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Die Kritik der These von der Rückkehr der Religion

Auch die These von der Rückkehr der Religion kann Bezug nehmen auf Max Weber. In der aufgewühlten Situation des Jahres 1917 in München formuliert er in einem berühmt gewordenen Vortrag zum Thema ‚Wissenschaft als Beruf‘: „Die alten, vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf.“ Der siegreiche, moderne Kapitalismus – so Weber schon 1904 am Ende der ‚Protestantischen Ethik‘ – ist zu einem „stahlharten Gehäuse“ geworden. „Niemand weiß noch“, – so verweigert er sich einer Prognose – „wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden“ (Weber 61985, 605; 91988, 204). Heute machen zwei religiöse Expansionsbewegungen weltweit auf sich aufmerksam, auf die im Zusammenhang der These von der Wiederkehr der Religion gern verwiesen wird. Das pfingtlerische Christentum wächst augenblicklich an vielen Stellen der Welt mit einer erstaunlichen Dynamik. Dies trifft für große Teile Ostasiens zu, eingeschlossen Chinas. Mit atemberaubendem Tempo nehmen die charismatischen Gruppen schon seit einigen Jahren in Lateinamerika zu. Auch das südliche Afrika ist Schauplatz einer Expansion charismatischen Christentums. Mit Evangelikalen und katholischen Charismatikern überschreitet die Bewegung typischer Weise auch die Konfessionsgrenzen. Die zweite weltweite religiöse Expansionsbewegung ist uns in Europa präsenter: die des Islam. Dabei machen Europa und der Nahe Osten nicht einmal den vorrangigen Ort islamischer Expansion aus. Indonesien stellt inzwischen das bevölkerungsreichste muslimische Land der Welt dar. Außer in Ostasien und unter den Migranten Europas wächst der Islam auch in Schwarzafrika. Von einem von Westeuropa aus sich ausbreitenden Prozess der Säkularisierung im Sinne des Verschwindens von Religion ist augenblicklich wenig in der Welt zu spüren. Im Gegenteil: die Religion ist in vielen Teilen der Welt eindeutig im Vormarsch.

Die These von der Wiederkehr der Religion bereitet aber ebenfalls nur schwer zu leugnende Schwierigkeiten. Wie schon die frühen Andeutungen Max Webers belegen, bleibt die These der Perspektive der Säkularisierung verhaftet. Wer von einer Wiederkehr spricht, setzt voraus, dass vorher eine Abreise bzw. Abkehr stattgefunden hat. Die These von der Wiederkehr der Religion teilt damit die Probleme, die im Zusammenhang mit der Säkularisierungsthese angesprochen wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass die Wiederkehrthese denjenigen europäischen Intellektuellen besonders plausibel erscheint, die bis vor Kurzem noch die Religion im unaufhaltsamen Prozess des Verschwindens sahen.

Man muss die Argumentation von Ronald Inglehart und Pippa Norris nicht teilen, um insbesondere mit dem Blick auf Europa gegenüber der These der Wiederkehr der Religion ein Unbehagen zu empfinden. Inglehart und Norris halten trotz der weltweiten religiösen Expansionsprozesse an der klassischen Säkularisierungsthese fest. (vgl. Norris/Igelhart 2004) Sie deuten die empirischen Hinweise auf eine Wiederkehr der Religion an vielen Stellen der Welt gewissermaßen als eine vorübergehende Delle im Verdrängungsprozess der Religion. Diese lasse sich einfach dadurch erklären, dass in vielen Teilen der Welt die Armut nicht ab-, sondern zunehme. Wo sich aber Armut ausbreite, dort kehre auch – darüber brauche man sich nicht zu verwundern – die Religion zurück. Wenn und soweit es gelinge, die Lebenssituation der Menschen zu verbessern und sicherer zu machen, komme es auch wieder zu dem bekannten Zusammenhang von Anhebung des materiellen Lebensstandards und dem Verschwinden der Religion. Theoretisch erweisen sich Inglehart und Norris als Verfechter einer allzu einfachen These einer Kompensationsfunktion der Religion. Diese ist schwer mit der Einsicht in die Vielfalt von Funktionsbezügen der Religion in Einklang zu bringen. Empirisch müssen sie mit Blick auf den Fall der Vereinigten Staaten die Aufmerksamkeit ganz auf die Dimension der Sicherheit bzw. Unsicherheit lenken. Die ungesicherten Lebensverhältnisse als den alleinigen Verursacher für die Religiosität in den USA in Anschlag zu bringen, bleibt aber wenig überzeugend.

