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4. Paulus Melissus SchedeSchede, Paulus Melissus

Betrachten wir nun die Pindarischen Oden des Paulus Melissus Schede.1 Deren metrische Gestaltung stellt auch bei dem deutschen Dichter einen Gegenstand der poetologischen Reflexionen dar. Hierbei ist ein programmatisches Gedicht von Bedeutung, das bereits 1580 in den Mele veröffentlicht wurde (Hendecasyllabum ad Hieronymum Baumgartnerum):2


Pindarum studiosus aemulari, 1
ceratis ope et Daedalea
pennis nititur, altius volando,
ponto nomina vitreo daturus.
Nos haud immemores Horatiani 5
praescripti, tamen improbo labore
volvimus, numerisque lege nusquam
solutis ferimur, sua recentem
regula pedem ubique metientes. 10

Wer bestrebt ist, mit Pindar zu wetteifern, stützt sich auf wächserne Schwingen und auf die Kunst des Daedalus und schickt sich an, einem gläsernen Meer seinen Namen zu geben. Ich habe die Vorschrift des Horaz nicht vergessen, dennoch wälze ich in frevlerischer Arbeit die neuen Worte eines kühnen DithyrambusDithyrambos, in Versen, die nirgends von einem Gesetz entbunden sind, werde ich getragen und messe überall den neuartigen Vers an seinem eigenen Versmaß.

Hier zeigt SchedeSchede, Paulus Melissus beachtliches Selbstbewusstsein, indem er anzeigt, dass er sich nicht von der horazischen Warnung vor einer aemulatio mit Pindar abhalten lassen will. Er bekennt sich in Anlehnung an Vergil zu einem labor improbus, der Autoritäten missachtet, dafür jedoch Fortschritt ermöglicht. Bei SchedeSchede, Paulus Melissus wird der Dichter von RhythmenRhythmus getragen, die nirgendwo vom Gesetz entbunden sind. Wie er dabei vorgeht, erklärt der folgende Satz: Er messe jeden seiner neuartigen Verse an seiner eigenen Regel. Hiermit beschreibt der Dichter seine innovative metrische Technik. Der Terminus pes verweist hier synekdochisch auf den gesamten Vers als metrische Struktur.Schede, Paulus Melissus3 Somit folgt jeder Vers seiner jeweiligen regula. Was dabei entsteht, ist als metrisches Produkt „neuartig“ (recens), da sich jeder Vers nach seiner eigenen Formel zusammensetzt. Wie sich der Dichter in der Wortwahl Neuerungen erlaubt – nova verba (V. 7) –, so auch in der Metrik. Schede setzt sich hier wie bereits Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de über eine vom literarischen Modell HorazHoraz explizit gesetzte poetologische Norm hinweg.

Es findet sich noch eine weitere poetologische Selbstaussage des DichtersSchede, Paulus Melissus hinsichtlich der Metrik seiner Pindarischen Oden. In der Ode an Michael Brutus, den Historiker des polnischen Königs Stephanus, kündigt der Dichter an, „er wolle kühne DithyrambenDithyrambos darstellen, wenngleich auch gegenüber den freien Maßenfreier Vers festere Bindungen bewahren“: audaces ego, liberis licet / numeris strictior, DithyrambosDithyrambos / Brute repraesentem (V. 57–58).Schede, Paulus Melissus4 Hier bekennt sich Schede zu einem ‚kontrollierten Wagemut‘ in Hinblick auf seine Metrik. Er nimmt sich heraus, das metrische Regelgebäude zu verlassen, worauf die angesprochene Kühnheit hinweist. Zugleich sollen die Verse nicht ganz freifreier Vers sein, sondern eine gewisse Gebundenheit aufweisen. Das heißt, dass er weder ein freies noch ein konventionelles Versmaß anstrebt.

