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Geist und schädliche Auswirkungen der IHRA-Definition
Die IHRA-Erklärung gibt eine verschwommene Antisemitismus-Definition und führt danach elf Beispiele zu ihrer Verdeutlichung an. Sieben davon beschäftigen sich mit Israel. Damit erklärt sie antiisraelische Äußerungen zum eklatantesten und schärfsten Ausdruck von Antisemitismus. Die Definition untersagt praktisch jede wesentliche Kritik am israelischen Staat und am Zionismus, eröffnet die Möglichkeit, jedwede Israelkritik als antisemitisch zu brandmarken, schützt Israel auch gegen solche Kritik, die in anderen internationalen Zusammenhängen gang und gäbe ist, und verdammt zentrale Teile des palästinensischen und arabischen Narrativs als antisemitisch.
Hier ein Beispiel aus der IHRA-Sammlung zum Antisemitismusbegriff: »Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen.« Danach würde jemand, der – wie der Verfasser dieser Zeilen oder auch Hannah Arendt und der amerikanisch-jüdische Publizist Peter Beinart – einen binationalen Staat zur Lösung des Konflikts propagiert, als Antisemit gelten, weil er scheinbar das Selbstbestimmungsrecht der Juden leugnet. Dasselbe gilt für die verbreitete Lehrmeinung, die besagt, Israel sei – wie viele andere Staaten, darunter die USA, Kanada und Australien – ein siedlungskolonialistischer Staat und trage dementsprechend diskriminierende oder gar rassistische Merkmale. Die Menschenrechtsorganisation Adalah der palästinensischen Bürger Israels hat Dutzende von Gesetzen angeführt, die die arabischen Israelbürger benachteiligen. Auch sie könnte als antisemitisch gelten, da sie diese Benachteiligung als institutionalisiert und strukturbedingt bezeichnet.23 Nach Meinung des israelischen Historikers Yehuda Bauer ist schon die Forderung nach einer Repatriierung der palästinensischen Flüchtlinge von 1948 antisemitisch, weil sie den jüdischen Charakter des Staates negiert.24 Sogar die Behauptung, das diktatorische Besatzungsregime im Westjordanland sei rassistisch, kann als antisemitisch aufgefasst werden. Die Definition greift demnach in den israelisch-palästinensischen Konflikt ein und schafft eine absurde Situation: Israel, hier die starke Seite, darf den Palästinensern das Selbstbestimmungsrecht absprechen, ja sie sogar mit aller staatlichen Macht an seiner Umsetzung hindern, aber die Palästinenser dürfen es nicht mal rhetorisch einfordern, weil das als antisemitisch gelten würde.
Eine weitere Forderung lautet, Kritik an Israel dürfe nur dann geübt werden, wenn andere demokratische Nationen in vergleichbarem Umfang kritisiert werden, was natürlich in keinem anderen internationalen Kontext verlangt wird. Damit kann jede Kritik an Israel oder an seiner Besatzungspolitik als unausgewogen und daher antisemitisch verdammt werden.
Dies sind nur einige Beispiele dafür, wie die Definition die berechtigte westliche Sensibilität für Antisemitismus ausnutzt, um Kritik an Israel abzumildern oder ganz zu unterbinden und das antikolonialistische palästinensische Narrativ praktisch auszuschließen.
