Kitabı oku: «Oberhausen:Eine Stadtgeschichte im Ruhrgebiet Bd.1», sayfa 6
Urbare
Eine Suche nach den Ursprüngen von Orten im Raum zwischen Lippe und Ruhr, deren Anfänge im Mittelalter vermutet werden, setzt am sinnvollsten an solchen Orten an, die bereits auf eine lange Tradition zurückblicken können. Für den Sterkrader Raum sind dies die beiden Klöster Essen und Werden. Lange bevor es in dieser Region Städte gab, waren hier von Mönchen und Nonnen Orte gegründet worden, um sich aus dem Alltag zurückzuziehen, innezuhalten und für sich ganz persönlich über eine Gruppe Gleichgesinnter seinen Weg zu Gott zu finden. Die von den Klostergründern geschriebenen oder verkündeten Worte übten auf viele Zeitgenossen eine Faszination aus, die heute nur noch schwer vorstellbar wird. Vielleicht ist der Begriff „alternative Lebensform“ geeignet, den Zugang zu schaffen. Für die damaligen Menschen bedeutet jedoch die Hinwendung zu den Klöstern gleichzeitig einen vollständigen Abschied von der Welt, einen definitiven Rückzug hinter Mauern, die nur auf den ersten Blick undurchlässig waren. Gott zu dienen, war eine Sache, eine andere aber die Sorge um das eigene Kloster und damit auch um die eigene Person.
Die Suche nach Hinweisen auf Sterkrade im Mittelalter nimmt ihren Anfang im Benediktinerkloster im Ruhrtal. Es wurde um 800 vom hl. Liudger gegründet und erlangte durch seine Übertragung an König Ludwig III. (876 – 887) den Status eines Reichsklosters. Nicht zuletzt durch diesen Schritt erhielt das Kloster Werden eine besondere Stellung nicht nur in der unmittelbaren Region selbst, sondern auch im gesamten heiligen römischen Reich deutscher Nation.24 Durch zahlreiche Schenkungen, insbesondere von Ländereien in der näheren und weiteren Umgebung des Klosters, aber auch durch Kultgegenstände und die Gewährung imperialer Vergünstigungen und päpstlicher Gnadenerweise, durch ausgedehnte Kontakte zu klösterlichen Gemeinschaften im damals bekannten „europäischen“ Raum konnte sich hier an der Ruhr ein Zentrum der geistlichen und weltlichen Macht entwickeln.
Der Zuwachs an materiellen Dingen aller Art musste jedoch gepflegt und überwacht werden, eine Kontrolle der teilweise weit vom Kloster entfernt liegenden Immobilien musste organisiert und immer aktuell gehalten werden. Das Kloster selbst musste unterhalten werden, Aus- und Umbauten an der Bibliothek und den Gebäuden waren notwendig, wollte man nicht Gefahr laufen, von fremden Truppen oder neidischen Nachbaren überrannt und geplündert zu werden, den Status eines Zentrums der Gelehrsamkeit oder die Gunst des Herrschers zu verlieren.
Ein weiterer, eher handfester Grund für die umfangreiche Absicherung des Besitzstands ergibt sich aus den einleitenden Sätzen vieler Urkunden aus der mittelalterlichen Epoche. An dieser Stelle verweisen die Schreiber immer wieder darauf, dass Unterlagen notwendig sind, ohne sie würde alles im Chaos versinken: Das Gedächtnis eines Menschen sei nicht dafür geschaffen, um sich länger zurückliegende Ereignisse zu merken – kurz, es sei eben labilis und somit nicht in der Lage, Informationen über längere Zeiträume hinweg fehlerfrei zu speichern und sie bei Bedarf ebenso exakt wiederzugeben. Diese Erfahrung prägte auch den Verwaltungsalltag in den Klöstern: Auf der einen Seite sammelten die Mönche zur Beweissicherung alle Unterlagen originaliter in ihrem Archiv, auf der anderen Seite aber trugen sie die Vereinbarungen zusätzlich in separat aufbewahrte Bücher ein und fertigten Übersichten an, aus den z. B. zu ersehen war, welche Einkünfte das Kloster zu erwarten hatte, wann und welche Abgaben gezahlt wurden usw.
