Kitabı oku: «Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart», sayfa 2

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( 1 ) Hegel

Auf Hegel, der Sophokles’ Antigone bekanntlich als vollkommenste Tragödie schätzte, geht die Auffassung zurück, dass die Tragödie wesentlich auf der Kollision zweier Positionen beruht, die beide, für sich genommen, gleiche Berechtigung haben. Aufgrund ihres Gegensatzes kann sich jeweils eine Macht, die Hegel wahlweise auch Charakter oder Individuum nennt, jedoch nur als „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ durchsetzen und gerät deshalb „in ihrer Sittlichkeit und durch dieselbe ebensosehr in Schuld“.1 Es geht also um einen symmetrischen Konflikt entgegengesetzter, jedoch gleichberechtigter Kräfte. Gelöst werden kann ein solcher Konflikt nicht. Dennoch muss er, wie Hegel sagt, „in dem für sich abgeschlossenen Werk [seine] Erledigung finden“,2 welche naturgemäß in eine „Endkatastrophe“3 mündet.

Im Fall von Antigone sieht diese Sache dann für ihn so aus: Antigone steht bei Hegel bekanntlich für das Prinzip der Familie und der Blutsverwandtschaft. Kreon hingegen steht für die staatliche Ordnung der Polis ein und für die „sittliche Welt“ ihrer Normen, die den Sozialkörper Polis kulturell lebensfähig machen sollen. Die Aporien dieser holzschnittartigen Konstruktion kollidierender Kräfte sind von vielen, zuletzt ausführlich von Judith Butler 2001 diskutiert worden. Ich fasse hier kurz zusammen. Mit der strengen Konfrontation von Blutsverwandtschaft versus Staatsraison wird das Prinzip der Verwandtschaft vom Bereich des Sozialen abgetrennt. Das Verwandtschaftsprinzip wird als Modus der Herstellung und Stiftung sozialer Beziehungen ausgeblendet. Unter dem Aspekt des Blutes wird es reduziert auf die Abstammung (Herkunft) oder die leibhafte Hervorbringung von Nachkommen und deren Aufzucht. Hegel, der nicht nur in der Ästhetik auf Antigone zu sprechen kommt, sondern auch in der Phänomenologie des Geistes und in seiner Philosophie des Rechts, fasst apodiktisch zusammen, dass Antigone für die Gesetze des Hauses stehe, während Kreon für die des Staates stehe. Erstere haben in der sittlichen Ordnung des Gemeinwesens keinen Platz, denn das Haus würde nur die „Einzelheit erhalten“ wollen, welche im Sinne einer ethischen, allgemeinen Ordnung jedoch unterdrückt werden müsse. „Das Gemeinwesen kann sich […] nur durch Unterdrückung dieses Geistes der Einzelheit erhalten“,4 heißt es. Da ein Gemeinwesen jedoch nun mal selbst keine Kinder zeugen kann, bleibe es vom „Geist der Einzelheit“ abhängig und stimuliere diesen fortwährend. Namentlich die Weiblichkeit als Vertreterin der Individualität und der Gesetze des Hauses bilde daher die berühmte „ewige Ironie des Gemeinwesens“. Der Gegensatz von Individuum und Staatsgesetz ist, so Hegel, „der höchste sittliche und darum der höchste tragische“ Gegensatz und dieser Gegensatz sei, jetzt setzt er noch eins drauf, „in der Weiblichkeit und Männlichkeit daselbst individualisiert“.5