Der eigentliche kritische Testfall für die These der Wiederkehr der Religion bleibt das westliche Europa. Befürworter wie Gegner der Säkularisierungsthese sind sich soweit einig, dass das westliche Europa seit den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Prozess der Schwächung der kirchlich verfassten Religion erlebt. Ohne, dass es Anzeichen eines Trendumkehrs gäbe, nehmen seit dieser Zeit Kirchenmitgliedschaft und regelmäßiger Gottesdienstbesuch ab, sinkt der Einfluss der Kirchen auf die religiösen Überzeugungen und moralischen Orientierungen der Menschen und verliert eine kirchlich geprägte Lebensführung an institutioneller Absicherung. Was macht man mit diesem unbestrittenen Befund, wenn man trotz allem von der Wiederkehr der Religion auch für Europa überzeugt ist? Der verständliche Ausweg besteht darin, zwischen Kirchlichkeit und Religiosität eine scharfe Kluft anzunehmen, die alternative, außerkirchliche Religiosität als die eigentliche Religiosität zu betrachten und der kirchlichen Religion einen marginalen, vernachlässigbaren Status zuzuschreiben. Damit gerät die Position einer Wiederkehr der Religion auch in Europa aber in Widerspruch zu schwer zu leugnenden empirischen Tatsachen. Zwei seien besonders hervorgehoben: Die anwachsenden Phänomene einer alternativen Religiosität haben ihren Ort nicht jenseits, sondern primär im Umfeld der Kirchen. Wo die kirchliche Religion geschwächt ist, findet auch die alternative Religiosität keinen Nährboden. Dies ist eine der Schlussfolgerungen, die sich aus der Entwicklung von Religiosität und Kirchlichkeit in den Neuen Bundesländern nach 1989 ziehen lässt. Die von vielen erwartete breite Rückkehr zu den Kirchen fand nach 1989 nicht statt. Es gab aber auch keine nennenswerte Hinwendung zu Formen alternativer Religiosität. In Westdeutschland sind Phänomene alternativer Religiosität in signifikant höherem Maße zu beobachten als in Ostdeutschland.

Zu den Phänomenen – ich komme zum zweiten Argument – einer Wiederkehr der Religion gehört wiederum unbestritten eine gewisse neue Sichtbarkeit der Religion bzw. eine Wiederkehr der Religion in den öffentlichen Raum. Wenn man danach fragt, welche Religion heute primär in die Öffentlichkeit zurückkehrt, so ist es wiederum nicht die alternative Religiosität. Vielmehr sind es primär weltweit, aber auch in Europa, die alten Kirchen und die außerchristlichen traditionelle Religionsgemeinschaften. José Casanova hat als erster mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die traditionellen Religionsgemeinschaften die primären Träger dessen sind, was er die De-Privatisierung der Religion nennt. Ich komme zu dem Schluss, dass es gute Gründe gibt, heute sowohl die Säkularisierungsthese als auch die These von der Wiederkehr der Götter als unbefriedigend zu betrachten. Deshalb erscheint es mir geboten, nach einen Konzept zu suchen, das die gegenwärtige religiös-kirchliche Lage besser zu erklären vermag als die beiden alternativen Positionen.

Multiple Modernen und religiöse Modernisierung

In einer gegenwärtig noch andauernden Debatte um die Kritik der älteren Modernisierungstheorie sind die Einwände noch einmal verschärft worden. War man sich bisher sicher, dass die Kernelemente der Moderne – wie etwa eine liberal-kapitalistische Wirtschaftsentwicklung und Demokratisierungsprozesse – sich wechselseitig notwendig bedingen, so ist man heute bei der Annahme notwendiger Zusammenhänge vorsichtiger geworden. Eine scharfe Gegenüberstellung von Tradition und Modernität – so ein weitere Einsicht – macht wenig Sinn. Vielmehr wirken Traditionen in der Moderne weiter und spiegeln sich in eigenen Formen von Modernität wider. Damit entspricht heute die Vorstellung von Modernisierung mehr einer Arena möglicher Optionen und Wege als einem gerichteten Prozess. Auf der Linie einer konsequenten Öffnung des Spielraums der Moderne liegt auch, wenn etwa Phänomene des Fundamentalismus als Alternativen in der Moderne und nicht als Alternativen zur Moderne in den Blick kommen. Shmuel Eisenstadt hat für die skizzierte Öffnung des Modernisierungskonzepts die Formel von der „Vielfalt der Moderne“ oder von den „multiplen Modernen“ eingeführt. (vgl. Eisenstadt 2000)