SchedesSchede, Paulus Melissus 27 Pindarische Oden stellen die erste Gedichtgruppe in seiner großen, 1586 in zweiter, deutlich erweiterter Auflage erschienenen Sammlung der Schediasmata poeticaSchede, Paulus ሴiሴMelissusSchediasmataሴiሴ poetica dar. Ihnen folgen Melica, das sind Gedichte in horazischen lyrischen Versmaßen, Epica, Elegiae und Epigrammata. In Hinblick auf die Metrik seiner Odendichtung in den von HorazHoraz verwendeten Metren zeigt er sich, wie Eckart Schäfer feststellen konnte, insgesamt als sehr innovationsfreudig, wobei er gerne Strophenformen der antiken Tradition variiert. SchedeSchede, Paulus Melissus lässt hierin gegenüber der Odenform des Römers eine Überbietungsstrategie erkennen.Ronsard, Pierre de5 In der Voranstellung der Pindarischen Oden bei der Anordnung der Sammlung folgt er dem Beispiel Ronsards. Die Pindarischen Oden sind mit der Rubrik Emmetra in aemulationem Pindari überschrieben. Der Begriff emmetra ist auffällig, da kaum Belege für neulateinische Gedichtsammlungen aufzufinden sind, die eine Gruppe von Gedichten unter dieser Gattungsangabe fassen. Er ist sehr unbestimmt, bezeichnet lediglich „in Metren Gefasstes“ und bringt damit die angestrebte Gestaltungsfreiheit zum Ausdruck.

Auch bei SchedeSchede, Paulus Melissus findet sich die seit den antiken Scholiasten bekannte Vielfalt der Versmaße wieder. Eine Bekanntschaft Schedes mit der Pindar-Ausgabe des Henri EstienneEstienne (Stephanus), Henri (Henricus) und ihren Zitaten aus den metrischen ScholienPindar und Pindarische DichtungScholien ist sehr wahrscheinlich.Sainte-Marthe, Scévole de6 Keine metrische Struktur eines Verses wird wiederholt. Während bei Sainte-Marthe das Metrum noch leicht erkennbar ist, da die KatalexeKatalexen die Identifikation nur geringfügig beeinträchtigen, erweist sich bei SchedeSchede, Paulus Melissus die metrische Struktur als deutlich undurchsichtiger. Betrachten wir die erste Strophe der Ode auf die englische Königin Elisabeth (Ad Elisabetham Reginam Angliae):7


Eine metrische Analyse, bei der sämtliche Strophen und AntistropheAntistrophen der Ode in Zusammenschau betrachtet werden, ergibt folgenden Befund: SchedesSchede, Paulus Melissus Bindung an das metrische „Gesetz“ besteht darin, dass er wie Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de jeden Vers als ein KolonKolon auffasst, das in der Wiederholung der Strophen an dieser Stelle wiederkehrt. Manche Verse sind ohne Weiteres identifizierbar. Völlig problemlos ist der letzte Vers, der aus vier DaktylenDactylus besteht. In V. 9 begegnen wir dem alkäischen ElfsilblerAlcaicus, in V. 10 den PherekrateusPherecrateus. In V. 1 scheint SchedeSchede, Paulus Melissus in Analogie zum alkäischen Elfsilbler eine Verbindung von ionischenIonicus und äolischen Elementen vorzunehmen. Unmöglich ist es jedoch, eine klare Analyse der Verse 2, 3, 5 oder 7 zu erstellen. Da sie jedoch in den Wiederholungen der Verse in den späteren TriadenPindar und Pindarische DichtungTriade keine Variationen aufweisen, kann man auch nicht von freien Versenfreier Vers sprechen. Hier hat SchedeSchede, Paulus Melissus einzelne VersfüßePolymetrie von IonikernIonicus, IambenIambus, DaktylenDactylus und TrochäenTrochaeus aneinandergereiht, ohne dass ein Zusammenhang erkennbar wäre. Es scheint SchedeSchede, Paulus Melissus nicht mehr darauf anzukommen, dass Verse als einem bestimmten Versmaß zugehörig erkannt werden, vielmehr soll dem Leser oder Hörer vermittelt werden, dass ein stichisches System vorliegt, wie immer dieses auch zu analysieren sei. Genau dies entspricht der in der poetologischen Ode (Hendecasyllabum ad Hieronymum Baumgartnerum) dargelegten Technik.