Es fällt schon sehr schwer, in dieser systemtheoretischen Zuspitzung das Stück von Sophokles wiederzuerkennen. Hegel befasst sich zwar mit Antigones Tat, aber nicht mit ihrer Rede.6 Er stilisiert sie zu einer Repräsentationsfigur von Gesetzen, gleich Kreon. Aber schon an dieser Stelle bricht die Symmetrie ab, die Hegel zufolge die jeweilige „Negation und Verletzung der anderen, gleichberechtigten Macht“ verursache und damit das Herzstück der tragischen Kollision bilde. Bei Sophokles sind die Gesetze nicht gleich. Dies ist der Gegenstand von Antigones Rede vor Kreon: Dessen „Gesetz“ (V. 452) einerseits und „Gottgebote“ (V. 454) andererseits wiegen unterschiedlich viel. Ungleich schwerer wiegen für Antigone die ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gesetze, von denen man im Text kein weiteres Wort erfahren wird, da dieser Gesetzestypus als Nomos über keine schriftliche Gestalt verfügt. Also dehnt sich die Asymmetrie hier über das jeweilige Gewicht auch auf die Gestalt der Gesetze aus, die mit den Sphären von Schriftlichkeit und Vorschriftlichkeit korrespondiert. Dabei tauchen die namenlosen, alterslosen Gesetze Antigones stets im Plural auf, während Kreon das Gesetzt der Polis nicht nur im Singular, sondern darüber hinaus auch noch als „mein Gesetz“ (V. 449) bezeichnet. Doch dies nur am Rande.

Anstelle eines irgendwie kräftesymmetrisch geschürzten Konflikts ist also eher einer aufdringlichen Asymmetrie nachzugehen. Verstärkt wird dieser Aspekt noch dadurch, dass die im 7. und 8. Jhd. entstandenen Epen, die zusammengefasst als Thebanischer Zyklus bezeichnet werden, keine eigene Episode von Antigone in Theben aufweisen, während die Kriege um Theben von Eteokles und Polyneikes sowie den Epigonen breite Schilderungen erfahren. Antigone, wie wir sie aus dem gleichnamigen Stück kennen, verdankt sich also im Wesentlichen einer Sophokleischen Erfindung. Ebenfalls wichtig ist, dass es sich bei Antigone (442 v. Chr.) um eines der frühesten (erhaltenen) Stücke von Sophokles handelt und er der Figur Antigone noch einmal knapp vierzig Jahre später in seinem letzten Stück Ödipus auf Kolonos (UA 401 posthum) breiten Raum schenkt. Das ist von besonderer Bedeutung, weil Antigone nicht nur verwandtschaftlich/familiär zu begreifen ist (Tochter des Ödipus, Schwester von Polyneikes), sondern zu einem eigenen Figurentypus gehört, der Figur des jungen Mädchens. Diese paradigmatische Figur ist durch das Merkmal definiert, einerseits geschlechtsreif zu sein, andererseits aber nicht verheiratet.

Hierzu nur ein paar Streiflichter: Vor Antigone ist die Figur des jungen Mädchens relevant für zahlreiche Mädchenchöre von Aischylos, bei dem Sophokles nach eigener Aussage das Dichterhandwerk erlernt hat. Man denke an die Okeaniden, die Töchter des Ozeans, die zu Prometheus ins Gebirge fliegen, ihm beistehen. An die Danaiden, die vor der Zwangsverheiratung mit ihren ägyptischen Vettern nach Argos fliehen und dort frei und wortgewaltig selbst die Verhandlungen zu ihrer Aufnahme in die Polis führen – so wie auch Antigone frei und wortgewaltig ihr Nein gegenüber Kreon verteidigt. Die jungen Mädchen erinnern sich ihrer mütterlichen Vorfahren, sie erinnern Artemis und die aus dem Meeresschaum geborene Aphrodite, sie stellen ihre eigene Heirat hintenan oder sagen ein „heiliges Nein zur Ehe“ wie die Danaiden. Sie sind 16 Jahre alt. Sie treten (wie Antigone) eher für das geborene, schon vorhandene Leben ein als für ein zukünftiges, das noch gar nicht existiert. Sie klagen um ihre Lieben, sie begraben ihren Bruder, sie klagen den Missbrauch an, den sie im Fall einer Niederlage ihrer Stadt fürchten, so jedenfalls der Chor der jungen Frauen in Sieben gegen Theben bei Aischylos. Alle diese Chöre tragen Merkmale der Mänaden, der Anhängerinnen des Dionysos, die Euripides in Die Bakchen zur Hauptsache gemacht hat, und sie stehen definitiv nicht auf Seiten der Polis-Gründung. Mit ihnen muss der Chor in der Tragödie, wie Sebastian Kirsch formuliert, als ein Ort verstanden werden, „an dem sich im Herzen der Polis selbst die Bezugnahme auf dieses Außen artikuliert“,7 vor dem sich die Polis im Übergang vom 6. zum 5. Jhd. zu verschließen sucht. Junge Mädchen bilden eine Übergangsfigur par excellence. Sie nehmen temporär Aufenthalt, wollen aber kein Haus, keinen Verein, kein Familienwerk, kein Sein, keine Macht. Ihr so schwer fasslicher Chor hat einfach keinen gemeinsamen Nenner. Wohl deshalb setzt schon so bald die Geschichte seiner Verdrängung ein. Einar Schleef zufolge geht die Chor-Verdrängung mit einer Verdrängung der Frau aus dem tragischen Konflikt einher. Vollständig vollzogen wurde diese Verdrängung jedoch erst, so Schleef, bei den deutschen Klassikern,8 also in jenem Zeitraum, in dem Hegel seine Philosophieprofessur in Jena antrat.