Kein Wunder also, dass die israelische Regierung und ihr Chef Benjamin Netanjahu sich nach Kräften bemühen, die IHRA-Definition international durchzusetzen. Sie stützen sich dabei auf jüdische und nicht jüdische Organisationen und auf örtliche politische Gremien, oft konservativer, teils aber auch progressiver Ausrichtung, die Israelkritik gern mit Antisemitismus gleichsetzen. In Deutschland gilt das besonders für die marxistisch-trotzkistische Gruppe der »Antideutschen«.25 Doch auch sonst herrscht in der Bundesrepublik praktisch fast völliger politischer Konsens in dieser Frage.26
Die Definition und der Geist der IHRA stellen fast jeden Vorwurf gegen den Zionismus oder den Staat Israel, ja sogar gegen die Besatzungspolitik und ihre dokumentierten Menschenrechtsverletzungen, unter Antisemitismusverdacht. Dieser Geist hat den Israel-Palästina-Diskurs von einem politischen Diskurs, der – unter Wahrung der Sicherheit des Staates Israel und der Rechte der Juden – gleiche nationale und individuelle Rechte für die Palästinenser einfordert, in einen falschen Diskurs zum Thema Antisemitismus verwandelt. Praktisch heißt das: Der einzig effektive Weg, den der Staat Israel und seine Unterstützer gegen die starken Argumente der Palästinenser für die Berechtigung ihrer Forderungen gefunden haben,27 ist der, sie als antisemitisch zu diskreditieren. Zumindest in der Frage Israel/Palästina wird das postkolonialistische Narrativ demnach selbst in seiner mildesten Form als antisemitisch abgelehnt (oder zumindest unter Verdacht gestellt). Die bloße Forderung nach Gleichheit zwischen Juden und Arabern wird als antisemitisch empfunden
Diese Tendenzen beschränken die freie Meinungsäußerung und den Umfang des Diskurses zum Thema Israel-Palästina auf dramatische Weise. Wissenschaftler werden des Antisemitismus bezichtigt und verlieren zuweilen ihre Stellung,28 Hilfsorganisationen, die Palästinenser unterstützen, fürchten die Zusammenarbeit mit ihnen.29 Öffentliche Verleumdungskampagnen richten sich gegen Kulturschaffende und Akademiker. Das Wiesenthal-Center in den USA nahm die Europäische Union in ihre »Liste der 10 schlimmsten antisemitischen/antiisraelischen Verleumdungen« des Jahres 2015 auf, wegen der europäischen Forderung, Produkte aus den Siedlungen in den besetzen Gebieten als solche zu kennzeichnen, da diese Orte nicht zum Staat Israel gehörten.30 Sogar die Obama-Regierung wurde wegen ihrer angeblich antiisraelischen Politik als antisemitisch bezeichnet,31 und dies sind nur einige Beispiele.
Die Dynamik variiert von Land zu Land. In den USA diente die Definition der Trump-Regierung dazu, grob in das Geschehen an den Universitäten einzugreifen, in dem Bemühen, Proteste gegen Israel zu verhindern und in akademische Lehrpläne einzugreifen. In einem Aufsatz in der New York Times erklärte Jared Kushner, für die Trump-Regierung sei Antizionismus gleich Antisemitismus.32 Auch in Frankreich entschied die Nationalversammlung, dass Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen sei. Jair Netanjahu, der Sohn und das krude Sprachrohr Benjamin Netanjahus, begriff die Bedeutung dieser Entscheidung sehr gut: »Erfasst ihr, dass das französische Parlament praktisch beschlossen hat, dass Achmed Tibi, Ayman Odeh und die ganze Vereinte Liste [arabischer Knesset-Mitglieder] Antisemiten sind?«33 Hier ist anzumerken, dass die Debatte über den Zionismus zwischen Juden und Arabern, aber auch von Juden untereinander, seit der Entstehung der zionistischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts bis heute geführt wird.34
Die Verwirrung zwischen Protest gegen israelische Regierungspolitik und für legitime Gleichstellungsforderungen der Palästinenser einerseits und Antisemitismus andererseits scheint in Deutschland besonders groß zu sein. Im Mai 2019 erklärte der Bundestag die BDS-Bewegung mit großer Mehrheit für antisemitisch, obwohl diese gewaltlose Protestbewegung heute fast als Einzige der israelischen Okkupation entgegentritt. Deutsche fühlen sich bei jedem Boykott gegen Juden an den Boykott der Nazis gegen die deutschen Juden erinnert. Damit entfällt die Unterscheidung zwischen dem Boykott einer mächtigen Diktatur, die ihre wehrlosen jüdischen Bürger verfolgt, und einem mächtigen Staat (Israel), der seine wehrlosen palästinensischen Untertanen diskriminiert und unterdrückt.35