Dass sich SchedeSchede, Paulus Melissus direkt am pindarischen Prätext orientieren würde, ist unwahrscheinlich. Als Begründung hierfür kann man jedoch sicherlich nicht anführen, dass SchedeSchede, Paulus Melissus womöglich des Griechischen nicht mächtig gewesen sei. Hiergegen spricht etwa, dass Henri EstienneEstienne (Stephanus), Henri (Henricus) ihn darum bittet, seine griechischen Epigramme ins Lateinische zu übersetzen.Schede, Paulus Melissus9 Vielmehr verfolgt Schede ein eigenes metrisches Programm. Abschließend lässt sich sagen, dass der Lyriker es konsequent unterdrückt, einen bestimmten RhythmusRhythmus entstehen zu lassen:Schede, Paulus Melissus10 Es ist kein gängiges lyrisches Metrum erkennbar, geschweige denn, dass ein Hörer des Gedichts hier ein klares Bild gewinnen würde, welches Versmaß vorliegen könnte. Dennoch handelt es sich bei Schede ebenso wenig wie bei Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de um ein freies Metrum. Die Metrik basiert auf überkommenen Versfüßen, die kombiniert werdenPolymetrie.

Der selbstbewusste Umgang mit der Vorgabe des HorazHoraz steht sicherlich der von SchedeSchede, Paulus Melissus ebenfalls gepflegten Parodia-Technikparodiaparodia nahe. Hierbei wird Horaz-Versen durch den Austausch möglichst vieler Einzelwörter ein völlig neuer Sinngehalt verliehen.parodia11 Sowohl in der Parodia als auch in der Metrik der Pindarischen Oden trifft die Anlehnung an Horaz mit einer gleichzeitigen Hinwegsetzung über ihn zusammen.

5. Conclusio: Metrik im Lichte der Poetologie pindarischen Dichtens

Die Metrik der neulateinischen pindarischen Gedichte steht in einem Spektrum zwischen einer neualtgriechischen Pindarischen Ode, die in der Regel sehr stark an dem antiken Prätext ausgerichtet ist, und einer pindarischen Dichtung, die sich bereits in den Volkssprachen etabliert hat und deren metrischen Traditionen folgt. Für die neulateinische Dichtung lässt sich eine Orientierung an der philologischen Metrikanalyse zu den Oden Pindars feststellen, die bei den Alexandrineralexandrinische Philologien einsetzt und in der frühneuzeitlichen Poetik fortgesetzt wird. Von der Philologie, die die metrische Struktur der Epinikien Pindars als eine Zusammenfügung verschiedenartiger Versmaße erklärte, konnte ein Impuls für die dichterische Produktion ausgehen.

Bei den beiden neulateinischen Autoren Scévole de Sainte-MartheSainte-Marthe, Scévole de und Paulus Melissus SchedeSchede, Paulus Melissus findet gerade in Hinblick auf die Metrik eine Erneuerung der Odendichtung statt. Diese vollzieht sich im expliziten poetologischen Diskurs vermittels einer Auseinandersetzung mit dem Verdikt der horazischen Pindarode (Oden 4,2HorazOden‚Pindarode‘ 4,2). Um die Vorstellung der Unnachahmbarkeit Pindars hinter sich zu lassen, entwickeln die beiden Dichter jeweils einen für sie praktikablen Gegenentwurf zu der Aussage, dass die Oden Pindars eines metrischen Systemsfreier Vers entbehrten (numeris lege solutis). Sie tun dies, indem sie ihre metrische Freiheit in der eigenmächtigen Zusammenstellung von unterschiedlichen traditionellen VersmaßenPolymetrie ausmachen. Dabei zielen die beiden neulateinischen Dichter darauf ab, den in der Pindarode postulierten diametralen Gegensatz zwischen pindarischem und horazischem Dichten sowohl in der poetologischen Reflexion als auch in der poetischen Praxis zu überwinden.

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Editionen, Übersetzungen und Kommentare sind mit (*) versehen.

