Kitabı oku: «Sprachgewalt», sayfa 7
22Ausführlich zu Heimat und Rechtspopulismus in der Gegenwart: Annalina Lange: Das politische Konzept Heimat, in: Pop-Zeitschrift, 10.9.2018.
23Zur Abendland-Ideologie in der Neuen Rechte vgl. Volker Weiß: Die autoritäre Revolte: Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart 2017.
24Jörg Kilian (Hg.): Sprache und Politik. Deutsch im demokratischen Staat, Mannheim 2005.
25Daniel Schreiber: Deutschland soll werden, wie es nie war, in: Die ZEIT, 10.2. 2018; Fatma Aydemir/Hengameh Yaghoobifarah: Sollen sich die Rechten drum kloppen, in: taz, 17.2. 2019.
26Jöran Klatt: Politik mit dem Sehnsuchts(w)ort, in: Cicero, 23.2. 2018.
27Für viele: Stefan Aust/ Dirk Laabs: Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU, München 2014. Der Bekanntermaßen entwickelte sich der »Nationalsozialistische Untergrund« im Umfeld des »Thüringer Heimatschutzes«, einem Zusammenschluss von rechten Kameradschaften.
28Bausinger, S. 88.
29Beispielhaft für Viele: Till van Rahden: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt 1860 bis 1925, Göttingen 2000.
30Bernd Hallenberg et al. (Hg.): Migranten, Meinungen, Milieus. Vhw-Migrantenmilieu-Survey 2018, Berlin 2018.
31David Goodhart: The Road to Somewhere: The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2017.
32Z. B. Haymat – Türkisch-deutsche Ansichten, hg. v. Kristina Kara und Firat Kara, Frankfurt a. M. 2019. Eine Vielzahl wissenschaftlich begründeter Anregungen findet sich auch im Themenheft »Heimat« von Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 4, 2018. Für eine spezifisch kulturpolitische Diskussion siehe das Themenheft »Kultur. Macht. Heimaten. Heimat als kulturpolitische Herausforderung«, in: Jahrbuch für Kulturpolitik (17), 2019/20.
Antisemitismus
Amos Goldberg
Begriffsbestimmung
Ein Begriff, der die jüdische, aber auch die deutsche, europäische und universale Geschichte wesentlich mitbestimmt hat, ist der des Antisemitismus. Er gehört heute zu den dominantesten Begriffen im öffentlichen Leben in Deutschland und in vielen anderen Weltregionen, und seine Bedeutung ist in Politik und Wissenschaft heftig umstritten.1
Feindschaft und Gewalt gegen Juden hat es seit dem Altertum gegeben und gewiss seit der Zeit, als das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion des Römischen Reiches aufstieg.2 Doch erst Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Begriff Antisemitismus. David Engel erklärt: »Das Wort ›Antisemit‹ wurde Anfang der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts in Deutschland geläufig zur Bezeichnung von Personen und Gruppen, die bestimmte, erst kürzlich erlassene gesetzliche Regelungen aufgehoben wissen wollten, von denen sie meinten, dass sie Juden übermäßigen Einfluss auf das kulturelle, soziale, wirtschaftliche und politische Leben in ihrem Land einräumten.«3 Diese Antisemiten missbilligten die Emanzipation – die Gleichstellung der Juden und ihre wachsende Integration in das öffentliche Leben in Deutschland.