Infolge des Bundestagsbeschlusses unterzeichneten 240 jüdische Wissenschaftler, viele davon aus Israel, einen Aufruf, in dem sie erklärten, auch wenn man die Boykottbewegung ablehne, könne man sie nicht als antisemitisch einstufen. Als das Jüdische Museum Berlin über Twitter auf diese Verlautbarung hinwies, brach ein wahrer Sturm los, worauf der Museumsdirektor, Prof. Peter Schäfer, von seinem Amt zurücktreten musste. Diese Stimmung erschwert es palästinensischen und propalästinensischen Gruppen, öffentliche Veranstaltungsorte für ihre Treffen zu finden. Der jüdischen Aktivistengruppe Jüdische Stimmen für gerechten Frieden in Nahost, die die BDS-Bewegung unterstützt, wurde unter dem Antisemitismusvorwurf sogar das Bankkonto gesperrt. Das »Gespenst des Antisemitismusvorwurfs« gehe in Deutschland um, erklärte die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, und dieses Gespenst beschränke die Denk- und Meinungsfreiheit in Sachen Israel-Palästina.36
Im April 2020 erreichte diese Kontroverse einen neuen Höhepunkt, als der in Südafrika lebende Kameruner Intellektuelle Achille Mbembe des Antisemitismus bezichtigt wurde, worauf die Leitung der Ruhrtriennale, die ihn als Eröffnungsredner eingeladen hatte, sich gezwungen sah, ihn wieder auszuladen. Einige scharfe antiisraelische Sätze von Mbembe und die partielle Analogie, die er zwischen dem Apartheidregime in Südafrika und dem Nationalsozialismus hergestellt hatte, stempelten ihn in den Augen seiner Kritiker zum Antisemiten. In der folgenden öffentlichen Debatte kritisierten erstmals Vertreter des Mainstreams aus Wissenschaft, Presse und Kultur (nicht jedoch aus der Politik) öffentlich den fehlgeleiteten Kampf gegen Antisemitismus, der von einem emanzipatorischen Diskurs zum Schutz der Rechte von Juden zu einem erstickenden und diktatorischen Diskurs verkomme, der die freie Meinungsäußerung einschränke und wichtige Stimmen aus der außereuropäischen Welt ausschalte.37
Ermutigendes kommt auch von Gerichtshöfen in Europa. Drei deutsche Gerichte entschieden, Stadtverwaltungen dürften Gruppen nicht wegen ihrer Haltung zur BDS-Bewegung diskriminieren (z. B. bei der Vergabe von öffentlichen Räumen für ihre Versammlungen). Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat am 11. Juni entschieden, die freie Meinungsäußerung der Boykottbewegung dürfe nicht eingeschränkt werden, denn Boykotte seien ein legitimes Mittel im politischen Ringen.
Ich persönlich sehe in der Erzählung von Holocaust und Antisemitismus und der anti-/postkolonialistischen Erzählung zwei historische und ethische Narrative, die man kennen und anerkennen sollte. Sie verweisen auf die katastrophalen Grundfesten der modernen westlichen Kultur und haben als solche beide ein emanzipatorisch radikales Potenzial – auch in Bezug auf Israel-Palästina. Die Übernahme beider Narrative verhindert den Missbrauch des Begriffs Antisemitismus und rettet den berechtigten und notwendigen Kampf gegen den Antisemitismus davor, zum Instrument von Unterdrückung, Rechtsverletzung und Beschränkung der freien Meinungsäußerung zu mutieren.38
(Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama)
1Eine aktuelle Zusammenfassung der Geschichte des Begriffs und der heutigen Kontroverse um seine Bedeutung findet sich in David Feldman: Anti-Semitism, in: American Historical Review (AHR), Oktober 2018, S. 1139-1150, sowie praktisch die gesamte Tafelrunde zum Thema Antisemitismus in derselben Ausgabe, S. 1122-1245, unter Mitwirkung von (neben Feldman) Bryan Cheyette, Jonathan Judaken, Ethan B. Katz, Maurice Samuels, Daniel J. Schroeter, Stefanie Schüler-Springorum, Scott Ury. Zur neuesten Debatte in Deutschland siehe Wolfgang Benz (Hg.): Streitfall Antisemitismus: Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin 2020.
2Zu diesem Phänomen im Verlauf der Zeiten gibt es eine ungeheure Fülle von Studien, die hier nicht angeführt werden können.
3David Engel: Away from a Definition of Antisemitism: An Essay in the Semantics of Historical Description, in: Jeremy Cohen/Moshe Rosman (Hg.), Rethinking European Jewish History, The Littman Library of Jewish Civilization, Oxford 2009, S. 30-53, hier S. 34.
