Kitabı oku: «Neue Theorien des Rechts», sayfa 5
E. Zur Lektüre
Um einen eigenen Eindruck von der Arbeit der DekonstruktionDekonstruktion zu gewinnen, ist es unerlässlich, eigene Texte von Derrida zu lesen. Wer literarisch interessiert ist (d.h. auch Kafka liest), sollte mit der Studie vor dem Gesetz (Préjugés) beginnen. Wer politisch argumentiert, wählt stattdessen den Essay über Schurken. In jedem Fall muss man den Vortrag zur Gesetzeskraft lesen. Einen Einstieg vermittelt auch der kurze Text zur Politik des Eigennamens, der von der Gründungsurkunde der amerikanischen Verfassung handelt. Zum Verfahren der Dekonstruktion ist die Literatur nicht mehr zu übersehen, denn als Interpretationsstil oder -methode wird sie in der Literaturwissenschaft gebraucht und hat dort einige Zeit lang als besonders angesagt gegolten. Ich bevorzuge heute den schönen und im Verhältnis zu Derrida kongenialen Text von John Caputo und empfehle im Übrigen den Überblick des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Culler. Für deutsche Freunde der Systemtheorie bietet sich Niklas LuhmannsLuhmann, Niklas Aufsatz zur Dekonstruktion an. Was die juristische Rezeption anbelangt, kann man grundsätzlich von Gunter TeubnerTeubner, Gunther lernen. Die derzeit beste Derrida-Anwendung – in ihrem Fall von MarxMarx, Karl’ Gespenster – bietet Christiane Wilke.
F. Literaturhinweise
Derrida, Jacques, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« (1990), Frankfurt am Main 1991.
ders., Préjugés. Vor dem Gesetz (1985), Wien 1992.
ders., Schurken. Zwei Essays über die Vernunft (2003), Frankfurt am Main 2006.
ders./Caputo, John D., Deconstruction in a nutshell: a conversation with Jacques Derrida, New York 1997.
|46|ders./Kittler, Friedrich, Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht (1984), Berlin 2000.
Culler, Jonathan, Dekonstruktion (1982), Reinbek 1988.
Luhmann, Niklas, Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung, in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001.
Teubner, Gunther, Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter, in: Joerges, Christian/Teubner, Gunther (Hrsg.), Rechtsverfassungsrecht. Recht-Fertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, 25–45.
Wilke, Christiane, Enter Ghost: Haunted Courts and Haunting Judgments in Transitional Justice, Law Critique 21, 2010, 73–92.
|47|SystemtheorieSystemtheorie des Rechts: Teubner und Luhmann
Kolja Möller
Die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts knüpft an Erkenntnisse der Soziologie zur funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft an. Der Ausgangspunkt besteht darin, dass sich Gesellschaften in einem andauernden Evolutionsprozess befinden. Er ist von der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Teilsysteme – wie Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und auch Recht – gekennzeichnet, die ihre KommunikationKommunikation selbstreferentiell schließen und sich auf je eigene Funktionen spezialisieren: »Ein System kann man als selbstreferentiell bezeichnen, wenn es die Elemente, aus denen es besteht, als Funktionseinheiten selbst konstituiert und in allen Beziehungen zwischen diesen Elementen eine Verweisung auf diese Selbstkonstitution mitlaufen lässt, auf diese Weise die Selbstkonstitution also laufend reproduziert«[176]. Demnach wird auch Recht als ein sich selbst konstituierendes Sozialsystem verstanden. Es verkettet Kommunikationen, die sich am Code Recht/UnrechtUnrecht orientieren, und verweist alle anderen Kommunikationen in seine soziale Umwelt.