Der für derartige Verzeichnisse verwendete Terminus technicus ▶ „Urbar“ geht auf das althochdeutsche Nomen „Urberan“ zurück und bezeichnet jenen Ertrag, der einem Grundherrn laut Pachtvertrag zusteht.25 Es sind also nicht nur simple Listen, die den Besitz des Grundherrn wiedergeben. Es sind vielmehr gebundene, voluminöse Sammelbände, in denen die ordnungsgemäße Abwicklung des klösterlichen Wirtschaftskreislaufs minutiös und über viele Jahrhunderte hinweg aufgezeichnet wurde. Aus ihnen wird weiterhin ersichtlich, auf welche Weise das wichtigste Element der mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte, d. h. die diesen Abschnitt des Mittelalters prägende Entstehung von Grundherrschaft funktionierte. Für die in dieser Region nachweisbaren Besitzungen des Klosters sind derartige Verzeichnisse damals wie heute eine unverzichtbare Quelle, decken sie doch die Jahre zwischen dem 9. und dem 13. Jahrhundert ab und zählen Besitzungen auf, die Zeugnis ablegen von dem Reichtum und damit auch von der Bedeutung dieses Reichsklosters.
In dem ältesten Exemplar, dem Urbar A, dessen Entstehungszeit auf etwa 890 datiert wird, worin sich aber auch Zusätze aus späterer Zeit finden, sind die ersten schriftlichen Hinweise auf Sterkrade überliefert. Die Notizen – geordnet nach ihrer Entstehungszeit – lauten:
Unter der Rubrik „Traditionen in Arenbögel und Umgebung“ findet sich der erste Hinweise auf den Sterkrader Raum, verfasst von einer Hand des 10. Jahrhunderts: Tradidit Engilrad unum mansum in Sterkonrotha et XV scaras, quindecim etiam scaras eadem Engilrad in Mallingforst donavit.26 – Engilrad übergab eine Hufe in Sterkonrotha und 15 Markenanteile, weiterhin schenkte dieselbe Engilrad auch 15 Anteil in Mallingforst.
■ Im Urbar B steht unter der Rubrik „Gerechtsame in Mallingforst“, verfasst von einer Hand des 11. Jahrhunderts und Ergänzungen des 12. Jahrhunderts folgender Vermerk: Haec scarae de Mallingfort. […] De Sterkrotha XXX27 – Die Markenanteile von Mallingforst […] von Sterkrotha 30.
■ Das Urbar E enthält unter der Rubrik „Fronhofsamt Arenbögel-Hillen“ einen um 1150 entstandenen und in Bezug auf die Sterkrader Kirche den wohl bekanntesten und immer wieder zitierten Eintrag: Franco Clericus. […] Hof Arenbögel im ▶ Kirchspiel Osterfeld: De Villicatione in Armbugele. […] 14. In Starkenrothe Franco clericus 10 mlr siliginis, 3 mo hordei, 8 d pro herscilling, 3 pro opere, ob. pro vino, ob. pro pullo in assumptione dni.28 Dieser Vermerk beantwortet anschaulich die Frage nach dem Sinn von mittelalterlichen Notizbüchern. Gegliedert ist er in folgende Abschnitte: Zunächst Angabe des Ortes, in diesem Fall Starkenrothe, anschließend der Name desjenigen, der die Abgaben zu sammeln hatte: Franco, erweitert um den Zusatz: clericus. Es folgen die Hinweise auf die zu erwartenden Abgaben. Dabei hat der Schreiber die Bezeichnungen für die Mengenabgaben verkürzt wiedergegeben. Sie waren ihm und allen Angehörigen der klösterlichen Schreibstube hinlänglich bekannt, da er sie jeden Tag verwendete. Übersetzt heißt dies, dass der clericus Franco zehn Malter Roggen, drei Scheffel Gerste, acht Denare Heerschilling, drei Denare für das Werk/für den Bau, einen Pfennig für Wein und einen Pfennig für ein Huhn zu überbringen hatte. Genannt wird auch der Tag, an dem