Sophokles extrahiert aus diesem Universum oszillierender Vögel-Mädchen-Chöre die Figur der Antigone, deren Einsamkeit sich im Verlauf des Stückes, so könnte man sagen, vollendet. Wird Antigone als Figuration des jungen Mädchens aufgefasst, so ändert das etwas für den Begriff der Tragödie. Eingedenk der in den beiden Figuren Antigone und Kreon9 gebannten gewaltigen Asymmetrien, die sich (wie die Asymmetrie von Chor und ProtagonistIn) auf verschiedene Zeitalter beziehen, muss m.E. die Kollisionstheorie fallen gelassen werden. Antigone und Kreon kollidieren nicht. Sie gehören zwei verschiedenen Zeiten an und zwei verschiedenen Welten. Sie sind zusammengestellt worden und vollenden wie Monolithen ihre Bahnen der Einsamkeit oder des Herrscherstarrsinns. Sie hören und sehen sich, aber sie haben nicht die Kraft, sich gegenseitig zu beeinflussen. Die Zeiten, denen sie zugehören, sind nicht einfach solche, in denen sich das Heute vom Gestern trennt, sondern Zeitalter, die sich ums Ganze unterscheiden. Antigone sagt von ihren Gottgeboten explizit: „Sie stammen nicht von heute oder gestern, / Sie leben immer, keiner weiß, seit wann“ (V. 456-457).

Auch Hegel hat diesen Vers gelesen und zitiert ihn, wenn er vom „ewigen Gesetz“ spricht, „von dem niemand weiß, von wannen es erschien“.10 Hegel zitiert Antigone, aber er übergeht sie in der Folge. Er übergeht damit auch das Sprachhandeln und die Buchstäblichkeit des Stückes. Eine Erläuterung, was dieses ewige Gesetz sei, muss im Fall vorschriftlicher Kunde ausfallen. Es lässt sich nicht sagen. Dennoch aber steht Antigone für diese Kunde ein und spricht. Hegel interessiert sich nicht für diesen Widerspruch. Aus seiner universellen Perspektive hält er am Kollisionskurs zweier unvereinbarer Gesetze fest, zwischen denen Feindschaft herrscht, obwohl das eine Gesetz, das sich nicht sagen lässt, als solches im öffentlichen Raum der Polis offenkundig überhaupt nicht kombattant ist.