4Wilhelm Marr: Der Weg zum Siege des Germanenthums über das Judenthum, Berlin 1879.
5Zu Wilhelm Marr siehe Moshe Zimmermann: Wilhelm Marr, The Patriarch of Antisemitism, Oxford 1986.
6Engel, S. 34.
7Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden, Bd. 1: Die Jahre der Verfolgung, 1933–1939, München 2007, übersetzt von Martin Pfeiffer. Siehe auch Alon Confino: A World without Jews – The Nazi Imagination from Persecution to Genocide, New Haven 2014.
8Für einen umfassenden Überblick zu diesem Thema siehe Esther Webman: The Challenge of Assessing Arab/Islamic Antisemitism, in: Middle Eastern Studies, Bd. 46, September 2010, Nr. 5, S. 677-697.
9Siehe ausführlich in dem Buch von Idith Zertal: Israel’s Holocaust and the Politics of Nationhood, Cambridge 2005, übersetzt von Chaya Galai; sowie Scott Ury: Strange Bedfellows? Anti-Semitism, Zionism, and the Fate of the »the Jews«, in: AHR, S. 1151-1171, sowie Daniel J. Schroeter: Islamic Anti-Semitism in Historical Discourse, in: AHR, S. 1172-1189; Ethan B. Katz: An Imperial Entanglement: Anti-Semitism, Islamophobia, and Colonialism, in: AHR, S. 1190-1209. Ein Gipfel der Verzerrung war erreicht, als der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu im Oktober 2015 behauptete, Hitler habe die Juden gar nicht vernichten wollen. Der Jerusalemer Mufti Hadsch Amin al-Husseini habe ihn erst dazu angespornt.
10Charles S. Maier: Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, AHR, Bd. 165, Juni 2000, Nr. 3, S. 807-831.
11Michael Rothberg: Multidirectional Memory, Palo Alto 2009.
12Debórah Dwork und Robert Jan Van Pelt betonen: »Anders als andere Flüchtlingsgruppen der Neuzeit…haben die Holocaustüberlebenden…ein gewisses Maß an Entschädigung erhalten.« Debórah Dwork/Robert Jan Van Pelt: Flight from the Reich: Refugee Jews 1933–1946, New York/London 2009, XIV. Siehe in diesem Zusammenhang auch das umstrittene Buch von Susan Neiman: Learning from the Germans: Confronting Race and the Memory of Evil, New York 2019.
13Omar Kamil: Der Holocaust im arabischen Gedächtnis: Eine Diskursgeschichte 1945–1967, Göttingen 2012, zu Sartre S. 87-126.
14Patrick Wolfe: Settler Colonialism and the Elimination of the Native, Journal of Genocide Research, Bd. 8, 2006, Nr. 4, S. 387-409. Siehe auch Lorenzo Veracini: Settler Colonialism: A Theoretical Overview, New York 2010.
15Siehe aktuell Rashid I Khalidi: The Hundred Years’ War on Palestine. A History of Settler Colonial Conquest and Resistance, London 2020; Raef Zreik: When Does a Settler Become a Native? (With Apologies to Mamdani), Constellations Bd. 23, 2016, Nr. 3, S. 351-364. Sowie Aufsätze in dem Buch: Nadim Rouhana (Hg.): Israel and Its Palestinian Citizens: Ethnic Previleges in the Jewish State, Cambridge 2017.
16‹http://humanrightsvoices.org/assets/attachments/documents/durban_ngo_declaration_2001.pdf›.
17Siehe z. B. Tom Lantos: The Durban Debacle: An Insider’s View of the World Racism Conference at Durban, The Fletcher Forum of World Affairs, Winter/ Frühjahr 2002, S. 1-22.
18Zahlreiche Gruppen und Organisationen, die diese Tendenzen durch Bemühungen zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung zu bekämpfen versuchten, wurden im Gefolge der Durban-Konferenz gegründet. Siehe z. B. NGO MONITOR, ‹https://www.ngo-monitor.org/about/faqs›.