Etymologisch bedeutet das Wort Opposition gegen »Semiten«, doch es richtete sich von Anfang an speziell gegen Juden, die einer außereuropäischen Rasse oder Herkunft zugeordnet und daher als Fremde oder Eindringlinge empfunden wurden. Damit war eine neue Judenfeindschaft benannt, die – vor dem Hintergrund der Emanzipation – vorwiegend Herkunft, Rasse und mangelnde Zugehörigkeit betonte und weniger auf den traditionellen, religiösen christlich-jüdischen Spannungen beruhte, die allerdings auch nie verschwanden, sondern das moderne Phänomen unterstützten. Der erste, der den Begriff Antisemitismus vielfach verwandte und daher am stärksten damit identifiziert wird, ist Wilhelm Marr. In seiner 1879 erschienenen Schrift Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum4 schilderte er den angeblichen Zugriff der Juden auf die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Machtzentren Deutschlands infolge der Emanzipation, was er als einen Abstieg Deutschlands deutete. Wie viele andere Antisemiten sagte er »den Juden« und dem »jüdischen Geist« essenzielle negative Eigenschaften nach. Sein Antisemitismus sei nicht religiös bedingt, sondern säkular und rational, behauptete er.5
Viele Historiker benutzen den Begriff Antisemitismus spezifisch für diese moderne Erscheinung, aber andere sowie die Allgemeinheit verstehen darunter die Judenfeindschaft aller Zeiten. Im Englischen schreiben manche das Wort mit Bindestrich, Anti-Semitismus, um den rassischen (und damit in gewisser Hinsicht auch für sonstige Angehörige der semitischen Sprachfamilie geltenden) Aspekt zu betonen, während andere es weiterhin als Antisemitismus zusammenschreiben und damit allein das jüdische Schicksal meinen. Wieder andere bevorzugen alternative Begriffe wie »Judeophophia« oder »Judenhass«. Und noch andere, wie David Engel, vermeiden jeden festen Begriff, weil er so unterschiedliche Phänomene bezeichne, dass er seine kohärente Bedeutung und analytische Kraft verliere. Engel betont außerdem, dass Juden wie Nicht Juden niemals zu einer präzisen Definition des Phänomens gelangt seien.6
Der moderne Antisemitismus ist, so variabel und konnotationsabhängig er bei seinem konkreten Auftreten auch sein mag, nach herrschender Meinung mit dem Aufkommen des modernen Nationalismus und des Nationalstaats entstanden. Unter den neuen Auffassungen von Politik und Identität fiel es den nicht jüdischen Gesellschaften schwer, die Juden als integralen und gleichberechtigten Teil zu betrachten, sei es, weil sie glaubten, die jüdische Loyalität gelte eher dem jüdischen Stamm als der Nation, oder sei es, weil die Juden nach ihrem Dafürhalten nicht die religiösen Traditionen und ethnischen Wurzeln der Nation teilten. Die Juden wurden zum »Problem«, zur »Judenfrage«. Es hieß, sie strebten die »Weltherrschaft« an. 1903 erschien auf Initiative der zaristischen Geheimpolizei das Pamphlet Die Protokolle der Weisen von Zion, eine Reihe gefälschter Protokolle von angeblichen Geheimtreffen jüdischer Weltverschwörer, die die Erringung der Weltherrschaft planten. Dieses Pamphlet, eine der berüchtigtsten Schriften des modernen Antisemitismus, fand rasante Verbreitung, wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt und beeinflusste die Meinung über Juden – und damit auch ihr Schicksal – erheblich.
Der moderne Antisemitismus schuf eine Fülle dämonischer Judengestalten, die teils noch auf mittelalterlichen Judendarstellungen aufbauten. Die antisemitische Bilderwelt enthielt innere Widersprüche. Die Juden galten zugleich als machtvoll, schwach und parasitär, als Anstifter der kommunistischen Revolution und als Barone des brutalen Kapitalismus, als Partikularisten und Universalisten.
Von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gab es reihenweise antisemitische Vorfälle, teils äußerst gewalttägiger Art, in den meisten Staaten Europas (und aller Welt). 1894 wurde der jüdische Offizier Alfred Dreyfus in Frankreich wegen vermeintlichen Landesverrats verurteilt und erst 1906 endgültig rehabilitiert. Der Fall spaltete die Republik und zog vehemente antisemitische Ausbrüche nach sich. Der Journalist Theodor Herzl, der über den Prozess und die öffentliche Wut auf Dreyfus und die Juden berichtete, sah in der Assimilation der Juden in den Völkern Europas keine aussichtsreiche Lösung mehr und gründete die zionistische Bewegung. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es mörderische Pogrome an den Juden in Russland. Der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit brachten neue Höhepunkte der Gewalt. So ermordeten ukrainische Armeetruppen und Milizen, die von der Roten Armee besiegt worden waren, im Jahr 1919 Zehntausende von Juden.