die Abgabe stattzufinden hatte: Am Himmelfahrtstag. Für den Fronbezirk Sterkrade wird als Sammelstelle die villicatio in Arenbugele genannt, d. h. der im ▶ Kirchspiel Osterfeld gelegene Fronhof Arenbögel. Stellvertreter des Klosters Werden war der mehrfach genannte clericus Franco. Ungefähr seit der Mitte des dritten Jahrhunderts werden all jene Personen, die durch Wahl oder Weihe einen Anteil an kirchlichen Ämtern sowie geistlicher Vollmacht erhalten hatten, unter dem Begriff clericus zusammengefasst.29
■ Franco hatte ferner noch acht Denare Heerschilling zu erheben und an das Kloster abzuführen. Äbte konnten persönlich nicht zum Kriegsdienst berufen werden, wohl aber hatten sie bzw. die von ihnen verwalteten Klöster einen Anteil für die Unterhaltung der königlichen Kriegsleute zu entrichten.30 Am Ende des dritten Jahrhunderts sind im ▶ Merowingerreich Silbermünzen im Umlauf, die durch Stempelaufdruck als dinarii bezeichnet werden. Unter Ludwig d. Frommen wird der Reichsdenar eingeführt, der sich in Deutschland seit dem zehnten Jahrhundert zum „Pfennig“ weiterentwickelte.31 Damit ist Francos Aufgabenpensum aber noch nicht erledigt: Die Klosterverwaltung fordert noch drei Denare pro opere, d. h. vielleicht für den Gottesdienst, ein Bauwerk – der Begriff lässt Raum für Interpretationen.
■ In einem anderen, um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstandenen Abschnitt des Urbars E werden die für das Kloster Werden bestimmten Stiftungen aufgelistet. Auch hier findet sich ein Eintrag, der allerdings einen völlig anderen Inhalt aufweist: Starkinrotha. Landrad et Erlibrat et Radbrat tradiderunt ad sanctum Liudgerum pro anima matris eorum Wigburge predium suum in Starkinrotha.32 Übersetzt heißt dies: Starkinrotha. Landrad und Erlibrat und Radbrat haben dem heiligen Ludgerus für das Seelenheil ihrer Mutter Wigburge ihr Grundstück [oder:] ihren Grundbesitz in Starkinrotha übergeben.
■ In dieselbe Zeit gehört auch folgender Eintrag, der ebenfalls unter der Rubrik „Verzeichnis der Stiftungen“ zu finden ist: Tradidit Oda ad sanctum Liudgerum pro anima filii sui Radbaldi terram in Starkenrotha solventem 30 d.33 Übersetzt heißt dies: Oda hat dem heiligen Ludgerus für das Seelenheil ihres Sohnes Radbaldi Land in Starkenrotha übergeben, das 30 Denare leistet.
■ Der letzte Hinweis auf Sterkrade ist dem ▶ Heberegister der kleineren Klosterämter entnommen, dessen Entstehung in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts datiert wird. Danach erhält die Kirche St. Johannes des Täufers folgende Gaben: In festo sancti Martinii in Starcrode duos s. et duos pullos34. Übersetzt heißt dies: Am Tag des heiligen Martin in Starcrode zwei Schillinge und zwei Hühner.
Diese sechs Einträge, die sich auf die spätere Stadt Sterkrade beziehen und deren Entstehung in den Zeitraum zwischen dem 10. und dem 13. Jahrhundert zu datieren ist, offenbart eine beträchtliche Menge an Informationen: Diese Gemeinde, die in der frühen Neuzeit zum Standort eines der größten Industrieunternehmen aufsteigen sollte, erscheint in dem vorgen.
Zeitraum nicht unter ihremheute geläufigen Namen, sondern hat immer wieder ihre Schreibweise gewechselt. Einige weitere Beispiele, die aus den unterschiedlichsten Quellen und Zeiträumen stammen, machen diesen Trend deutlich.