Die Grundlagen für die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts haben vor allem der Soziologe Niklas LuhmannLuhmann, Niklas und der Rechtstheoretiker Gunther TeubnerTeubner, Gunther ausgearbeitet[177]. Beide verbinden auf je eigene Weise schon bestehende Erkenntnisse der Soziologie zur Bildung sozialer Systeme mit dem Wissensstand der Evolutionsforschung und der Kybernetik. Niklas LuhmannLuhmann, Niklass und Gunther TeubnerTeubner, Gunthers Arbeiten sind zwischenzeitlich zu einschlägigen Bezugspunkten avanciert. Dies gilt für die Diskussionen um die Europäisierung und TransnationalisierungTransnationalisierung des Rechts, um die Krise und die Zukunft des Wirtschaftsrechts, um die Politik des Rechts genauso wie für die Herausforderungen, die sich im Zuge der Post- und Dekolonialisierung stellen[178]. Stets bestehen die systemtheoretischen Forschungsarbeiten darauf, |48|dass erst die Annahme einer funktionalen Differenzierung in der Lage ist, rechtliche Entwicklungen aufzuklären und ihre Kritik anzuleiten.
Im Folgenden soll zunächst skizziert werden, wie die funktionale Differenzierung des Rechts zu verstehen ist (I.). Sodann wird vertiefend nachgezeichnet, welche Impulse die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts seit den 1980er Jahren im Hinblick auf die jeweiligen rechtspolitischen und rechtstheoretischen Herausforderungen gegeben hat (II.). Dabei tritt hervor, wie die systemtheoretischen Grundlagen für die Analyse und Kritik des Rechts fruchtbar gemacht wurden (II.1.- II.2.) – bis hin zu aktuellen Suchbewegungen nach einer Kritischen Systemtheorie (II.3.), die das Verhältnis von Recht und Gesellschaft einer nochmaligen Betrachtung unterziehen.
A. Funktionale Differenzierung des Rechts
I. Recht und soziale Evolution
Die SystemtheorieSystemtheorie begreift die Ausdifferenzierung des Rechts als Teil eines breiteren Evolutionsprozesses. Gesellschaften, so die Annahme, entwickeln sich nicht zweckgerichtet und planbar. Eher ist zu beobachten, wie sich untergründig und teils ungeordnet-anarchisch evolutionäre Mechanismen herausbilden, die die jeweiligen Kommunikationsverhältnisse organisieren[179]. Ein besonderer Fall sind soziale Systeme. Dort verketten sich Kommunikationen in einem selbstreferentiellen Zirkel immer wieder aufs Neue, bis sie »im Selbstvollzug« zu Systemen gerinnen[180]. Dies gilt auch für das Recht. Nicht die politische KommunikationKommunikation, die wirtschaftliche Kommunikation oder die wissenschaftliche Kommunikation sind der Grund des Rechts. Es ist das Recht selbst, »das seine eigenen Grenzen im Verhältnis zur Umwelt erzeugt« und sich von allen anderen Kommunikationsverhältnissen abgrenzt[181]. Das Recht selbst produziert »alle Unterscheidungen und |49|Bezeichnungen, die es verwendet«, so dass sich die »Einheit des Rechts« als »Faktum der Selbstproduktion, der ›AutopoiesisAutopoiesis‹« darstellt[182].
Die grundlegende Einheit, die die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts beobachtet, ist KommunikationKommunikation. Sie wird als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen fassbar[183]. Die Systemtheorie analysiert mit diesem Zugriff die Stabilität und den Wandel der juridischen Kommunikationsverhältnisse. Diese Umstellung der Analyseperspektive auf Kommunikation erstreckt sich bis auf den »Menschen«, der ja in vielen Fällen Gegenstand juridischer Kommunikation ist. Vom Standpunkt der Systemtheorie dient die verallgemeinernde Rede vom »Menschen«, um einen Ort zu kennzeichnen, an dem unterschiedliche Kommunikationen affektiv-psychischer, körperlicher und sozialer Provenienz zusammenspielen. Die vermeintliche Einheit des Subjekts täuscht darüber hinweg, dass es stets »Kommunikationszusammenhänge« sind, die »Menschen bezeichnen«[184]. Die Differenzierung der Kommunikationsverhältnisse zerlegt das Subjekt in unterschiedliche Kontexte. Denn die jeweiligen Systeme erkennen nur spezifische Personenrollen in ihren Kommunikationskreisläufen an. Menschen sind Marktteilnehmer_innen, Käufer_innen, Verbraucher_innen, Gesunde, Kranke oder Wähler_innen, die jeweils nur hinsichtlich ihrer Inklusion in ein gesellschaftliches Subsystem zu Personen werden. Das Subjekt ist nur sinnvoll als Knotenpunkt unterschiedlicher Personenrollen zu erschließen. Dementsprechend ist auch das Rechtssubjekt der Effekt einer kommunikativen Bezeichnung des Rechts und keine vorausliegende Einheit. Dies bedeutet nicht, dass die Systemtheorie inhuman verfährt, wenn sie solche Einheitsfiktionen freilegt. Im Gegenteil versucht sie, den jeweiligen gesellschaftlichen Phänomenen tatsächlich auf den Grund zu gehen und sie möglichst angemessen zu rekonstruieren.