1933 kam in Deutschland die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei an die Macht. Zu ihrer Ideologie gehörte ein radikal rassistischer Antisemitismus, den Saul Friedländer als »Erlösungsantisemitismus« bezeichnete,7 und entsprechend aggressiv gestaltete sich ihre antijüdische Politik. In ihrem Gefolge und aus anderen historischen Gründen wuchsen die antisemitischen Bewegungen in den 1930er-Jahren in ganz Europa und gewannen vor allem in seinem Ostteil an Macht. Vielerorts bemühte man sich, Juden aus der Wirtschaft zu vertreiben, ihnen Rechte abzuerkennen, ihre Emigration zu fördern, einen Numerus clausus an Hochschulen gegen sie einzuführen und anderes mehr.
Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust trieben die antisemitische Gewalt auf beispiellose Spitzen. Während des Krieges ermordeten die Nazis im Rahmen der »Endlösung der Judenfrage«, im Zusammenwirken mit antisemitischen Bewegungen, Verbänden, Einzelpersonen und Regimen in ganz Europa, nahezu sechs Millionen Juden – einen Großteil in sechs Vernichtungslagern, die Juden mit Gas töteten. Der Holocaust vernichtete fast zwei Drittel der europäischen Judenheit und ein Drittel des gesamten jüdischen Volkes. Er veranlasste viele der Überlebenden, die teils auch in den Nachkriegsjahren noch antisemitische Ausbrüche erleben mussten, zur Emigration aus Europa, hauptsächlich nach Israel und in die USA.
Judenhass hat demnach in Europa und in der Welt eine uralte, blutige Tradition und lebt bis heute fort. Vermutlich wird er auf die eine oder andere Weise auch künftig weiter bestehen.
Mit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wurde die Sache noch komplizierter. Einerseits waren die Juden im Land Israel nicht länger eine rechtlose Minderheit, sondern errichteten einen souveränen Staat, der langsam zu einer Regionalmacht aufstieg. Andererseits weckte er, als wichtigste jüdische Institution der Neuzeit, den Hass der Antisemiten. Manche von ihnen betrachteten den Zionismus allerdings als Verbündeten, da er die Juden zum Verlassen ihrer Länder aufrief. Die Lage wurde noch vertrackter, als im israelischen Unabhängigkeitskrieg (1947–1949) rund 750.000 Palästinenser aus dem Gebiet des neuen Staates flohen oder vertrieben wurden und nicht wieder zurückkehren durften. Ihre Böden und sonstigen Güter wurden konfisziert, Hunderte ihrer Dörfer zerstört und oftmals durch neue jüdische Ortschaften auf den Ruinen ersetzt. Die Palästinenser waren nun eine Minderheit im eigenen Land. Das ist die palästinensische »Nakba« (Katastrophe), die manche als ethnische Säuberung ansehen. 1967 eroberte Israel weitere Gebiete in Ost-Jerusalem, im Westjordanland, im Gasastreifen, auf den Golanhöhen und im Sinai. Fortan herrschte es über alle Teile des einstigen britischen Mandatsgebiets Palästina und über Millionen rechtlose Palästinenser in diesen besetzten Gebieten, wo der Staat alsbald Juden ansiedelte. Der palästinensische Widerstand war mit harter Hand unterdrückt worden, und der bis heute andauernde israelisch-arabische Konflikt hat Teile der arabischen Welt veranlasst, in Bezug auf Israel antisemitische Ansichten und Ausdrucksformen zu übernehmen, die ihren Ursprung in Europa haben.8
Auf der anderen Seite betrachteten die zionistischen Organisationen und der israelische Staat ihre arabischen Feinde als Nazis und deren Unterstützer als Antisemiten, obwohl es sich im Wesentlichen um einen politischen Konflikt handelt.9 Dieser Vorwurf wurde seit den 1990er-Jahren zum mächtigen Werkzeug, um der scharfen Kritik an den Gräueln der Okkupation zu begegnen, zu denen auch massive und wohldokumentierte Verstöße gegen Menschenrechte und gegen das Völkerrecht gehörten, und möglichst eine Kritik am Wesen des Zionismus überhaupt zu unterbinden. Der Antisemitismus als greifbares, gefährliches Phänomen diente nun zur Ausschaltung von Kritik. Diese Tendenzen erschweren eine rationale Diskussion über künftige Lösungs- und Versöhnungsansätze.