20Zu den Wandlungen des Begriffs siehe ‹https://electronicintifada.net/israel-lobby-uses-discredited-anti-semitism-definition-muzzle-debate/11716› sowie Dina Porat: The International Working Definition of Antisemitism and Its Detractors, Israel Journal of Foreign Affairs, Bd.5., 2011, Nr. 3, S. 93-101.
21‹https://www.holocaustremembrance.com›.
22Siehe z. B. Rebecca Ruth Gould: Legal Form and Legal Legitimacy: The IHRA Definition of Antisemitism as a Case Study in Censored Speech, in: Law, Culture and the Humanities, 2018, S. 1-34. Siehe auch die grundsätzliche Kritik des Soziologen Peter Ulrich an der Definition ‹https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/rls_papers/Papers_2-2019_Antisemitismus.pdf›. sowie die Website der kanadischen Aktivistengruppe ‹https://www.noihra.ca/›.
23‹https://www.adalah.org/en›.
24‹https://www.haaretz.com/world-news/europe/.premium-daniel-blatman-santi-semitic-attack-1.7613216›.
25Siehe Simon Erlanger: »The Anti-Germans« – The Pro-Israel German Left, in: Jewish Political Studies Review, Bd. 21, Frühjahr 2009, Nr. 1-2, ‹https://jcpa.org/article/the-anti-germans-the-pro-israel-german-left/›.
26In breiten Kreisen gilt arabischer und muslimischer Antisemitismus als starke Bedrohung für Deutschland. Siehe dazu David Ranan: Muslimischer Antisemitismus: Eine Gefahr für gesellschaftlichen Frieden in Deutschland?, Bonn 2018.
27Berechtigt sind diese Forderungen besonders, seit die Palästinenser der Gründung eines palästinensischen Staates im Westjordanland auf 22 % des Mandatsgebiets Palästina zugestimmt haben, was Israel jedoch ebenfalls zurückweist, um die Besatzungs-, Siedlungs- und Annexionspolitik fortzusetzen.
28Siehe Rebecca Ruth Gould, S. 1-34.
30‹https://www.motl.org/wiesenthal-center-reports-worst-global-anti-semitism-incidents-from-past-year/›.
32‹https://www.nytimes.com/2019/12/11/opinion/jared-kushner-trump-antisemitism.html›.
33Zit. n. dem Aufsatz von Carolina Landsmann vom 8.12.2019 in der Tageszeitung Haaretz: »France’s New Definition of Anti-Semitism Has Nothing to Do with Fighting It«, ‹https://www.haaretz.com/opinion/.premium-palestinian-antisemitic-1.8230321›.
34Siehe z. B. Yakov Rabkin: Im Namen der Tora: Eine Geschichte des jüdischen Widerstands gegen den Zionismus, Frankfurt a. M. 2020.
35Siehe dazu umfassend in Muriel Asseburg: Die deutsche Kontroverse um die BDS-Bewegung, in: Wolfgang Benz, Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen, Berlin 2020, S. 284-298.
37Ein offener Brief, unterzeichnet von 37 namhaften jüdischen Wissenschaftlern und Künstlern, viele von ihnen aus Israel, forderte aufgrund dieser Affäre den deutschen Innenminister Horst Seehofer auf, den Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, Felix Klein, zu entlassen, da er die Ausladung Mbembes gefordert hatte. Dieser Brief heizte die Debatte in Deutschland erheblich an. ‹https://www.scribd.com/document/459345514/Call-on-German-Minister-Seehofer›.
38Bashir Bashir/Amos Goldberg (Hg.): The Holocaust and the Nakba: A New Grammar of Trauma and History, New York 2018.
Rassismus
Christian Geulen
Der Begriff Rassismus ist in unserem heutigen Sprachgebrauch vor allem eine Anklage. Er bezeichnet Vorurteile und Praktiken, von denen wir meinen, dass es sie in unserer heutigen Welt eigentlich nicht mehr geben sollte. Wen wir als Rassisten bezeichnen, dem unterstellen wir, sich außerhalb der normativen Ordnung der Moderne zu bewegen. Für Rassismus gibt es persönlich keine Entschuldigung und keine Erklärung. Wer dem Vorwurf ausgesetzt wird, Rassist zu sein, kann nur beteuern, es nicht zu sein. Daher ist Rassismus auch so gut wie nie ein Begriff der Selbstbezeichnung. Kein Rassist nennt sich auch so. Nationalisten, Chauvinisten, White Supremacists, Antisemiten und jüngst auch wieder »Nationalsozialisten« – bezeichnen sich als solche. Rassismus aber eignet sich auch für diejenigen, die rassistisch handeln, nicht als Bekenntnis.