Tabelle1: Varianten des Namens „Sterkrade“
Namensform | Datierung |
Sterckrode | 1183 Januar 01 |
Sterckraede | 1255 Januar 05 |
Starkerothe | 1264 November 18 |
Starkenrode | 1281 Februar 02 |
Stircerade | 1382 Juli 28 |
Starkerode | 1397 September 22 |
Starckrade | 1419 Dezember 08 |
Starckraide | 1451 April 03 |
Starkerode | 1472 März 07 1504 Januar 25 |
Starckradt | 1543 Juni 29 |
Starckeradt | 1585 Januar 01 |
Sterckradt | 1667 Oktober 29 |
Sterckrad | 1693 November 19 |
Sterckrade | 1722 Januar 25 1803 Januar 01 |
Sterkrade | 1804 Januar 01 1807 Januar 01 |
Sterckrade | 1809 Juli 27 |
Stärkrad | 1821 März 1335 |
Verantwortlich für die vermeintlichen Verschreibungen oder Varianten sind jene, die die Buchstaben, Zahlen und Worte auf das Pergament auftrugen. Sie haben diese Formen oder Ausdrucksweisen aber nicht neu „erfunden“, es geschah nicht einmal absichtlich. Die Schreiber in der klösterlichen Schreibstube, die mit den Lokalitäten um ihr Kloster Werden bestens vertraut waren, notierten nur die Abgaben, die ihnen jene Beauftragten der Abtei aus ihren Verwaltungsbezirken überbrachten, und vermerkten den Namen der Produktionsstätte in der Form, wie die Überbringer ihn aussprachen bzw. in der Form, wie sie ihn verstanden.
Die Deutung des Namens dieser ländlichen Siedlung, die in unterschiedlicher Weise von den Schreibern vermerkt wurde, erschien über lange Zeit hinweg einfach zu sein. Heinrich Schmitz notierte dazu:
„Die Ortsnamen ‚Sterkrade, Buschhausen‘ erzählen von dem Waldgebiet, in dem die Orte angelegt wurden. […] Der zweite Teil des Wortes ‚Sterkrade‘ bedeutet ‚Rohdung‘. Die Urkunden weisen den Namen in vielfacher Form auf, deren älteste wohl jene in einem Rentenbuche der Abtei werden sein dürfte. Sie lautet ‚Starkinrotha‘, was soviel wie ‚große Rohdung‘ bedeutet.“36
Dieser Interpretation wurde über lange Zeit hinweg nicht widersprochen, passte sie doch zu den hier vorhandenen geographischen Gegebenheiten. Bestimmt wurde das die ländliche Gemeinde Sterkrade umgebende Land von der Walsum-Sterkrader Großmark:
„Weit ausgedehnte Urwälder bedeckten große Strecken Landes, stundenlang erstreckten sich Heiden über sandige Höhen und die Niederungen waren schier unwegsam durch große Sümpfe, Moore und Seen. […] Noch Jahrhunderte später, als die Macht der Römer längst am Rhein gebrochen war, bestand unser Bürgermeistereigebiet noch zum größten Teil aus Wald, Heide und Sumpf.“37
Betrachtet man jene Flächen, über die sich Sterkrade in diesem vorbeschriebenen Landschaftsbild erstreckte, so klingt die Interpretation von Heinrich Schmitz als „große Rohdung“ durchaus plausibel.
Doch diese Auslegung blieb nicht unwidersprochen. Friedrich Gehne und Johannes Robertz – die Reihenfolge ist nicht von ursächlicher Bedeutung bei der Frage: Wer hat denn zuerst die rechte/korrektere Lösung gefunden? – rückten von dieser Interpretation ab und schlugen eine Deutung vor, die heute in der Fachwelt allgemein akzeptiert wird. Danach gehört der Name Sterkrade zu dem germanischen Ortsnamentypus: Personenname und Grundwort. Diese Variante sei auf die politische Wirkung der Franken seit der ▶ Merowingerzeit zurückzuführen. Die im ersten Teil des Begriffs auftretende Lautabfolge „Stark-“ ist als der Name eines historisch nicht mehr fassbaren Grundherren zu interpretieren, nach dem der Ort benannt wurde. Der verbleibende Wortteil „-rotha“ liefere den Hinweis, dass der Ort im Zuge einer Rodung entstanden sei.38
Ein anderes Ergebnis, das den Aufzeichnungen der Werdener Mönche zu entnehmen ist, klingt banal: Im 10. Jahrhundert wohnten und arbeiteten an dieser Stelle immer noch Menschen. Allerdings sahen die Lebensumstände jetzt ein wenig anders aus: In der Zeit der Rodung, bzw. als hier Menschen in Brandgräbern bestattet wurden, standen sie unter dem Befehl des Starko, der sie zu Rodungsarbeiten einteilte. Nunmehr ist hier das Wort des Werdener Abtes Gesetz, in dessen Abhängigkeit sie sich befinden.