Nun hat zwar schon immer KommunikationKommunikation über Regeln, Normen oder Gesetze stattgefunden, doch der entscheidende Schritt zur Systembildung, der die rechtlichen Operationen selbstständig aus dem »Netzwerk eigener Operationen« heraus generiert, tritt erst im Übergang zur modernen Gesellschaft ein[185]. In einem langen Prozess, der mit der Entdeckung römischer Rechtsquellen im 12. und 13. Jahrhundert beginnt, entwickelt sich ein juridischer Spezialdiskurs, der das Recht von allen anderen sozialen Sphären abgrenzt[186]. Das Recht gewinnt |50|schrittweise an Eigenständigkeit: Im Recht gelten nur noch Rechtsbegriffe, Gerichte und Rechtsgelehrte werden damit betraut, das Recht anzuwenden und es fortzuentwickeln. So schließt sich das Rechtssystem und grenzt sich von seinen sozialen Umwelten ab. Unter den »sozialen Umwelten« versteht die SystemtheorieSystemtheorie nichts Vorgängiges oder Wesenhaftes. Die Umwelt bleibt ein »systemrelativer Sachverhalt«: »Jedes System nimmt nur sich aus seiner Umwelt aus. Daher ist die Umwelt eines jeden Systems eine verschiedene. Die Umwelt ist nur ein Negativkorrelat des Systems«[187]. An dieser Stelle zeigt sich die Radikalität der Selbstreferenz, denn erst die Systembildung bringt die Unterscheidung zwischen System und Umwelt hervor. Wer Anschluss im Recht finden will, muss sich auf diesen Typ der kommunikativen Selbstreferenz einlassen. Politische, wirtschaftliche oder wissenschaftliche Kommunikation kann jedenfalls nicht vollkommen unvermittelt auf das Rechtssystem zugreifen, sondern muss in juridische Grammatik überführt werden, um dort anschlussfähig zu sein.
Gunther TeubnerTeubner, Gunther hat in seiner Rechtstheorie ein ausführliches Modell vorgeschlagen, das diese Differenzierung ausleuchtet[188]. Er untersucht hier, wie sich die Systembildung im Recht vollzieht, und unterscheidet zwischen Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Selbstreproduktion des Rechts[189]. Demnach intensiviert sich die Selbstreferenz des Rechts – von der bloßen Beobachtung der eigenen Systemkomponenten über den »operativen Umgang« mit diesen Komponenten bis hin zu ihrer »rekursiven Herstellung«. Aus der Verkettung dieser Prozesse entsteht schließlich ein »selbstreproduktiver Hyperzyklus«, der dem Recht als Sozialsystem zur Eigenständigkeit verhilft[190]. Der Hyperzyklus setzt die Rechtskommunikationen einer nochmaligen Beobachtung aus: Das Recht beobachtet nicht nur seine sozialen Umwelten, es beobachtet insbesondere sich selbst und setzt eine Selbstreflexion, d.h. eine juridische KommunikationKommunikation über die juridische Kommunikation in Gang[191]. Auf diese Weise wird im Recht nicht nur zwischen Recht und UnrechtUnrecht entschieden, sondern es entstehen ebenso »Argumentationszusammenhänge über die systemeigene Identität«, die versuchen, das was als Recht gilt, immer wieder aufs Neue zu bestimmen[192]. Diese Selbstbezüglichkeit des Rechts, in der Operationen auf sich selbst angewendet werden, verknüpft Rechtsverfahren, Rechtsakte, Rechtsnormen und Rechtsdogmatik und setzt sie einer nochmaligen Beobachtung aus[193].
