der südamerikanischen Wahrheitskommissionen. Erst wenn die Wahrheit von einer Kommission |42|»aufgedeckt und archiviert wurde, kann sie – wenn auch nur vorübergehend – vergessen werden, da sie jederzeit wieder abrufbar ist«[149].
Gespenstersuche und damit »Hantologie« erweist sich in diesem Zusammenhang als Anleitung zu Urteilsanalysen. Wie man das macht, zeigt – in Anlehnung an Derridas Gespenster-Buch über MarxMarx, Karl – Christiane Wilke[150]. Sie behandelt das Reinwarth-Urteil des BGH aus dem Jahre 1995, durch das ein SED-Richter nach über 40 Jahren wegen von ihm selbst für falsch gehaltener Todesurteile wegen Rechtsbeugung verurteilt worden ist. Im Urteil liest man dementsprechend ein selten formuliertes Eingeständnis verfehlter Rechtsprechung: »Die vom Volksgerichtshof gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben, keiner der am Volksgerichtshof tätigen Berufsrichter und Staatsanwälte wurde wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebenso wenig Richter der Sondergerichte und der Kriegsgerichte«[151]. Das bis dahin geübte Unterlassen suchte die spätere Rechtsprechung als deren Gespenst heim. Die gleiche MetapherMetapher verwendet Linda Roland Danil in der Relektüre einer Entscheidung des britischen Supreme Courts über die Täter eines 1948 im damaligen British Malaysia begangenen Massakers[152]. In Keyu and Others vs. Secretary of State and Others[153] gründete das britische Gericht die Klageabweisung auf Verjährung – ein immer zweifelhaftes und Einwänden ausgesetztes Argument, wie auch die Entscheidung des EGMR im polnischen Katyn-Fall zeigt[154]. Alle diese Argumentationen jenseits parlamentarisch (oder diktatorisch) gesetzten Rechts benutzen dekonstruktive Teilelemente. Alle Anwendungsfälle haben ein wiederkehrendes Merkmal: Die rechtliche Beurteilung verlangt, die Setzungen einer einzelstaatlichen Gewalt zu überschreiten. Erst die »Dissoziation von Staatsgewalt und Recht«[155] lässt offenbar werden, wo das Recht Kraft gewinnen kann.
Niklas LuhmannLuhmann, Niklas hat – von seinen Ausgangspunkten her nicht selbstverständlich – der DekonstruktionDekonstruktion einen besonderen Platz im aktuellen Theoriebetrieb zugewiesen. Dekonstruktiv erledige man genau das, »was wir jetzt tun können«[156], und das heißt, dass wir nicht mehr die Welt beschreiben, sondern zu sehen versuchen, wie die Welt beschrieben wird, was unvermeidlich deren Zerlegung in Elemente – Dekonstruktion eben – nach sich zieht. Was das für Rechtsphänomene heißt, hat in der LuhmannLuhmann, Niklas-Nachfolge Gunther TeubnerTeubner, Gunther demonstriert. Dekonstruktiv deutet Teubner das Gerechtigkeitsdenken als |43|»Transzendenzerfahrung, die gerade nicht mit religiöser Transzendenz identisch ist«[157]. Zu Teubners Repertoire gehört die ParadoxieParadoxie-Entfaltung. Wo LuhmannLuhmann, Niklas noch schnelles Weitergehen empfahl, damit man nicht völlig verwirrt werde, praktiziert TeubnerTeubner, Gunther genaues Hinsehen und fallweise Beschreibungen, und im Ergebnis wird man als Jurist unruhig. Denn die Beobachtung zweiter Ordnung verlangt durchaus nach Eingriffen und führt keineswegs zur Erstarrung. Teubner entlehnt dafür von Rudolf Wiethölter die »Rätselformel«, moderne Rechtspflege sei Pflege der RechtsparadoxieParadoxie wie zugleich ihrer Erhaltung und Behandlung[158]. Die Untersuchungen dazu konzentrieren sich beispielhaft auf transnationale Rechtsphänome. So treffen aufeinander der national ganz unterschiedliche Schutz des Copyrights und die international gleichförmige, internetgestützte Kommunikation über Werke, es widersprechen sich der Patentschutz für Medikamente durch nationale Behörden und der lebenserhaltende, weltweite Bedarf an solchen Medikamenten oder – das ist bereits erwähnt – das nationale Interesse an Prozesserledigung und die internationale Nachfrage nach menschenrechtlich geschützter Wahrheit[159]. TeubnerTeubner, Gunther besteht nun zwar darauf, dass das Auffinden solcher Widersprüche mit einer evolutionären Umgestaltung des Rechts zu verbinden sei und nicht (im Sinne von LévinasLévinas, Emmanuel) in eine Suche nach etwas anderem als Recht versickert[160], vorläufig beschränken sich aber die Andersartigkeiten des Rechts entweder auf andere Hintergrundsannahmen in der Methodenlehre oder bestehen in einem humanitären Appell, wie ihn Derrida selbst[161] für einen Kongress der »villes-refuge« im Jahre 1995/6 (!) als Plädoyer für unbedingte Gastfreundschaft (hospitalité inconditionelle) gehalten hat.