Im Folgenden möchte ich die Entwicklung dieser Tendenzen im Rahmen des globalen Kriegs der Narrative kurz und natürlich auch nur teilweise erläutern.
Zwei globale Narrative
Der Historiker Charles Maier befand, gegen Ende des 20. Jahrhunderts hätten sich im Westen und darüber hinaus zwei große Narrative über die historischen Katastrophen herausgebildet, um das Wesen der Moderne zu erklären – zum einen die Erzählung des Holocaust und des Antisemitismus, zum anderen die anti-/postkolonialistische Erzählung vom westlichen Rassismus.10
Über die Jahre entstanden komplizierte Beziehungen zwischen diesen Narrativen. Viel ist in den letzten 20 Jahren zu diesem Thema geschrieben worden. Besonders erwähnenswert ist das Buch Multidirectional Memory von Michael Rothberg,11 das aufzeigt, wie diese beiden Erzählungen sich verquickten, ohne notwendig miteinander zu konkurrieren oder einander auszuschließen. Trotzdem stehen sie letzten Endes in einem unweigerlichen Spannungsverhältnis. Bei der Holocaust-Erzählung geht es um innereuropäische Geschehnisse und die Ermordung von sechs Millionen Juden während des Zweiten Weltkriegs, bei der anti-/postkolonialistischen Erzählung hingegen um das Unrecht, das Europa und der Westen den nicht weißen Bevölkerungen in- und außerhalb Europas zugefügt haben, einschließlich der Sklaverei. In der Holocaust-Erzählung sind die Juden das ultimative Opfer, und der Antisemitismus ist die mörderischste Weltanschauung. In der antikolonialistischen Erzählung sind nicht europäische Völker das ultimative Opfer, und der gegen sie gerichtete Rassismus ist die kriminellste Weltanschauung. Trotz der komplexen Geschichte von Vergessen und Verdrängen hat die Holocaust-Erzählung gegen Ende des Millenniums globale Anerkennung gefunden, und die Opfer haben eine Entschädigung erhalten – völlig berechtigt, aber sehr großzügig im historischen Vergleich.12 Die Verbrechen des Kolonialismus und Rassismus hingegen werden vom Westen immer noch weitgehend geleugnet, und das Ringen der Nachkommen ehemaliger Sklaven und der afrikanischen Staaten beispielsweise um Entschädigungen trägt bisher kaum nennenswerte Früchte.
Die beiden Narrative kollidieren besonders heftig beim Thema Israel-Palästina.13 Nach dem Narrativ von Holocaust und Antisemitismus hat die Feindschaft gegen Juden als Minderheit in Europa (in gewissem Maße auch in den Ländern des Islam), ihr Leben in Europa nahezu unmöglich gemacht. Die Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden im Land Israel, wo auch Holocaustüberlebende ein neues Leben aufbauen und ihre Würde zurückgewinnen konnten, war unumgehbar.