|51|An dieser anspruchsvollen Grundstruktur der Selbstreferenz wird schon deutlich, dass es vorschnell wäre, nur eine starre Geschlossenheit am Werk zu sehen. Das Recht schließt sich nicht nur einseitig, sondern reguliert die eigene Selbstreproduktion. Insbesondere liegen auch kommunikative Möglichkeiten vor, die das, was bisher als Recht oder UnrechtUnrecht gilt, revidieren, oder die Verfahren, in denen die Unterscheidung angewendet wurde, verändern. Jede Entscheidung zwischen Recht und Unrecht kann in einem infiniten Regress einer nochmaligen Beobachtung vom Typ Recht/Unrecht unterzogen werden – und so eröffnet das Recht als geschlossenes System den Spielraum für einen kreativen Umgang mit dem jeweils gegebenen kommunikativen Variationspool[194]. Diese Spielräume drücken sich insbesondere in Deutungskämpfen innerhalb der Rechtsdogmatik und um Rechtsentscheidungen aus. Dort werden Konflikte um Veränderungs- und Anpassungsbedarfe in juridischer Grammatik ausgetragen. Und es kann auch dazu kommen, dass sich das Recht nicht nur von seinen sozialen Umwelten abgrenzt, sondern auch auf die Abhängigkeit von Umwelteinflüssen reflektiert und sich auf dieser Grundlage verändert[195]. Insofern bedeutet die operative Geschlossenheit des Rechts, wie sie die SystemtheorieSystemtheorie annimmt, ausdrücklich keine absolute, sondern nur eine relative bzw. relationale Geschlossenheit, die von einer inneren Reflexivität gekennzeichnet ist: Das Recht kann sich im Recht selbst zum Thema machen, sich veränderten sozialen Umweltbedingungen anpassen und verändern.
Die Funktion des Rechts wiederum besteht in der »Stabilisierung normativer Erwartungen«. Das Recht legt fest, mit »welchen Erwartungen man sozialen Rückhalt findet und mit welchen nicht«[196]. Dieser Rückhalt ist so stark, dass diese Erwartungshaltungen auch dann aufrechterhalten und durchgesetzt werden, wenn sie im Einzelfall enttäuscht werden. In den jeweiligen Sozialsystemen sind also nur solche Kommunikationen anschlussfähig, die an die prägenden Codierungen anschließen. Während das politische System entlang der Codierung Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit strukturiert ist und sich darauf versteht, kollektiv bindende Entscheidungen herzustellen, die Wirtschaft entlang der Codierung Zahlung/Nicht-Zahlung kommuniziert[197], orientiert sich das Rechtssystem an der Unterscheidung Recht/UnrechtUnrecht und sorgt für die Stabilisierung normativer Erwartungen, indem es auch dann die Geltung von Normen behauptet, wenn sie in der Realität gebrochen oder nicht befolgt werden.