Antigone steht im Weltformwechsel vom 6. auf das 5. Jhd. im Horizont einer zeitlosen Zeit, sagen wir ruhig einer außergeschichtlichen Zeit. Diese kann aber, da sie „immer lebt“, wie es im Vers heißt, schlichtweg nicht mit einer geschichtlichen Zeit kollidieren, vielmehr würde sie diese im Sinn der longue durée schlicht überdauern. Völlig unabhängig davon, wie viele Zufälle, Grausamkeiten und Notwendigkeiten sich in der Dauer der äonischen Zeit auch häufen mögen, da sich diese Zeit nicht geschichtlich vermittelt, könnte ihnen kein historisches Projekt und auch keine Weltgeschichte beikommen. In Bezug auf die Trachinierinnen, die 442 v. Chr. im selben Jahr wie Antigone zur Aufführung gelangen, kommt Jan Kott zu dem Schluss:

Bei Sophokles gibt es keine Vermittlung, weder zwischen dem Menschlichen und Außermenschlichen, noch zwischen dem einmaligen Leben und der Geschichte, der Grausamkeit des Zufalls und der Notwendigkeit. Das menschliche Leben wird nur einmal gelebt, und es gibt keine Erlösung.11

Soviel zur Frage des Sinns in einer Universalgeschichte, die, so es sie gibt, eine Geschichte des Zufalls wäre.12

( 2 ) Heiner Müller

Angemessener und weiterführend als irgendeine Kollisionstheorie scheint mir die Minimaldefinition der Tragödie, die Heiner Müller in seinem Brief an Mitko Gotscheff fast beiläufig mitteilt. In Bezug auf die Tragödie Philoktet von Sophokles, die Gotscheff in Sofia auf der Grundlage der Interlinearversion von Müller/Witzmann inszeniert hatte, bezeichnet Müller die tragische Fabel als „Stellplatz der Widersprüche“.1 Die Fabel gleicht demnach einem Platz, auf dem Widersprüche deponiert wurden. „Widersprüche“ steht im nicht näher definierten Plural und besagt: Da, auf diesem Platz, kommen sie ein Stück lang zusammen vor. Mehr nicht. Der Platz erinnert den Schauplatz, den öffentlichen Platz oder auch einfach eine Fläche, einen Ort, der dem gemeinsamen Erscheinen oder Verlautbaren von Widersprüchlichem Raum gibt. Das Wort vom Platz betont den Raum und damit die Kom-position oder Kon-stellation anstelle von Position oder Stellung, denen Gegenpositionen oder Gegenstellungen zugeordnet wären. Müllers Minimaldefinition trifft auch präzise auf den Einsatz des Aristoteles in Sachen Tragödie zu. Obwohl Aristoteles sicherlich nicht auf eine Definition, eine Theorie oder ein Modell der Tragödie hinauswollte und seine Poetik eher als Handbuch und Rehabilitierung der dramatischen Dichtung gegenüber dem Verdikt Platons aufzufassen ist, ist die Poetik immer wieder und zurecht für einen Begriff der Tragödie zu Rate gezogen worden. Auch hier sind die Missverständnisse Legion und sehr berühmt. Ich will mich daher beschränken und im Folgenden nur zeigen, inwiefern die Herstellung einer guten Tragödie, wie sich mit Aristoteles sagen ließe, auf zwei Schritten beruht, von denen in der Regel nur jener zweite rezipiert wurde, der die Fabel betrifft und der in der Lehre von den sogenannten „drei Einheiten“ einen traurigen Nachruhm erlebte. (Lodovido Castelvetro heißt die Kanaille und seine Schrift von 1570 trägt den Titel La Poetica d‘Aristotele vulgarizzata, et sposta per Lodouico Casteluetro.)

( 3 ) Aristoteles

Es geht um die Frage, wovon die Tragödie Nachahmung sei. Damit eröffnet Aristoteles im 6. Kapitel seiner Poetik die Behandlung der Tragödie. Unabhängig davon, dass Manfred Fuhrmann mimesis mit Nachahmung übersetzt und Arbogast Schmitt in einer neueren Übertragung mimesis mit Darstellung, geht es Aristoteles zuerst um die Frage, wovon die Tragödie Darstellung sei. Die Antwort im 6. Kapitel ist eindeutig: Die Darstellung gilt einer „Handlung“ und diese „Handlung ist der Mythos. Ich verstehe hier unter Mythos“, heißt es im Text, „die Zusammensetzung der Geschehnisse“.1