Das hat zur Folge, dass wir von Rassismus meist erst dann reden, wenn er sich bereits als konkrete Anfeindung einer bestimmten Gruppe äußert, als verbale oder praktische Diskriminierung bestimmter Menschen. Oder aber wir sprechen von Rassismus in einer sehr allgemeinen Weise als Chiffre für die ewige Ungleichbehandlung zwischen Menschen und tief sitzende Vorurteilsstrukturen. Rassismus definiert sich meist also entweder durch die konkrete Ab- und Ausgrenzung bestimmter Gruppen oder aber als wiederkehrender Ausdruck eines menschlichen Ab- und Ausgrenzungsbedürfnisses. Entsprechend kritisiert der Antirassismus zu Recht beides: Er bekämpft die konkrete Ungleichbehandlung und er fordert die Überwindung von Ungleichbehandlung überhaupt.
Zwischen diesen beiden Ebenen des Konkret-Aktuellen und des sehr Allgemeinen aber wird eine dritte Dimension übersehen: die Tatsache nämlich, dass sich der Rassismus weder allein aus dem Hass gegen ganz bestimmte Menschen noch aus der allgemein menschlichen Psychologie herleitet und begründet. Als historisch entstandene und gewachsene Ideologie hat er vielmehr eine ganze Reihe von Annahmen, Denkweisen, Begründungen, Weltbildern, Rechtfertigungen und imaginären Logiken entwickelt, die dem Rassisten seine Wahrnehmung und sein Handeln weit jenseits konkreter oder allgemeiner Vorurteilsstrukturen plausibilisieren und als »natürlich« erscheinen lassen. Diese Ebene der ideologischen Selbstbegründungen des Rassismus aber, die zeitlich und räumlich auch nicht immer dieselben sind und sich verändern können, stellt in der antirassistischen Kritik, die sich an der konkreten oder allgemeinen Ungleichbehandlung abarbeitet, nicht selten einen blinden Fleck dar. Eine Kritik des Rassismus aber, die ihn nicht auch als Ideologie, also in den imaginären Logiken seiner Selbstbegründung kritisch untersucht, greift zu kurz. Dass dies eher selten geschieht, liegt eben auch daran, dass Rassismus immer schon ein primär anklagender Begriff war.
Diese Eingrenzung des Wortgebrauchs auf eine externe Zuschreibung hat ihren Grund auch in der ursprünglichen Einführung des Begriffs Rassismus. Er diente zunächst als Oberbegriff für jene Ausgrenzungs- und Anfeindungsformen, wie sie in der Epoche des Aufstiegs der europäischen Faschismen zwischen den Weltkriegen und dann vor allem im Dritten Reich zur offiziellen Politik erhoben wurden. Erst ab den 1930er-Jahren findet sich der Begriff zunächst in französischen und dann auch in englischen und deutschen Publikationen. Hier war er Sammelbezeichnung für eine politische Gewalt gegen bestimmte Gruppen, die sich aus dem Glauben an die gegebene oder aber durchzusetzende Überlegenheit der jeweils eigenen »rassischen« Gruppe ableitete. Obgleich wir heute also die Geschichte des Rassismus bis weit in die Frühe Neuzeit und bisweilen gar bis in die Antike zurückverfolgen, ist der Begriff erst im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts geprägt worden.1
Wesentliche Aspekte seiner heutigen Bedeutung gehen auf Magnus Hirschfeld zurück, der in seinen letzten Lebensjahren im französischen Exil eine Studie verfasste, die postum 1938 auf Englisch unter den Titel Racism publiziert wurde und als erste Monografie gilt, die den Begriff Rassismus im Titel führt. Als Jude, bekennender Sozialist, Homosexueller und Sexualwissenschaftler war Hirschfeld schon in den frühen 1920er-Jahren bevorzugte Zielscheibe rassistischer Anfeindung und Gewalt von rechts, vor der ihn auch sein eigenes Engagement für die moderne Eugenik in der Gesellschaft für Rassenhygiene nicht zu schützen vermochte. Das von ihm 1919 gegründete Institut für Sexualwissenschaft wurde 1933 von den Nazis zerstört, sämtliche dort noch lagernden Schriften und Unterlagen im Zuge der »Bücherverbrennung« vernichtet.2