Das anti-/postkolonialistische Narrativ hingegen hält den Zionismus für ein weiteres Beispiel westlichen Kolonialismus und Imperialismus. Die Juden, die unter dem Schutz der Weltmächte aus Europa kamen, wollten sich nicht in das örtliche politische Gefüge integrieren, sondern es durch eine eigene politische Gemeinschaft ersetzen, in der die Einheimischen als minderwertig galten. Die europäischen Mächte, an erster Stelle Großbritannien, gewährten der jüdischen Minderheit nationale Rechte in einem Gebiet, das ihnen nicht gehörte, und wie die Gründer anderer Siedlungskolonien hatten die Zionisten grenzenloses Verlangen nach Böden und verdrängten einheimische Araber. Die ethnische Säuberung von 1948, die »Nakba«, war das unweigerliche Ergebnis dieser Entwicklungen.14 Seither greift das zionistische, kolonialistische Siedlungswerk mit westlicher Unterstützung immer weiter um sich. Aus dieser Perspektive ist der Zionismus eine kriminelle und rassistische Bewegung, die dem siedelnden Volk auf Kosten des einheimischen Volkes individuelle und nationale Vorrechte einräumt. In dieser Erzählung sind die Palästinenser die Opfer, die den weltweit letzten antikolonialistischen Befreiungskampf ausfechten.
Im Allgemeinen hat der europäische politische Mainstream das Holocaust-Narrativ in Bezug auf Israel angenommen. Doch in den 1990er-Jahren war auch das feindselige und anklagende postkolonialistische Narrativ gegen Israel auf dem Vormarsch, vor allem bei Menschenrechtsaktivisten und an amerikanischen und europäischen Universitäten. In bestimmten Kreisen wuchs die Kritik an Israel infolge der 1967 beginnenden Besatzung, dem Libanonkrieg von 1982 und den immer zahlreicheren Siedlungen in den besetzten Gebieten und stützte sich dabei vermehrt auf dieses Narrativ.15
Beide Erzählungen kollidierten hart im Sommer 2001 auf der Dritten UN-Weltkonferenz gegen Rassismus in Durban, Südafrika. Die Konferenz tagte rund ein Jahr nach dem Scheitern des Osloer Friedensprozesses und dem Ausbruch der Zweiten Intifada im September 2000. Die postkolonialistische Agenda bestimmte die Atmosphäre der Konferenz auch zum Thema Israel.
Das galt besonders für die Schlusserklärung des NGO-Forums, dem Forum der Menschenrechtsverbände, das mit seinen rund 3.000 Teilnehmern parallel zum diplomatischen Forum stattfand. Die 473 Paragrafen des Dokuments befassten sich mit einer langen Reihe von Rechtsverletzungen in aller Welt (einschließlich Antisemitismus und Holocaustleugnung) und schienen jahrzehntelange Entwicklungen im progressiven, globalen anti- und postkolonialistischen politischen Denken prägnant zusammenzufassen. Die Paragrafen zu Israel fielen äußerst scharf aus.16 Israel wurde als krimineller und rassistischer Apartheid-Staat verurteilt und massiver Menschenrechtsverletzungen bezichtigt. Die Vorwürfe betrafen ethnische Säuberung, Völkermordhandlungen (acts of genocide), Kriegsverbrechen, Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen internationale Konventionen. Der Staat Israel wurde aufgefordert, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 zuzulassen und ihnen Entschädigung zu leisten. Das Dokument befürwortete sogar einen Boykott gegen Israel, wie einst gegen Südafrika.
Dieses Forum sah die palästinensische moralische Erzählung des Konflikts im antikolonialistischen Narrativ und Ethos verankert. Das widersprach jedoch völlig dem Selbstbild Israels und dem Bild, das sich die meisten Juden sowie die westliche Welt im Rahmen der globalen Holocaust-Erzählung von ihm machten: Ein vielleicht nicht ganz perfekter Staat, jedoch in erster Linie eine Heimstätte für Holocaustüberlebende und die ultimative Antwort auf den Antisemitismus. Im Ringen der Narrative schien es, als hätte in Durban die postkolonialistische Erzählung die Oberhand gewonnen und fortan werde die öffentliche Meinung und vielleicht auch die der politischen und diplomatischen Institutionen im Westen diesen Weg einschlagen.