Meine These ist die, dass das Konzept der multiplen Modernen die Chance bietet, jenseits von Säkularisierung und Wiederkehr der Religion eine angemessene Perspektive für die Entwicklung von Religion und Christentum heute zu gewinnen. Eine erste, weitreichende Konsequenz besteht darin, Religion entschieden in und nicht jenseits der Moderne zu verorten. Die immer wiederkehrenden Spannungen zwischen Religion und Modernität sind typisch moderne Phänomene und keineswegs ein Zeichen dafür, dass die Religion irgendwie nicht zur Moderne gehört bzw. passt. Konflikte zwischen den Wertsphären – so schon Max Weber – machen gerade ein zentrales Charakteristikum der Moderne aus.

Mit einem kurzen Blick auf die Soziologie des Katholizismus lässt sich die Fruchtbarkeit der angesprochenen Perspektive verdeutlichen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts erfindet sich der Katholizismus in der Moderne und als modernes Phänomen gewissermaßen neu. Die katholische Kirche nimmt erst im 19. Jahrhundert die uns so vertraute, zentralisierte organisatorische Gestalt an. Die Päpste werden Träger eines spezifischen modernen Charismas. In den Kulturkämpfen des 19. Jahrhunderts nutzen die katholischen Akteure die Chance zu einer umfassenden Milieubildung unter den Katholiken. Sie fußt auf der Entfaltung eines eigenen Vereinswesens, einer eigenen Weltanschauung, eigenen Institutionen und eigenen, dem Alltag Struktur gebenden Ritualisierungen. In Revision meines früheren Sprachgebrauchs würde ich heute mit Blick auf den Katholizismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr von einem Amalgam aus Tradition und Modernität sprechen. Es handelt sich vielmehr in seiner Gänze um ein modernes Phänomen. (vgl. Hellemanns 2010) Die Neuerfindung des Katholizismus in der Moderne des 19. Jahrhundert ist nicht die letzte geblieben. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der Katholizismus sich heute erneut in einem Prozess der Findung bzw. Erfindung befindet. Der gesellschaftliche Kontext bildet die Zäsur zwischen einer industriegesellschaftlichen und einer entfalteten Moderne oder zwischen erster und zweiter Moderne, wie Ulrich Beck formuliert. Das Zweite Vatikanum (1962-1965) fällt schon rein zeitlich in die Phase der Zäsur zwischen erster und zweiter Moderne.

Die Vorteile einer Theorie religiöser Modernisierung im Kontext eines Konzepts multipler Modernen gegenüber der Säkularisierungstheorie wie der These von der Wiederkehr der Religion lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen: Konzeptionell bekommt die Religion wieder einen Platz in der Moderne; ihre Stellung ist nicht mehr theoretisch im Sinne einer gesellschaftlichen Randposition vorentschieden. Die Modernisierungsprozesse innerhalb der Religionen können in den Blick kommen und eine angemessen Berücksichtigung finden. Auch fundamentalistische religiöse Bewegungen lassen sich als Phänomene innerhalb der Moderne identifizieren. Die Vielfalt der Moderne lässt unterschiedliche Modelle im Verhältnis von Religion, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zu. Für die religiösen Traditionen bleibt die Herausforderung, sich in der Moderne jeweils neu erfinden zu müssen. Dies gilt gerade auch für die religiösen Akteure, die nur die Tradition und nichts als die Tradition fortsetzen wollen. Für die kirchlichen Akteure in Europa bietet das Konzept die Chance, sich von der Prägung durch ein folgenreiches Säkularisierungsbewusstsein zu lösen. Im westlichen Europa hat dieses nach wie vor die Wirkung einer „Sichselbst-erfüllende-Prophezeiung“ – es bringt zu einem guten Teil erst das hervor, was es als sicher für die Zukunft erwartet.

Aber auch gegenüber der These der Wiederkehr der Religion bietet die Konzeption der multiplen Modernen bessere Chancen, die religiöskirchliche Lage einsichtig und verstehbar zu machen. Sie besitzt eine größere Übereinstimmung mit der empirischen Datenlage für das westliche Europa. Sie vermag die Entwicklungen innerhalb der kirchlich verfassten Religion differenzierter wahrzunehmen und zu interpretieren. Im Unterschied zur These der Wiederkehr der Religion verfügt sie über ein konzeptionelles Verständnis von Modernität. Sie lenkt damit das Interesse auf die Bedingungen, unter denen die Religionen in der Moderne zu agieren haben. Sie hat die Spannungen im Verhältnis von Religion und Politik und die Vielfalt von Verflechtungsmodellen beider innerhalb der Moderne im Blick. Sie wird der religiösen Signatur der Gegenwart besser gerecht: die Religionen bleiben, aber sie wandeln ihr Gesicht.