Die Menschen, die sich im Sterkrader Raum bewegten, gehörten zum Kloster Werden, ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Sie waren zwar nicht frei, sondern klebten gleichsam an der Scholle und gehörten damit in persona dem Kloster mit all ihrem Besitz. Auf der einen Seite sicher eine heute nur schwer vorstellbare Lebensform: Man konnte sich nicht so bewegen, wie man es einem in den Sinn kam. Vom Gehöft sich fortzubewegen, ohne die Erlaubnis des Grundherren eingeholt zu haben, kam einem Verbrechen gleich. Auf der anderen Seite gab es doch den einen oder anderen Vorteil: Man war relativ sicher, solange man sich an die Abmachungen hielt. Mönchsgemeinschaft und Klostervorsteher hatten mit ihren Abhängigen Verträge geschlossen, die letzteren eine sichere Existenz garantierten. Gleichzeitig hatte die Abtei sie unter ihren Schutz gestellt, d. h. die temporären Aufsitzer waren den direkten Zugriffen anderer Grundherren zunächst einmal entzogen und somit relativ sicher. Sollte ein benachbarter Hofbesitzer Begehrlichkeiten bei dem Nachbarn wecken, so war der Eigentümer von Grund und Boden gefragt – in diesem Fall die Abtei Werden. Diese würde natürlich nicht einfach dem Wunsch desjenigen entsprechen, der sich z. B. aus Arrondierungsgründen der klösterlichen Ländereien bemächtigt hatte. Dem Abt einer Reichsabtei waren andere Druckmittel bei der Durchsetzung seiner berechtigten und jederzeit beweisbaren Ansprüche an die Hand gegeben als einem abhängigen Hintersassen. Für diesen löste sich jedoch das vordergründig als sicher oder verlässlich zu bezeichnende Vertragsverhältnis in dem Augenblick in Luft auf, wenn das Kloster sich zum Verkauf oder Tausch des verpachteten Grund und Bodens entschied – einschließlich der hierauf lebenden Menschen.
Diesen Vorteilen standen aber auch Pflichten gegenüber: Die Pächter waren gehalten, zu bestimmten Terminen dem Grundherrn Abgaben in Form von Naturalien oder Geldern abzuliefern, Leistungen in Form von körperlicher Arbeit oder durch Spanndienste auf den Ländereien und in den Wäldern des Klosters Werden zu erbringen. Diese Feststellung erscheint auf den ersten Blick antiquiert und hat einer modernen Auffassung von Arbeit Platz gemacht. Wobei aber übersehen wird, dass das mittelalterliche Reglement von Arbeit auch in der Jetztzeit noch rudimentär vorhanden ist.