Was Hirschfeld Rassismus nannte, war für ihn vor allem jenes »falsche Wissen«, das sich von Arthur Gobineau3 bis H. F. K. Günther4 um den Mythos vom ewigen Kampf der Rassen angesammelt habe, seit der Jahrhundertwende immer populärer geworden sei und um 1930 als eine Art Hintergrundüberzeugung der faschistischen und totalitären Regime fungiere. Hirschfeld bekannte, dass er selber die Wirkung dieses »falschen Wissens« lange unterschätzt habe, die im Wesentlichen darin bestehe, das sozialistische Konzept vom »Klassenkampf« durch den Mythos vom »Rassenkampf« erfolgreich zu ersetzen. In seiner Studie wollte er diesen Mythos wissenschaftlich widerlegen, um ihn so aus der Welt zu schaffen. Entsprechend postulierte er am Ende: »Nüchtern betrachtet, basieren alle Prämissen des rassischen Fanatismus, wie wir in der vorliegenden Studie beweisen konnten, auf Irrtümern, Missverständnissen und unhaltbaren Hypothesen.«5
An dieser so rechtschaffenen wie naiven Weise, den Rassismus als eine Ansammlung von Lügen entlarven und ihn wissenschaftlich widerlegen zu wollen, orientiert sich ein Großteil des antirassistischen Denkens bis heute. Sie hat mit dazu beigetragen, dass der Begriff Rassismus fast ausschließlich die Funktion einer Anklage hat, die sich zum einen auf seine politisch-moralische und zum anderen auf seine rationalwissenschaftliche Unhaltbarkeit bezieht. Seit Hirschfeld besteht der antirassistische Konsens in der Auffassung, dass der Rassismus ein falsches Wissen sei, das nur der Ausgrenzung und Unterdrückung anderer dient. – So wenig man diese Aussage negieren mag, so wenig sagt sie faktisch aus.
Im Kern ist dieses Konzept von Rassismus ein Zirkelschluss: Das Wort Rassismus wird hier zu einer bloßen Chiffre, die nichts erklärt. Denn entweder hat die zu erklärende gewalttätige Ausgrenzung eigentlich ganz andere Motive und das rassistische Wissen dient nur ihrer Verschleierung, oder aber der Rassist glaubt tatsächlich an dieses »falsche« Wissen und dann besteht das ganze Phänomen eigentlich in einem schlichten Irrtum. Der allergrößte Teil antirassistischer Aufklärung folgt einem dieser beiden Modelle: Zum einen geht es um die Widerlegung rassistischen Wissens (es gibt keine Rassen, die Prinzipien der Evolutionsbiologie sind nicht auf Gesellschaft übertragbar, genetisch unterscheiden sich die Menschen kaum voneinander et cetera), und zum anderen geht es um den Nachweis anderer, externer Motive rassistischer Ausgrenzung (soziale Benachteiligung führt zu Fremdenangst, psychische Probleme führen zu Gewalt, ökonomischer Konkurrenzdruck führt zu Anfeindung et cetera). In beiden Fällen wird das Phänomen selbst – die Anfeindung anderer aus rassistischer Überzeugung – weitgehend »weg« - erklärt oder zumindest nicht mehr selbst thematisiert.6
Was aber genau ist eine »rassistische Überzeugung«? Wir befinden uns hier an einem ähnlichen Punkt wie die historische Holocaustforschung Anfang der 1990er-Jahre, als Daniel J. Goldhagen sein Buch über Hitlers willige Vollstrecker herausbrachte. In einer unserer Argumentation durchaus verwandten Weise hatte Goldhagen hier die bis dahin existierenden »Erklärungen« der NS-Vernichtungspraxis dafür kritisiert, dass sie diese Praxis unter Verweis auf externe, ökonomische, psychische und soziale Faktoren zu begründen suchten, statt das in den Blick zu nehmen, was im Zentrum des Phänomens stand: ein auf Volksvernichtung angelegter und in diesem Sinne »eliminatorischer« Antisemitismus. An diesem Punkt aber verwandelte Goldhagen seine Kritik an der Forschung in seine eigene These und erklärte diesen eliminatorischen Antisemitismus, der Millionen Deutsche dazu gebracht habe, die Vernichtung des Judentums zu »wollen«, nun pauschal zur eigentlichen Ursache des Holocaust. Die Diagnose einer gravierenden Forschungslücke wurde kurzerhand zu ihrer Schließung.