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Die ‚argute‘ InschriftInschrift, argute/literarische als barocke Form des freien Versesfreier Vers

Stefan Tilg

In einem Band über neulateinische Metrik das nicht-metrische Phänomen freier Verse zu behandeln ist auf den ersten Blick eine Verfehlung des Themas. Freie Verse haben sich von allen Vorgaben der Metrik gelöst und gehören daher eigentlich nicht mehr in ihr Gebiet. Wie allein schon die Bezeichnung „freier Vers“ zu erkennen gibt, werden sie aber oft vor dem Hintergrund metrischer Dichtung, eben als ihr freies Gegenstück, verstanden. Insofern hat das Thema hier eine gewisse Berechtigung, zumal die Existenz eines freien Verses in der Frühen Neuzeit keineswegs selbstverständlich ist. Studien zum freien Vers sehen diesen üblicherweise als emphatisch moderne Ausdrucksform an. In diesem Beitrag möchte ich demgegenüber argumentieren, dass es mit der ‚literarischen‘ oder ‚arguten‘ Inschrift des 17. und frühen 18. Jahrhunderts bereits ein Genre gab, das sich in formaler, verstechnischer Hinsicht nicht wesentlich vom modernen freien Vers unterscheidet.

1. Freie Verse in der Frühen Neuzeit?

Wenn Literaturwissenschaftler über die Ursprünge des freien Verses diskutieren, denken sie normalerweise an das 19. Jahrhundert, z.B. an Walt WhitmansWhitman, Walt erstmals 1855 publizierte Sammlung Leaves of GrassWhitman, WaltLeaves of Grass oder an die französischen Symbolisten, die in den 1880ern den vers librevers libre einem breiteren Publikum als neue Dichtungsform bekannt machten.BibelPsalmen1 Es ist nicht falsch, das so zu sehen: Der moderne freie Vers geht tatsächlich auf diese Vorbilder zurück, und wenn frühneuzeitliche freie Versdichtung irgendeinen Einfluss auf das 19. und 20. Jahrhundert gehabt hat, so ist dieser allenfalls punktuell. Trotzdem ist es m.E. eine ungebührliche Verkürzung, freie Verse als schlechthin modernes Phänomen zu betrachten und einschlägige vormoderne Praktiken zu ignorieren. Meines Wissens ist Henry T. Kirby-Smiths The Origins of Free Verse die einzige größere Studie, die sich mit der vormodernen Geschichte des freien Verses auseinandersetzt.2 Kirby-Smith diskutiert Praktiken freier Versdichtung seit der Renaissance, konzentriert sich dabei aber auf (vorwiegend englische) Dichtung, die von den Psalmen und von PindarPindar und pindarische Dichtung inspiriert wurde und deren ‚freier‘ Charakter durch die rätselhafte metrische Gestalt ihrer Vorbilder bedingt war. Im vorliegenden Beitrag werde ich diese Art von freier Dichtung nicht behandeln.BibelPsalmen3 Sie ist vergleichsweise gut bekannt, auch wenn die Traditionslinien gerade in metrisch-technischer Hinsicht im Einzelnen noch aufgearbeitet werden müssten. Schwerer wiegt, dass die neulateinische Dichtung in der Tradition der Psalmen und PindarsPindar und pindarische Dichtung kaum jemals gänzlich frei von Metren war – ihre Freiheit war vielmehr die einer Auflösung größerer metrischer Muster und einer Neukombination kleinerer Elemente. Die lateinische pindarische DichtungPindar und pindarische Dichtung z.B., die, soweit ich sehe, ihren Ursprung in Benedetto LampridiosLampridio, Benedetto Sammlung PoemataLampridio, BenedettoPoemata von 1550 hat, arbeitete typischerweise so, dass aus der klassischen Dichtung bekannte Versfüße, Metren oder Verse zu einer neuen, unvorhersagbaren Folge von Füßen, Metren und Versen kombiniert wurde (die entweder der bei PindarPindar und pindarische Dichtung üblichen strophischen Responsion gehorchte oder diese auch durchbrach). Das Prinzip ist zumindest entfernt dem ähnlich, was in der deutschen Literaturwissenschaft im Anschluss an Friedrich Gottlieb KlopstocksKlopstock, Friedrich Gottlieb Dichtung „freier RhythmusRhythmus“ genannt wird, denn auch KlopstockKlopstock, Friedrich Gottlieb brach häufig die klassischen Muster auf, um ihre rhythmischenRhythmus Grundelemente wiederzuverwenden und neu zu kombinieren.4 Diese Vorgangsweise kann mit dem modernen, gänzlich freien Vers5 nur bedingt verglichen werden. Anders verhält sich aber der Fall der von Kirby-Smith nicht behandelten ‚arguten Inschrift‘. Hier haben wir tatsächlich eine vormoderne, ganz und gar nicht-metrische Art zu dichten, auch wenn uns die einschlägigen Werke heute wenig dichterisch vorkommen mögen und der Bezug zur Dichtung mehr in der Theorie als in der Praxis klar wird.6