Diese vertragliche Bindung war aber kein Spezifikum der Abtei Werden. Die hier auf lokaler Ebene praktizierte Form der Grundherrschaft bzw. ▶ Villikation galt auch auf überregionaler Ebene: Es war das die gesamte mittelalterliche Gesellschaft prägende Organisationsmodell:39 Ein adeliger, kirchlicher oder klösterlicher Grundherr stand an der Spitze eines wirtschaftlichen Komplexes, der aus Herrenhöfen und den davon wiederum abhängigen Bauernhöfen, Gütern oder ▶ Katen gebildet wurde. Das Zentrum einer Villikation bildete der Fron- oder Salhof, zu dem Äcker, Wiesen, Weiden, Gärten, Wälder, Wasserläufe, Mühlen, Weinberge und anderes mehr gehörten. Bei kleineren Herrschaften lebte der Grundherr auf seinem ▶ Fronhof und bewirtschaftete ihn von eigener Hand. Größere Grundherrschaften, zu den im hiesigen Raum gerade das Kloster Werden zu zählen war, konnten oder wollten ihre teilweise weit verstreut liegenden und damit nahezu unüberschaubar gewordenen Besitzungen nicht mehr in Eigenregie verwalten. Sie hatte das Kloster an Verwalter ausgetan, die für die komplette Organisation und das reibungslose Funktionieren der ihnen anvertrauten Besitzungen garantierten. Diese hatten die in den Urkunden getroffenen Vereinbarungen zu überwachen, wie z. B. die Unterhaltung der Gebäude, der Gerätschaften zu kontrollieren, oder sie wachten darüber, dass der Besitz nicht aufgeteilt wurde, dass im Todesfall des Vertragsnehmers die beste Kuh oder das beste Gewand abgeliefert wurden, dass die Bauern mit ihren Abgaben nicht in Verzug gerieten, sondern sie vollständig und pünktlich ablieferten usw. Darüber hinaus war ein solcher Verwalter auch für die Einhaltung von Rechtsnormen verantwortlich: Er übernahm bei kleineren Streitfällen die Rolle des Richters.
Das verpachtete Land mit dem dazugehörigen Hof, in den Rechnungsbüchern und Verträgen auch als Hufe (mansus) bezeichnet, war in der Regel so dimensioniert, dass ein Haushaltungsvorstand in guten Zeiten seine Familie davon problemlos ernähren konnte. Die zu erwirtschaftenden Abgaben bestanden anfangs durchweg aus Naturalien, die auf den Feldern erwirtschaftet wurden bzw. aus Diensten für den Verpächter; erst mit dem fortschreitenden Mittelalter treten Geldzahlungen an ihre Stelle.
Bemerkenswert an dem ersten Eintrag, in dem der Name Sterkrade in den Werdener ▶ Urbaren erscheint, ist aber zunächst einmal, dass die hierin beschriebene juristische Handlung nicht von der Abtei ausgeht, die hier als Grundherr auftritt und aus dem eigenen Besitz Ländereien in Pacht vergibt. Für die spätere Stadt Sterkrade ist die in diesem Eintrag enthaltene Information aber auch deshalb wichtig, da hier zum ersten Mal der ursprüngliche Name genannt wird: Sterkonrotha, eine Bezeichnung, die in dieser oder ähnlicher Lautabfolge über Jahrhunderte hinweg nachweisbar bleibt.
Es ist ja noch nicht die Moderne, sondern immer noch das 10. Jahrhundert, als Engilrad mitten im „dunklen Mittelalter“ von sich aus die Initiative ergreift und sich an das Kloster wendet, um mit diesem einen Vertrag abzuschließen. Sie – nicht ihr juristischer, männlicher Vertreter – schenkte dem Kloster Werden nicht nur eine Hufe und weitere Markenanteile, sondern fügte noch Anteile in Mallingforst hinzu. Das mächtige Kloster an der Ruhr, das ja den Status einer Reichsabtei innehatte, wird zum Empfänger einer Schenkung gemacht. Es handelt nicht selbst, sondern ist in eine passive Rolle gedrängt. An dem in dem Eintrag genannten Schenkungsvolumen lässt sich aber auch ablesen, dass es sich bei Engilrad in keinem Fall um eine Unfreie gehandelt haben kann. Die dieser letztgenannten Personengruppe angehörenden Menschen verfügten über keinen Besitz, den sie zu verschenken hatten. Engilrad muss eine Frau gewesen sein, die einer Schicht zuzurechnen sein dürfte, die sich außerhalb der Gruppe der Unfreien bewegen konnte. Sie war nicht an den Grund und Boden, auf dem sie lebte, gebunden. Engilrad wird einer Gruppe zuzurechnen sein, die mit dem Attribut „herausgehoben aus der damaligen Gesellschaftsordnung“ zu versehen ist. Sie hat nicht selbst Hand anlegen müssen auf den Äckern oder auf ihrem Hof; charakteristisch wird für sie gewesen sein, dass sie „arbeiten ließ“.