Für „Geschehnisse“ steht hier das Wort pragmata, das auf ein Geflecht hindeutet, das sich aus vielerlei Praktiken (praxeis) zusammensetzt, während das Wort Drama sich wiederum ableitet von drân für Handlung im Sinne von Tun. Deutlich wird ein sehr differenzierter Umgang mit dem Wort Handlung. Eine Handlung kann als die Sache des Geschehens (Mythos) auftreten, als Praxis einzelner Charaktere oder als Tun von drôntes (sich Betätigenden) oder als Tun (drân) eines Kunstwerks (Drama).

Alle diese Ebenen werden von Aristoteles berücksichtigt, aber ich werde hier nicht versuchen, das nachzuzeichnen. Wesentlich ist, dass „die Tragödie nicht Nachahmung von Menschen [ist], sondern von Handlung“ (21).“ Daher sind die Geschehnisse (pragmata) und der Mythos das Ziel (telos) der Tragödie“ (ebd.). Der „Mythos [ist] eine Zusammenfügung von Geschehnissen“ (23).

Das heißt einfach, dass die Tragödie sich in Bezug auf den Mythos wie ein Palimpsest verhält. Die Tragödie hat keine Aktualität, keine Menschen zu ihrem Darstellungsziel, sondern den Mythos, der ungegliedert, massenhaft und stoffreich (Homer) vorliegt. Aristoteles vergleicht den Mythos mit den Farben der Malerei: Aber so wie es ja auch nicht gefällt, wenn ein Maler oder eine Malerin blindlings Farben aufträgt, heißt es, so benötigen auch Tragödiendichter die Umrisszeichnung, für die nun die Charaktere einstehen. Dabei ist jedoch nicht die Nachahmung der Charaktere ihr Ziel, „sondern um der Handlungen willen“ – und das heißt hier, um des Mythos willen – „beziehen sie Charaktere ein“ (21).

Erst nachdem Aristoteles den Mythos als telos der Darstellung bestimmt hat, geht er über zum 7. Kapitel, in dem er darlegt, „welche Beschaffenheit die Zusammenfügung der Geschehnisse haben muss“ (25), und erst hier erfolgt die Bestimmung, dass eine Tragödienhandlung ein „Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat“ (25) wie ein „Lebewesen“ (25) – eben jene Bestimmung, die Wolfram Ette so gestört hat.

Aber nicht der Mythos ist eine Einheit oder Ganzheit, sondern die Schnitte, die sich der Tragödiendichter vom Mythos abschneidet, soll diese Eigenschaften aufweisen. Der Mythos ist wie die reine Farbe, ohne Anfang und Ende und ohne bestimmte Kontur, aber von a-signifikanter Leuchtkraft. Da aber „Handlungen nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden“ können, heißt es im 7. Kapitel, müssen sie „gut zusammengefügt sein“ (25). Sie müssen anfangen und enden. Eben wie ein Lebewesen, dessen Anfang „nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt“ (25), mit dessen Ende es sich jedoch „umgekehrt“ (25) verhält. Es ist, und zwar so oder so, „notwendigerweise oder in der Regel“ (25), sterblich. Die Sterblichkeit ist kein telos, sondern Bedingung von Lebewesen, mit denen es sich so verhält, dass „am Anfang schon feststeht, was am Ende herauskommen wird.“2 Die qualitative Verschiedenheit von Anfang und Ende verbietet es hier jedoch, einen „Kreislauf“ (Ette) anzunehmen. Es handelt sich nicht um etwas, das sich notwendig schließt (wie ein Kreis), sondern um etwas, dessen Anfang aus keiner Notwendigkeit heraus beginnt, während dessen Ende mit Notwendigkeit erfolgt. Dazwischen liegt eine Mitte, in der „natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht“ (25). Also nicht deshalb, weil sich das Lebewesen „von den Ursprüngen emanzipiert oder sich selbst verwirklichen will“, wie Ette als Befürworter einer „geschichtlichen, nicht-teleologischen Prozessform“3 meint. Bei Aristoteles, der nicht an die Geschichte glaubt, sondern die Bewegung (dynamis) als solche privilegiert, heißt es sehr viel einfacher und genauer, dass in der Mitte „etwas anderes eintritt oder entsteht“, was damit zusammenhängt, dass Lebewesen „aus etwas zusammengesetzt“ (25) sind (wie jeder andere zusammengesetzte Gegenstand auch).