2. Ursprung, Terminologie und Entwicklung

Das Genre der literarischen Inschrift hatte weder zu seiner Zeit noch heute eine einheitliche Bezeichnung. Einig war man sich aber über seine Herkunft aus Inschriften, weshalb häufig von inscriptio gesprochen wurde. Die Grundidee ist sinnfällig dargestellt auf dem Frontispiz von Emanuele TesaurosTesauro, Emanuele InscriptionesTesauro, EmanueleInscriptiones (Turin 1670): Die personifizierte Inscriptio macht sich gerade daran, den Titel des Werks in Stein zu meißeln, als hinter ihr Merkur auftaucht, ein (noch) leeres Buch aufschlägt und sie darauf hinweist, dass der Inhalt in die Buchseiten geschrieben werden soll. Die Inschrift wird literarisch, sie wird von einem Stein- zu einem Buchgenre – entsprechende Dichtungen hießen manchmal auch carmina lapidaria oder nur lapidaria. Sparrow weist auf die Omnipräsenz von Inschriften in der städtischen Kultur und Lebenswelt des 16. und 17. Jahrhunderts hin und erklärt sich so den Übergang von Stein- zu Buchinschriften.argutia1 Vielleicht war dieser Übergang aber auch nur ein launiger Einfall der Turiner Jesuiten der 1630er-Jahre, denn aus dieser Zeit und diesem Milieu stammen die ersten Beispiele der Gattung. Während Inschriften bis dahin eher kurz, sachlich und formelhaft waren, wurden sie nun – und besonders als literarisches Genre – länger, rhetorischer und kreativer. Der stilgeschichtliche Kontext, in den man diese Entwicklung einordnen kann, ist die von den Jesuiten maßgeblich getragene und propagierte argutiaargutia-Bewegung, die sich den scharfsinnigen, pointierten, gewitzten, antithesenreichen und epigrammatischen Ausdruck auf ihre Fahnen schrieb.2 Von diesem neuen Stilideal wurden zunächst – innerhalb der vom Medium gegebenen Grenzen – reale Inschriften auf Stein erfasst; zur Entfaltung konnte es aber erst in der literarisch gewordenen Buchinschrift kommen.

Der typische Inhalt dieses neuen Genres waren zunächst Viten herausragender religiöser Persönlichkeiten – daher rührt auch der Name elogiumelogium, nach den so bezeichneten inschriftlichen Würdigungen von Verstorbenen. Die Turiner Jesuiten begannen damit, das Leben (oder Episoden aus dem Leben) religiöser Figuren wie Päpste, Patriarchen, Heilige oder Christus selbst in arguten Inschriftensammlungen zu publizieren, die sich formal durch die symmetrische Anordnung der verschieden langen Zeilen rund um eine zentrale MittelachseMittelachse auszeichneten. Ich nehme ein Beispiel aus Emanuele TesaurosTesauro, Emanuele PatriarchaeTesauro, ሴiሴEmanuelePatriarchaeሴiሴ sive Christi Servatoris genealogia (Die Patriarchen, oder Genealogie unseres Heilands Christus), einer erstmals 1645 in Mailand publizierten Sammlung von Viten der Vorväter Christi. Darin wird Isaak auf folgende Weise eingeführt:Tesauro, Emanuele3

Adeste Cives!