Aber, weder »eliminatorischer Antisemitismus« noch »rassistische Überzeugung« oder, kürzer, weder Antisemitismus noch Rassismus sind selbst schon hinreichende Erklärungen genozidaler oder ausgrenzender Gewalt. Vielmehr verweisen sie erst auf das, was es zu untersuchen, zu interpretieren und zu erklären gilt. Es sind Namen für etwas, das erst noch und immer wieder untersucht und verstanden sein will. Im Falle des Antisemitismus würden dem heute wohl die meisten zustimmen. Beim Rassismus aber hat sich diese Einsicht noch nicht durchgesetzt.7 Besonders in öffentlichen Debatten um rassistische Einstellungen, rassistische Aussagen oder rassistisches Verhalten geht es primär darum, Rassismus zu identifizieren – zu entscheiden, ob eine Einstellung, eine Aussage oder eine Handlung nun »rassistisch« war oder nicht. Ist dies auf juristischem Wege oder durch die mehrheitliche Auffassung der Debattenteilnehmer geklärt, ist die Debatte meist beendet.
Ein anderes Beispiel für diese Problematik, wo sie zu direkt falschen Verwendungsweisen des Rassismusbegriffs führt, ist die immer wieder aufkommende Rede vom »umgekehrten Rassismus«: Wenn etwa ethnische Minderheiten in besonderer Weise gefördert werden sollen, wenn sich angefeindete Gruppen bewusst abgrenzen und exklusive Lebensformen entwickeln, wenn sich Rassismuskritik an bestimmten Figuren (etwa den »alten weißen Männern«) festmacht, wenn ehemals verfolgte Völker eigene Exklusivitätsansprüche und Ausgrenzungspraktiken entwickeln (etwa in dekolonisierten Staaten oder im Zionismus) oder wenn die Kritik an der Hegemonie des weißen, christlichen und europäischen Kulturkreises im Namen einer abstrakten Gleichheit selber als »potenziell genauso« rassistisch abgewiesen wird.8
Begriffe wie Phänome des Rassismus werden hier jeglicher historischen Dimension beraubt und zur bloßen Chiffre für allgemeine Ungleichheit oder Ungleichbehandlung. Als Ideologie aber hat sich der Rassismus im Kontext einer besonderen mehrhundertjährigen Geschichte der Unterwerfung, Expansion und Anfeindung entwickelt, die vor allem vom christlichen Europa ausging; und er wurde häufig erst nachträglich als Legitimierung einer längst existierenden Gewaltpraxis in die Form einer begründenden Denkweise gegossen. Seine Kritik hat daher auch wenig mit einer allgemeinen Kritik an Ungleichheiten zu tun, sondern muss sich auf spezifische Formen der theoretischen und praktischen Anfeindung richten, die weder mit allgemeiner Fremdenfeindlichkeit noch mit jeder Behauptung von Differenz identisch sind. Auch wenn alle Ungleichheitsbehauptungen rassistische Begründungen übernehmen oder in Rassismus umschlagen können, führt gerade die allgemeine Gleichsetzung des Rassismus mit jeder Art von Ungleichheitsbehauptung zu einer völlig verengten Begriffsverwendung. Gerade dort, wo bestimmten Personen oder Gruppen (berechtigt oder unberechtigt) Rassismus vorgeworfen wird, es also darauf ankäme, seine wirkliche Funktionsweise zu entlarven, wird das Thema oft formal-moralisch auf den Aspekt der Ungleichheit reduziert und mit einem schlicht falschen Wissen oder einem »falschen Bewusstsein« gleichgesetzt.9
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