Literatur

Casanova, J., Public Religions in the Modern World, Chicago/London 1994.

Eisenstadt, S. N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerwist 2000.

Hellemans, S., Das Zeitalter der Weltreligionen. Religion in agrarischen Zivilisationen und in modernen Gesellschaften, Würzburg 2010.

Mette, N., Kirchlich distanzierte Christlichkeit. Eine Herausforderung für die praktische Kirchentheorie, München 1982.

Ders., Religionssoziologie – katholisch. Erinnerungen an religionssoziologische Traditionen innerhalb des Katholizismus, in: K. Gabriel/F.-X. Kaufmann, Zur Soziologie des Katholizismus, Mainz 1980, 39-56.

Krech, V./Tyrell, H. (Hgg.), Religionssoziologie um 1900, Würzburg 1995.

Weber, M., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 91988.

Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, in: J. Winckelmann (Hg.), Tübingen 61985.

Norris, P./Inglehart, R., Sacred and Secular. Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.

Rudolf Englert
Geht das: Fromm sein, ohne zu glauben? Ein Beitrag zum Verständnis intermediärer Religiositätsformate
Polarisierungs- und Nivellierungstendenzen im Feld des Religiösen

In Deutschland wird Religion immer häufiger zum Politikum. Wieviel Kruzifix, wieviel Kopftuch, wieviel Burka, wieviel Minarett darf sein? Soll es an den öffentlichen Schulen konfessionellen Religionsunterricht geben oder besser Ethik für alle? Darf eine atheistische Initiative auf den Bussen kommunaler Verkehrsbetriebe für eine Weltanschauung ohne Gott werben? Muss eine Theaterinszenierung abgesetzt werden, weil sie die religiösen Empfindungen bestimmter Gläubiger verletzt? Usw.

Solche Streitfälle spielen in der öffentlichen Wahrnehmung von Religion eine große Rolle. Naturgemäß treten dabei jene Gruppierungen besonders in den Vordergrund, die diese Streitfälle auslösen oder besonders sensibel auf sie reagieren. Das sind in der Regel Gruppierungen mit scharf profilierten Einstellungen in religiösen Fragen, z.B. fundamentalistische Christen, die an Abtreibungskliniken tätige Ärzte mit dem Tod bedrohen oder militante Islamisten, die religionskritische Künstler und Journalisten auf eine Abschussliste setzen. Oder es sind polemische Atheisten wie Dawkins, die auf Religion und Kirchen einschlagen, als hätte sich dort seit dem „Syllabus errorum“ von 1864 nichts geändert.

Vor diesem Hintergrund entsteht in der Öffentlichkeit schnell das Bild einer in religiösen Fragen polarisierten Gesellschaft. Nun wird man tatsächlich sagen können, dass sich im Feld der Religion gesellschaftlich derzeit eine Menge tut und dass es in diesem Feld sehr markante Akteure gibt. Dies gilt

- erstens ganz besonders für den Islam, der in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland heute unübersehbar präsent ist. Die europäische Moderne bekommt es hier mit Gläubigen zu tun, die vielfach einen Glaubensstil repräsentieren, den man in den urbanen Zentren des Westens endgültig hinter sich zu haben meinte: einen Glauben mit starkem Milieubezug, mit hoher Verbindlichkeit und relativ geringen individuellen Freiheitspielräumen. Dieser Glaube konfrontiert die Gesellschaft mit einem Maß religiöser Empfindlichkeit, das man sich in christlich geprägten Ländern weitgehend abgewöhnt hatte. Und so sehen sich die durch die Aufklärung geprägten Staaten Europas durch Bürger islamischen Glauben gezwungen, ihr eigenes Verhältnis zu Religion und Religionen zu überdenken und zu definieren.