Es ist also nicht die Geschlossenheit eines Ganzen, sondern im Gegenteil gerade dessen Eigenschaft, als Zusammengesetztes auch auseinandertreten zu können und sich zu teilen, sodass ein anderes Teil eintritt oder ein anderes entsteht. Aristoteles’ starkes Denken der Zusammenfügung erzwingt geradezu, das Ganze einer in sich geschlossenen Handlung – wir sind jetzt wieder bei der tragischen Fabel – uns nicht als etwas vorzustellen, das nichts außer sich hat, sondern ganz im Gegenteil als etwas, das stets noch anderes außer sich hat.4 Und nur so ist der Begriff des „Lebewesens“, der keine Metapher ist, auf die tragische Fabel zu beziehen.

( 4 ) Zusammenfassung und Thesen

Nehmen wir noch einmal die rasant knappe Definition der tragischen Fabel von Heiner Müller auf, denn sein Begriff vom „Stellplatz“ entspricht genau dem des Trägermaterials, das im Vorgang des Palimpsestierens wiederbeschrieben wird und die schon existierende Schrift damit zur vormaligen macht. Was auf diesem „Stellplatz“ zusammengestellt wird, ist widersprüchlich, besagt Müllers Definition. Aber diese Widersprüche schließen sich nicht aufgrund einer Negativität gegenseitig aus. Das wäre der zentrale Einwand gegen Hegel: Widersprüche unterscheiden sich, aber ihr Unterscheiden wurzelt keineswegs zwangsläufig in einer kontradiktorischen Negation, die das Verneinte ausschließt und zum „Nichtsein“ erklärt. (Das ist genau die Operation, die Hegel im Fall der ungeschriebenen Gesetze Antigones anwendet, indem er sie zitiert, aber übergeht.)1 Schon allein die Annahme eines gemeinsamen Stellplatzes verlangt eine andere Auffassung von Negativität, denn ein „Nichtsein“ könnte auf einem solchen Stellplatz schlichtweg nicht zur Erscheinung kommen. Unter dem Aspekt eines gemeinsamen Erscheinens verschiebt sich die Negation zwangläufig in den nicht-kontradiktorischen Unterschied von etwas und etwas anderem und ihre Konfiguration tritt hervor: Ihr Zusammengesetztes, Zusammengestelltes, ihr In-Situationen-Sein.

Das „Kon-“ der Figurationen besagt nun keineswegs, dass da irgendetwas miteinander geht. Im Gegenteil, und hier kommt der Aspekt des Palimpsests als Raumbegriff wieder ins Spiel: Das Überprägen oder Durchprägen vormaliger Strukturen sagt nichts über das Verhältnis aus, in dem das Vormalige zum gegenwärtigen Schreibakt steht, sondern nur, dass dies im Sinne eines Ko-Existentials der Fall ist. Da sich Schrift materialisiert und auf Trägermaterialien äußert, wird sie nicht nur tradierbar, sondern auch koexistent für alle möglichen anderen Schriften, auch für solche, die sich ihr auf demselben Trägermaterial überprägen. Mit anderen Worten: Jeder Schreibakt steht im Verhältnis zu vormaligen Schriften und tut dies als ein solcher vollkommen unabhängig von den Intentionen der Schreibenden oder den behandelten Thematiken. Erscheinen die Schriften jedoch auf einem gemeinsamen Stellplatz, der ihr Trägermaterial ist, dann entwickelt sich zwischen ihnen eine Dynamik des Überprägens oder Durchprägens.