Diese Schenkung macht aber auch deutlich, dass der Abtei eine Frau entgegentritt, die über einen gewissen Bildungshorizont verfügte. Diese Form der Übereignung von Besitz an das Kloster gründet sich auf die in der Antike bereits nachweisbare Form der Stiftungen zum Gedenken an verstorbene Familienmitglieder bzw. die aktive Sorge für das eigene Seelenheil. Diese Form des Erinnerns, die mittelalterliche Memoria, fußt auf dem Gedanken des Do, ut des, d. h. Ich gebe, damit du gibst. Es war Engilrad offensichtlich bewusst, dass eine gute Tat zu Lebzeiten Konsequenzen für das Leben nach dem Tode haben wird. Dies erreichte man, indem man sich der Mitwirkung von Mönchen versicherte: Diese führten ein gottgefälliges Leben und ihre Fürbitten hatten natürlich weitaus mehr Gewicht als die Bitten der „normalen“ Menschen. Deshalb stifteten die Menschen ihr Geld oder ihren Besitz und empfingen als Gegenleistung die Gebete der im Kloster Lebenden. Dieses Wissen über die eigene Vergänglichkeit und über die Möglichkeit der Vorsorge setzt aber eine gewisse Form von Bildung oder Wissen voraus. Wie und wo sie sich dieses Wissen angeeignet hat, das verraten die Quellen an dieser Stelle nicht. Sicher ist aber, dass sie ihre Kenntnisse nicht hier vor Ort, auf ihrem Hof erworben hat. Es könnten Beziehungen zu gleichrangigen Personenkreisen bestanden haben, die außerhalb des Sterkrader Raumes agierten. Vielleicht stammte sie auch aus einer der im Umfeld ansässigen Familien, die über Grundbesitz verfügten und ihn zu nutzen wussten. Sie gehörte somit einer Schicht an, die um die helfende Kraft von Gebeten der Mönche und Priester wusste und bereit bzw. in der Lage war, sich einen Anspruch auf das ewige Leben zu sichern, indem sie ihren materiellen Besitz bzw. Teile desselben dafür hergab. Sie verfügte wahrscheinlich über ein ausreichendes Vermögen, das es ihr möglich machte, dem Kloster Werden eine solche Schenkung zukommen zu lassen.
Diese vorbeschriebene Geisteshaltung zeigt sich in gleicher Form und Intensität auch bei der von den Brüdern Landrard, Erlibat und Radbrad für das Gedächtnis ihrer verstorbenen Mutter Wigburg vollzogenen Stiftung. Um das Seelenheil zu erreichen, nehmen gleichfalls die Brüder die Hilfe der Werdener Mönchsgemeinschaft in Anspruch. Sie schließen mit ihnen einen Vertrag, vollziehen wie schon Engilrad ebenfalls eine Schenkung und sichern sich damit deren Unterstützung in Form von Gebeten.
Bedeutsam ist weiterhin der hier verwendete Begriff der scarae – ein Terminus, der die Anteile an einer Mark, an Grund und Boden bezeichnet. Welche Mark damit letztendlich gemeint war, die Sterkrader oder/und die Walsumer Mark, das verrät der Eintrag nicht. Es ist ihm aber zu entnehmen, dass das fragliche Markengebiet bereits aufgeteilt war.
Aus den Einträgen der Werdener ▶ Urbare läßt sich für Sterkrade ein dreistufiges Gesellschaftsmodell entwickeln: Auf der einen Seite steht der bereits vielfach erwähnte clericus Franco in seiner Rolle als Vertreter des Grundherren und als möglicher Seelsorger für die kleine Gemeinde. Von ihm abhängig sind die Hintersassen, deren Abgaben er sammelt und dem Kloster Werden zukommen lässt. Neben diesen beiden Gruppen stehen Personen wie Engilrad, Landrad, Uoda usw., die aus Überzeugung, durch ihr Wissen und unter Rückgriff auf eigenen Besitz in der Lage sind bzw. sich den Luxus leisten können, aktiv für das eigene Seelenheil Vorsorge zu treffen, indem sie dem Kloster Zuwendungen machen und dafür Anspruch auf die Hilfe der Mönche in Form von Gebeten erlangen.
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