|52|II. Realparadoxien des Rechts
Auf diese Weise verkompliziert sich die Selbstreferenz. Was sich vordergründig als selbstinteressierte Unabhängigkeit oder Verselbstständigung darstellt, ruht am Ende doch auf einer Fremdreferenz im Hinblick auf die sozialen Umwelten auf. Die Selbstreferenz wird nur durch Abgrenzung und Bezug auf die jeweilige soziale Umwelt möglich. Recht grenzt sich von anderen Sozialsystemen, wie Wirtschaft, Religion oder Politik ab, muss sich dabei aber auch auf eine diffuse soziale Umwelt einstellen oder wenigstens mit ihr rechnen[198]. Am Beginn jeder Systembildung steht folglich eine Unterscheidung zwischen Innen und Außen[199]. Sie ruft kommunikative Anschlussmöglichkeiten genauso wie den Ausschluss einer nicht-markierten Außenseite hervor. Damit legen die Systeme auch »Schnitte in die Welt« oder »verletzen« sie gar[200]: Sie greifen in den unmarked state ein und transformieren ihn in das Negativkorrelat der Innenseite des Systems (unmarked space)[201]. Dies führt in eine Fundierungsparadoxie, da sich die jeweiligen Formen gegenüber ihren Umwelten selbstreferentiell schließen und doch konstitutiv auf sie bezogen bleiben. Als Irritation, als Rauschen, als das Andere oder gar als Bedrohung des Systems können sie nie vollständig verdrängt werden[202]. Soziale Systeme sind also nicht vollkommen unabhängig und geschlossen, sondern auch umweltabhängig und in gewisser Hinsicht offen.
Die SystemtheorieSystemtheorie des Rechts beobachtet, wie die Unterscheidung zwischen System und Umwelt einen Wiedereintritt innerhalb des Systems finden kann. LuhmannLuhmann, Niklas beschreibt diesen voraussetzungsreichen Vorgang als re-entry[203]. Das Rechtssystem erschließt auf diesem Wege die Spielräume, um die Grenzen zwischen Recht und Nicht-Recht zu thematisieren, sie zu verschieben, oder das, was als Recht gilt, zu erneuern. Die einschlägige Formel lautet: »re-entry der Unterscheidung in das Unterschiedene«[204]. Demnach ist zu beobachten, dass ein |53|Wiedereintritt der Unterscheidung zwischen Recht und Nicht-Recht stattfindet, und zwar innerhalb des Rechts. Die Unterscheidung zwischen System und Umwelt wird dann innerhalb des sich schon von der Umwelt abgrenzenden Systems thematisch. Im Sinne eines crossing überquert das Außen die Grenze zwischen Innen und Außen und die Umwelten treten auf der Innenseite wieder auf.
Die Möglichkeit eines solchen Wiedereintritts ist von hoher Bedeutung, da das Recht dadurch eine eigene Reflexivität ausbildet, wenn es sich selbst zum Gegenstand der Kritik und Erneuerung macht. So treten Momente ein, in denen die überlieferten Routinen und Lehrmeinungen, die dogmatischen Figuren und Auslegungstechniken grundsätzlich zur Diskussion gestellt und gegebenenfalls verändert werden. Insbesondere wird dann auch danach gefragt, ob das Recht noch der »Gesellschaft« gerecht wird, ob und wie es von anderen Sozialsystemen, etwa der Politik, der Wirtschaft, der Religion oder den Bewusstseinssystemen der Individuen, abhängt und was daraus zu schlussfolgern ist: Soll sich das Recht responsiv zu seinen sozialen Umwelten verhalten oder im Gegenteil darauf bestehen, dass es sich gerade nicht von außen irritieren lässt[205]? Ein klassisches Beispiel, an dem dieses Problem auf sich aufmerksam macht, entstammt der Verfassungsrechtsprechung. Dort stellt sich die Frage, ob die VerfassungVerfassung als »lebende Verfassung« zu verstehen ist, die sich verändernden gesellschaftlichen Umständen anpasst, oder ob sie gerade im Gegenteil als Grundentscheidung gilt, die rechtliche Normen und Prinzipien vor ständiger Veränderung durch die Gesellschaft abschirmt[206].