Ganz ähnlich behandelt Aristoteles das Vormalige des Mythos im Verhältnis zur attischen Gegenwart der Tragödie. Aristoteles geht unmissverständlich davon aus, dass der Mythos „das Fundament und gewissermaßen die Seele der Tragödie ist“ (23). Das Vormalige des Mythos liegt nicht abgeschlossen in irgendeiner Vorkammer attischer Gegenwart, d. h. es gibt zu ihm kein geschichtliches Verhältnis. Daher hält Aristoteles fest, dass „es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist“ (29), das sollte man den Historikern überlassen. Der Dichter teile indessen mit, „was geschehen könnte“ (29). Es geht nun nicht darum, aus diesem Konjunktiv das Gebot der „Wahrscheinlichkeit“2 herauszulesen, wie das der Altphilologe und Übersetzer der hier verwendeten aristotelischen Poetik tut (während erst die Regelpoetik des Herrn d‘Aubignac im 17. Jahrhundert mit der Wahrscheinlichkeit als normatives poetisches Kriterium hausieren gehen wird). Vielmehr bezieht sich der aristotelische Konjunktiv „was geschehen könnte“ auf einen bestimmten Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache des Dichters. Dieser Eigensinn wird jedoch, und das ist hier meine Hauptthese, im Vorgang des Palimpsestierens gewonnen, das heißt, er tritt in diesem Vorgang überhaupt erst hervor und wird durch diesen Vorgang überhaupt erst ermöglicht. Die tragische Fabel gewinnt ihren Eigensinn im Vorgang der Überprägung von mythologischer Überlieferung bzw. indem sich das Überlieferte durch sie hindurchprägt. Insofern ist das Palimpsestieren als genuin dichterische Tätigkeit zu begreifen, die sich von der Nachbildung, der Nachahmung oder dem einfachen Plagiat unterscheidet, indem sie dem Eigensinn der widersprüchlich gefügten Sache, die ihre Sache ist, Raum gibt. Wenn das Palimpsestieren als künstlerisches Verfahren begriffen und als solches bewusst gehandhabt wird, geht das mit einigen Überzeugungen und Merkmalen einher, auf die hier kurz und unvollständig hingewiesen werden soll.

Das erste wäre wohl die Aufmerksamkeit dafür, dass Kunst nicht negativ gewonnen wird. Kunst wird nicht aus Abgrenzung, Widerspruch, Entgegensetzung oder Kritik gewonnen, sondern entsteht durch das Gewährenlassen oder Einräumen dessen, was ihren Eigensinn ausmacht, der aus einem Selbstbezug hervorgeht: Aus der Möglichkeit der Kunst, für sich oder in sich auseinanderzutreten und sich selbst auf sich selbst hin (d.i. eine Andersheit) zu öffnen. Dieser Vorgang ist derart grundlegend, dass er auch für die wütendste, die kritischste und die parteiischste Kunst gilt. Ebenso für die Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, gerade für sie. Damit tritt das Gewährenlassen und Einräumen an die Stelle einer Konzeption. Das heißt, dass mit dem Palimpsestieren keine konzeptionellen Überblendungen gemeint sind, wie sie zum Beispiel Roland Schimmelpfennig in seinem Stück Die Frau von früher angewendet hat, indem er ein aktuelles Beziehungsdrama mit der Figur und dem Stoff der euripideischen Medea überblendet.

Gewährenlassen und Einräumen bezeichnen Prozesse im Verfertigen von Texten, von Kunst. Diese Prozesse benötigen eine lebendige und zugleich hochartifizielle Energie und Aufmerksamkeit. Sie setzen eine Selbsttechnologie der Schreibenden voraus, eine besondere künstlerische techné (im Sinn von Aristoteles) und Ethik des Schreibens.

Gegenwart lässt sich nicht direkt ansteuern, wir würden sonst nur beim Identischen landen. Gegenwart lässt sich nur indirekt und in der Wiederholung ansteuern, als Gefüge-Figur, im Zitat oder als Altes Gedicht.