Hier sei gesagt, dass diese Auffassung vom Zionismus als imperialistischer und kolonialistischer Bewegung unter palästinensischen Intellektuellen und Politikern sowie in marxistischen Kreisen und in Drittweltstaaten schon seit Langem eingefleischt war, unterstützt auch durch die Entscheidung der UN-Vollversammlung von 1975, die den Zionismus mit Rassismus gleichsetzte. Doch nun hatte es den Anschein, als würde dieses Narrativ auch in den intellektuellen und ethischen Mainstream des Westens vordringen. Die postkoloniale »Magd« und das palästinensische Narrativ begannen in diesen Jahren ihren Vormarsch in den Palast der westlichen »Herrin«.
Viele der israelischen und jüdischen Teilnehmer in Durban erlebten die Konferenz als Trauma und betrachteten sie als Paradebeispiel antisemitischen Hasses.17 Sie sahen darin einen Ausbruch uralten Judenhasses, der sich nur mit Mühe hinter einer dünnen Maske politischer Ablehnung gegen Israel und den Zionismus verborgen hatte. Im Nachhinein zeigte sich, dass hier ein Wendepunkt im Verhältnis zwischen den beiden Erzählungen eingetreten war.18
Die Konferenz endete am 8. September 2001. Drei Tage später folgten die Anschläge des 11. September in den USA, die die Welt veränderten. Die großen Terroranschläge, auch gegen jüdische Institutionen vor dem Hintergrund der Zweiten Intifada, der Aufstieg des Islamischen Staates, der gescheiterte Arabische Frühling, die Migrantenwellen und das Erstarken des Populismus nahmen in den nächsten zwei Jahrzehnten erheblichen Einfluss auf die westliche und die Weltpolitik und schwächten das postkolonialistische Narrativ und seine radikale Menschenrechtsauffassung erheblich.
Dagegen festigte sich die Stellung Israels als Pionierin der Terrorbekämpfung. Vor diesem Hintergrund bemühten sich viele – jüdische und nicht jüdische – Gremien mit aller Macht, den auf der Konferenz in Durban entstandenen Prozessen entgegenzutreten, was allerdings nur schrittweise voranging. Ich möchte diesen Trends kurz durch ein symbolisches Jahr folgen: 2005.
Im Jahr 2005, nach dem Ende der Zweiten Intifada, initiierten palästinensische Bürgerverbände die BDS-Kampagne, mit dem Aufruf, Israel mit Boykott zu belegen, Investitionen aus dem Land abzuziehen und Sanktionen einzuleiten, bis der Staat Israel drei Bedingungen erfüllte, die unter Palästinensern nahezu unumstritten sind: Beendigung der Okkupation in den 1967 eroberten Gebieten, volle Gleichstellung der im Staat Israel lebenden Palästinenser und Gewährung des Rückkehrrechts für die Flüchtlinge von 1948 (laut UN-Resolution 194).19 Da Israel den Friedensprozess nicht weiter vorantrieb, die Lage der Palästinenser ständig prekärer wurde und die Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten weiterging, gewann die BDS-Kampagne wachsenden Zuspruch, vor allem unter progressiven Aktivisten an Universitäten in den USA und Großbritannien. Ihre Anhänger betrachteten sie als Teil des gewaltlosen antikolonialistischen Befreiungskampfs in einem asymmetrischen Konflikt, bei dem die Kräfteverhältnisse keineswegs ausgewogen waren. Die Kampagne schloss direkt an die Durban-Konferenz an und basierte auf der südafrikanischen Erfahrung.
Andererseits übernahm eine wichtige internationale Institution 2005 erstmals eine Definition des Antisemitismus, die besondere Betonung auf antiisraelische und antizionistische Äußerungen von Antisemitismus legte.20 Diese Definition wurde inoffiziell viel verwendet und erreichte nach einigen Wandlungen eine gewisse Kanonisierung, als 2016 die sogenannte »Internationale Allianz zum Holocaustgedenken« (International Holocaust Remembrance Alliance), kurz IHRA, sie übernahm und alle Mitgliedsstaaten (derzeit 34) dazu aufrief, sie als wirksames Mittel im Kampf gegen den Antisemitismus zu verwenden.21 Sie setzte sich als international üblichste und gültigste Antisemitismusdefinition durch, erntete jedoch auch heftige Kritik.22