Die SystemtheorieSystemtheorie zeigt, wie das Recht diese Fundierungsprobleme in der Regel verdrängt. Es hält feine Techniken der Ent-Paradoxierung bereit, um den Rechtsbetrieb am Laufen zu halten. Vor Gericht darf nicht andauernd reflektiert, es muss entschieden werden[207]; ein Ausstieg aus dem Rechtscode ist nicht möglich, und der kommunikative Anschluss an die »h.M.«, die herrschende Meinung, begrenzt ab initio, was überhaupt infrage zu stellen ist. Doch es ergeben sich auch Spielräume, die auf eine Öffnung der bestehenden Entscheidungsroutinen und Rechtsbegriffe hinauslaufen. Das Einfallstor, um die Fundierungsparadoxien wieder sichtbar zu machen, sind sogenannte »Kontingenzformeln«, d.h. Formeln, die darauf zielen, die jeweiligen Kommunikationen einer weiteren, übergreifenden Beobachtung auszusetzen und ihre Änderbarkeit zu gewährleisten. Im Fall |54|des Rechts dient die »Gerechtigkeit« als Orientierungspunkt, um Grundsatzfragen und Revisionsbedarf aufzuwerfen[208]. Wird die Gerechtigkeit des Rechts angesprochen, tritt eine Reflexion auf die jeweiligen Grenzziehungen ein, die sich bis zur subversiven Überschreitung des bisherigen Rechtshorizonts steigern kann[209]. Jüngere rechtstheoretische Arbeiten beobachten darüber hinaus im Hinblick auf die Globalisierung von Funktionssystemen, wie Weltwirtschaft oder Weltpolitik, dass insbesondere die Menschenrechte eine ähnliche Funktion übernehmen. Im Gegensatz zur überlieferten Rechtsphilosophie, die sich eifrig um den besonders weiten oder engen Umfang der Menschenrechte streitet, wird hier ihr reaktiver Charakter betont. Sie sind das Medium, in dem das globalisierte Recht auf seine Umweltbezüge reflektiert und sich für Ansprüche der sozialen Umwelten – hier der »Menschen« – öffnen kann[210].
III. VerfassungVerfassung als strukturelle Koppelung von Recht und Politik
Aus diesen Überlegungen resultiert ein innovativer Zugriff auf den Begriff der VerfassungVerfassung und die Tradition des Konstitutionalismus. In der Rechts- und Verfassungstheorie war immer umstritten, ob die Verfassung am Ende als Ausdruck einer vorgängigen politischen Entscheidung des »Volkes« oder als notwendige Folge rechtlicher Herrschaftsbegrenzung verstanden werden sollte[211]. Die SystemtheorieSystemtheorie argumentiert hier nuancierter. Die Verfassung wird nicht einseitig auf den Vorrang politischer Entscheidung oder rechtlicher Herrschaftsbegrenzung zurückgeführt; vielmehr gilt sie als evolutionäre Errungenschaft, in der die beiden Funktionssysteme Recht und Politik eine wechselseitige Verbindung eingehen. Die Verfassung reagiert auf die »Differenzierung von Recht und Politik« und »den damit gegebenen Verknüpfungsbedarf«[212]. Wiederum ist die funktionale Differenzierung entscheidend: Recht und Politik differenzieren sich schrittweise aus und sind in der Verfassung systematisch i.S. einer strukturellen Koppelung aufeinander bezogen. Als strukturelle Koppelung bezeichnet die Systemtheorie |55|die jeweiligen Interpenetrationen, die entstehen, wenn »ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft« voraussetzt und sich auf sie »verlässt«[213]. Durch Verfassungsbildung wird das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen (Politik) rechtlich formalisiert (und dadurch ermöglicht und beschränkt), und umgekehrt wird die Stabilisierung normativen Erwartens (Recht) an die Politik, insbesondere die Gesetzgebung, angebunden. Ist diese Ko-Evolution der beiden Systeme erst einmal in der Verfassung institutionalisiert, verändert sich die Codierung des rechtlichen und politischen Systems. Denn sowohl der politische Machtcode (Machtüberlegenheit/Machtunterlegenheit) als auch der Rechtscode (Recht/UnrechtUnrecht) müssen sich zusätzlich einer Beobachtung vom Typ verfassungsgemäß/verfassungswidrig aussetzen, die als höherrangig gilt[214]. Dann »hebt die Verfassung ab«[215]. Sie hält nicht nur fest, wie Recht, Politik und Gesellschaft zusammenspielen und sich voneinander abgrenzen, sie hält auch eine Option der Revision und Erneuerung bereit. Mit Bezug auf die höherrangige Verfassung werden Rechtsentscheidungen und politische Entscheidungen neu verhandelt und sowohl bestehende Institutionen als auch gesellschaftliche Bewegungen können sich von dort aus zum Handeln ermächtigen. Die Kämpfe um die Verfassung und ihre Normen machen die Grenzziehungen zwischen Recht, Politik und Gesellschaft der Veränderung zugänglich. Diese höherrangige, konstituierende Verfassungspolitik knüpft zwar an die etablierte Selbstreferenz in Recht und Politik an, vermag sie aber gleichsam zu revolutionieren[216].