Das ist nicht wenig. In der deutschen Methodenlehre herrscht bis zum heutigen Tage die stillschweigende Hintergrundannahme, das Gesetz bestimme die Entscheidung. Ein solches Dogma bestimmt die kontinentale universitäre Juristenausbildung, auch wenn es dadurch verfeinert wird, es seien mit und neben dem Gesetz weitere Texte zu berücksichtigen, deren Bedeutung oder Geltungssinn die Rechtlichkeit einer Entscheidung ausmachen soll. Der Einwand gegen die DekonstruktionDekonstruktion geht beispielsweise dahin, dass sich hinter einer Ethik des Anderen auch nichts anderes als der Gleichheitssatz verberge[162]. Das universalistische Potential menschlicher Sprachen werde dabei unterschätzt[163]. Der Rechtsanwender habe sich wie der Adressat von Rechtsnormen »an der generellen Norm |44|zu orientieren«, so dass die von Derrida beförderte Einzelfallorientierung die Hauptfunktion des Rechts, seine Regelhaftigkeit[164], bedrohe. Auch in der Rechtstheorie wird die Philosophie Derridas bis auf Weiteres nur als Mittel zu Infragestellungen einer Regel vorgestellt[165].
Grundlegende Qualität entfalten Derridas Texte erst in einer Methodenlehre, die in operative Einzelheiten zerlegt, was Rudolf Wiethölter programmatisch so umformuliert: Nicht Rechtsanwendung, sondern »Rechts-Gewinnung« als Begründung in Anwendung, eher »Herstellung« als »Darstellung« charakterisiere die juristische Arbeit[166]. Friedrich Müller und Ralph Christensen setzen diese Bewegung in Methodik um mit der Formel, das »rechtsstaatlich Zulässige« sei vor der Folie des »methodisch Möglichen« zu bestimmen, sodass der Gesetzestext ein heterogenes »Gewebe von DifferenzenDifferenz« enthalte[167], dessen Sinn in einem gestuften Konkretisierungsvorgang zu bestimmen, aber nicht, auch nicht in der Form einer gesetzlichen Regel vorgegeben sei. Der Normtext wird im dekonstruktiven Sinne als Eingangsgröße für die Arbeit der Konkretisierung verstanden, enthalte sie aber nicht bereits[168]. Müller/Christensen zeigen an der neu entstandenen europäischen Rechtsordnung und Rechtsprechung, dass der Normtext erst dadurch funktioniere, dass er von einer vordefinierten Bedeutung durch den »Sender« abgeschnitten sei. Marc Amstutz untersucht dazu die Wirkungsweise des europarechtlichen Gebots richtlinienkonformer Auslegung und bezeichnet den Prozess als »evolutorische Kollisionsauflösung«[169]. Es wird zu einer dekonstruktiven Operation, bei jeder neuen Verwendung zu berücksichtigen, dass der Sinn einer Norm nicht einfach identisch wiedergegeben, sondern verschoben »und neuen, unvorhergesehenen Situationen aufgepfropft« werde[170]. In der Regensburger Habilitation von Joachim Goebel waren schon im Jahre 2001 Vorschläge enthalten, wie man »Traditionsschutt«, den der angeblich überlieferte Gesetzestext angehäuft habe, wieder wegräumen könne, nämlich durch ein Rechtsgespräch als Gegenmittel zu »überbordender Theorie«[171] und Medium zur Artikulation »des Anderen«[172]. Goebels Arbeit ist am Privatrecht orientiert und vertieft demgemäß |45|die gesprächsorientierten Normen der ZPO, von dessen Magna Charta (§ 139 I ZPO) über § 278 ZPO bis zu Art. 103 GG[173]. In der Betonung des Rechtsgesprächs kann man eine Reverenz an die UnentscheidbarkeitUnentscheidbarkeit sehen, die Derrida als Grundlage und Ergebnis aller paradoxalen Sprachbemühungen hervorgehoben hat. Ihr entspricht die mit Derrida und LévinasLévinas, Emmanuel entwickelte Mediationskultur von Stephan Schmitt[174]. Im Medium der Gerichtsstatistik und als Tendenz ausgedrückt: Es wird zunehmend mehr verglichen und weniger entschieden[175].