- Ein zweiter markanter Akteur im Feld der Religion ist der religiöse Fundamentalismus sowie gewisse Formen religiösen Neokonservativismus. Dieser Religiositätstypus drängt den von der Erfahrung religiöser Pluralität ausgehenden Relativierungsdruck beiseite und katapultiert sich sozusagen mit einem dezisionistischen Ruck aus der religiösen Multioptionsgesellschaft heraus. Für diesen Typus gibt es nur einen Gott, einen Glauben, eine Wahrheit, eine Kirche. Es wäre völlig verkehrt, diese Form von Religiosität für ein Modell aus der Mottenkiste zu halten. Vielmehr ist es so, dass die Religionen heute weltweit vor allem da an Boden gewinnen, wo sie ein scharfes Profil zeigen und missionarisch mit eindeutigen Heilsversprechungen ungeniert in die Offensive gehen. In europäischen Ländern ist die Anhängerschaft der Nachfolger Billy Grahams zwar noch eine kleine Minderheit, aber gerade unter religiös sehr sensiblen jungen Leuten wächst auch hier die Zahl derer, die Eindeutigkeit wollen. Aus ihrer Sicht verlangt Religion vor allem Einverständnis, nicht Auseinandersetzung. Dies korrespondiert vielfach mit schwachreflexiven Formen charismatischer Frömmigkeit und mit neuen Formen des Klerikalismus.

- Ein dritter markanter Akteur ist der sogenannte Neue Atheismus (vgl. z.B. Striet 2008). Auch dieser wird vor allem da wahrgenommen, wo er zur Überdeutlichkeit tendiert. Ähnlich wie man fundamentalistisches Eindeutigkeitsstreben als Reaktion auf den Relativierungsdruck der Moderne ansehen kann, kann man den Neuen Atheismus als Reaktion auf fundamentalistische Eindeutigkeiten betrachten. Das trifft zwar nicht für alle seine Vertreter gleichermaßen zu, sehr wohl aber für die polemische Vorhut à la Dawkins oder Schmidt-Salomon. Wenn man deren Auslassungen genauer prüft, zeigt sich, dass sie das argumentative Niveau klassischer Religionskritiker wie Feuerbach, Marx, Freud oder Nietzsche nicht annähernd erreichen. Von daher ist der Atheismus dieser naturwissenschaftlich gebildeten Laientheologen jedenfalls weniger neu als dürftig. Doch auch hier zeigt sich: Gerade in einer solch reduzierten und simplen Gestalt erreicht dieser Akteur im Feld der Religion eine breite Aufmerksamkeit.

Diese drei Akteure: ein offensiver bis militanter Islam, ein neokonservatives bis fundamentalistisches Christentum und ein polemischer Atheismus haben einen starken Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Religion. Sie prägen das Bewusstsein von der religiösen Gegenwartssituation in einem Maße, die ihre reale Verankerung in der Bevölkerung um Längen übertrifft. Nur etwa vier Prozent der westdeutschen Bevölkerung gehören dem Islam an, und davon ist nur eine deutliche Minderheit islamistischen Strömungen zuzurechnen. Auch der christliche Fundamentalismus ist in Deutschland ein Minderheitenphänomen, selbst wenn sich dies aus der subjektiven Sicht kirchlicher Insider vielleicht etwas anders darstellen sollte. Der dezidierte weltanschauliche Atheismus schließlich ist in der westdeutschen Bevölkerung geradezu verschwindend gering ausgeprägt. Wohlgemerkt: in Westdeutschland – in den östlichen Bundesländern, wo es 68 Prozent Konfessionslose gibt (Bertelsmann Stiftung 2009, 103), sieht dies anders aus. Das wirft die Frage auf: Was ist eigentlich mit dem Rest der Bevölkerung? Wenn diese so auffälligen drei Akteure nur einen sehr kleinen Teil des religiösen Feldes besetzen, wer nimmt dann den Rest dieses Feldes ein?

Damit kommen wir zu einem Phänomen, das aus meiner Sicht nicht weniger aufschlussreich ist als die im Vordergrund stehenden religiösen Konflikte: dem Phänomen einer Gesellschaft, die in religiöser Hinsicht auf eine unbestimmte Mitte hin konvergiert. Ein wenig überspitzt gesagt, ist meine These: So sehr der religiöse Diskurs in der medialen Öffentlichkeit durch hochprofilierte Akteure bestimmt wird, so sehr ist das reale religiöse Leben der Menschen heute durch Unbestimmtheit, Identifikationsprobleme und intermediäre Religiositätsformate geprägt. Mit anderen Worten: Wo früher zwischen Theisten und Atheisten, zwischen Konfessionen und Religionen, zwischen kirchlich Engagierten und religiös Ungebundenen klare positionelle Differenzen bestanden, sind die Grenzen mittlerweile verschwommen. Bei empirischen Untersuchungen zeigt sich: Es hängt mitunter von winzigen Akzentuierungen in der Fragestellung ab, ob ein bestimmter Befragter am Ende dem „Lager“ der Theisten, der Agnostiker oder der Atheisten zugerechnet wird. Dieser wachsenden religiösen Mitte soll die folgende Betrachtung gelten.

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