In Monte Moriah Tragoedia dabitur,

Cui nihil simile dedere Athenae.

Idomenaeus et Agamemnon fabulae sunt:

Et si confero, mihi frigent.

Protasin aget Numinis Internuncius,

Qui Isaacum patria iubebit dextera immolari.

Distrahetur infelix Pater inter Filii vel Fidei iacturam,

Aut incredulus futurus, aut crudelis.

Kommt herbei, Bürger!

Auf dem Berg Moriah4 wird eine Tragödie gegeben werden –

nichts Gleichwertiges hat Athen geboten.

Idomeneus und Agamemnon sind Märchen,5

und wenn ich sie damit vergleiche, lassen sie mich kalt.

Den Beginn wird der Bote Gottes machen,

der befehlen wird, Isaak mit der väterlichen Rechten zu opfern.

Der unglückliche Vater wird hin- und hergerissen werden zwischen dem Verlust des Sohnes oder des Glaubens,

entweder ungläubig oder grausam sein.

Die direkte Anrede an den Leser, der sich wie ein Zuschauer im Theater fühlen soll, das überraschende Konzept des Lebens Isaaks als Tragödie, die ähnliche Stoffe aus der griechischen Tragödie übertrifft, unübersetzbare Sprachspiele wie inter Filii vel Fidei („zwischen Sohn und Glaube“) oder incredulus aut crudelis („ungläubig oder grausam“), wobei jeweils ähnliche Laute verschiedene Begriffe mit antithetischer Bedeutung bezeichnen, all das sind nur einige auffällige Ausprägungen des argutenargutia Stils.

Religiöse Viten blieben aber nicht die einzige oder auch nur die hauptsächliche Domäne arguter Inschriften. Als das Genre ca. Mitte des 17. Jahrhunderts über die Alpen kam und sich vor allem in deutschen Landen verbreitete, wurde es in erster Linie für politische Inhalte adaptiert. Preisende Viten von Herrschern setzten dabei die religiöse Elogienform fort. Noch häufiger war aber eine tiefgreifendere Neuausrichtung des Genres als politischer Kommentar und satirisch-kritische Analyse von aktuellem Zeitgeschehen. Dieser ‚publizistische‘ Strang war in der Regel narrativer, weil er sich mehr an der Abfolge von Ereignissen orientierte. Die einschlägigen Beispiele sind oft auch wesentlich länger als die bis dahin üblichen Einzelviten herausragender Persönlichkeiten. Gelegentlich konnten Werke dieser Art regelrecht historiographische Dimensionen annehmen. Der Jurist und Journalist Johann FrischmannFrischmann, Johann (1612–1680) z.B. war für seine buchfüllenden historischen Analysen im arguten Inschriftenstil berüchtigt. Seine 1657 in Frankfurt a.M. erschienenen Causae regum heri et hodie inter se belligerantiumFrischmann, JohannCausae regum […] inter se belligerantium (Ursachen für die Kriege zwischen Königen in der jüngeren Vergangenheit und heute), die sich in der Hauptsache mit den jüngsten Kriegen zwischen Schweden und Polen sowie Burgund und Frankreich beschäftigen, umfassen nicht weniger als 220 Seiten. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die argute Inschrift auch in den Volkssprachen aufgenommen, wobei Deutschland und Italien die wichtigsten Zentren blieben.6 Auf Latein und in den Volkssprachen lebte das Genre dann bis in die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts fort und muss angesichts der Vielzahl einschlägiger Publikationen für die Zeitgenossen ein vertrauter Anblick gewesen sein.7 Es geht mir in diesem Beitrag aber gar nicht so sehr um die verschiedenen Inhalte, Sprachen und Verbreitungsgebiete von arguten Inschriften als um ihre Form und darum, wie diese Form als freier Vers wahrgenommen wurde. Dafür müssen wir uns der Theorie zuwenden.

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