Die dort stattfindenden Kämpfe verhelfen sich nun nicht einzig als verallgemeinerte politische Gründungsmomente im Sinne von »constitutional moments« zum Ausdruck, sondern funktional spezifiziert in der Codierung der jeweiligen Funktionssysteme. Die Verfassungsfrage stellt sich nicht nur im Hinblick auf die großen Gründungsmomente der Politik, sondern ebenso in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, etwa im Bereich der Wirtschaft und der Wissenschaft. Auch hier findet eine Ko-Evolution des Rechts mit anderen Funktionssystemen statt, die sich im Medium einer höherrangigen Ordnung stabilisieren. Deshalb muss ein angemessener Zugriff auf die Tradition des Konstitutionalismus diese Vielfalt präsent halten. So erweitert sich der Blick über die politische VerfassungVerfassung hinaus für einen gesellschaftlichen Konstitutionalismus, der in der Rechtsevolution schon immer angelegt war (beispielsweise als Wirtschafts- und Sozialverfassung, als Verfassung von Wissenschaft und Forschung oder als Kirchenverfassung im Religionssystem)[217].
Im Hinblick auf die Frage, ob die VerfassungVerfassung aus einer politischen Entscheidung hervorgeht oder die Herrschaftsausübung rechtlich bindet, nimmt die |56|SystemtheorieSystemtheorie eine funktionale Betrachtungsweise ein. Das Paradox der Verfassung, sich einerseits auf die noch ungebundene politische Gründungsmacht des Volkes zu gründen, das Volk aber im selben Schritt aufs Recht zu verpflichten, führt zwar zu lebhaften Diskussionen in der Staats- und Verfassungslehre über Vor- und Nachrangigkeiten, Über- und Unterordnungen des Rechts unter die Politik oder der Politik unter das Recht. Doch gerade die paradoxe Unbestimmtheit erfüllt eine wichtige Funktion. Sie besteht in der Externalisierung der jeweiligen Fundierungsparadoxien. Indem »die Verfassung […] die politisch ungebundene Souveränität an die Verfahren des Rechts« bindet, externalisieren beide Systeme ihre jeweiligen Fundierungsprobleme »reziprok«[218]. Denn mit der Verfassung im Rücken weist die Politik darauf hin, dass die Gründungs- und Grundsatzfragen der Ordnung letztlich rechtliche Fragen sind, die von Verfassungsgerichten und nicht von politischen Gremien zu bearbeiten sind. Und umgekehrt wird in rechtlichen Verfahren darauf hingewiesen, dass die Politik für die Grundentscheidungen verantwortlich ist, die den Handlungsspielraum der Gerichte übersteigen. Jedes System verweist so die eigenen Fundierungsprobleme an das jeweils andere Sozialsystem und kann seine kommunikativen Routinen weiterverfolgen.
Insofern übernimmt das Paradox der VerfassungVerfassung eine wichtige Funktion, indem es eine Entlastung der jeweiligen Funktionssysteme bewirkt. Recht und Politik erbringen wechselseitige Leistungen füreinander und entlasten sich in einer Art Daueroszillation von ihren eigenen Gründungsproblemen. Wenn die Verfassungs- und Rechtstheorie zwischen politischem Dezisionismus und rechtlicher Bindung, zwischen Carl Schmitt (Politikprimat) und Hans Kelsen (Rechtsprimat) hin- und her laviert oder Mittelwege entwirft, entfaltet sie nicht nur ein begriffliches Problem, sondern ein Realparadox, das seinerseits entscheidend zur Evolution von Recht und Politik beiträgt.