Kitabı oku: «Was bleibt von kommunikativer Nähe und Distanz?», sayfa 6

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Doch auch von einer solchen Zuordnung (d.h. Anwesenheit – Phonie, Lesbarkeit – Graphie), die zunächst recht naheliegend scheint, grenzen sich die Autoren ab. Das machen sie z.B. deutlich, wenn sie schreiben: „Unser Argument für die Unterscheidung von Anwesenheit und Lesbarkeit ist ein kommunikationstheoretisches, das mit der Unterscheidung von gesprochener vs. geschriebener Sprache nicht angemessen wiederzugeben ist“ (Hausendorf et al. 2017, 40).13 In ihrem Fazit plädieren sie deshalb dafür, ganz auf „die schillernde Unterscheidung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ zu verzichten und diese „durch die kommunikationstheoretisch eindeutige Unterscheidung von Lesbarkeit und Anwesenheit“ zu ersetzen (Hausendorf et al. 2017, 43). Die Frage stellt sich, ob dieser Vorschlag auf theoretischer Ebene weiterführend ist – auch weil es z.B. durch die neuen Kommunikationstechnologien Fälle gibt, wo Anwesenheit virtuell gegeben ist (z.B. Kopräsenz an der Tastatur beim Chat), die Kommunikation aber doch schriftlich (bzw. im Sinne von Hausendorf et al. (2017) über ‘Lektüremomente’) erfolgt. Weiter sei mit Kirsten Adamzik angemerkt, dass es sich heute weitgehend durchgesetzt hat, auf konzeptioneller Ebene von ‘Nähe’ und ‘Distanz’ zu sprechen (und nicht mehr von ‘Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’), da es problematisch sei, prinzipiell völlig Unterschiedliches „gleichermaßen mit den Ausdrücken Mündlichkeit/Schriftlichkeit zu belegen, also die übertragene Lesart mit der Medialität terminologisch zu vermischen“ (Adamzik 2016, 76; Kursivierung im Original).

Sowohl in der Medienlinguistik als auch in der Sprachdidaktik und in der Textlinguistik findet also eine intensive Auseinandersetzung mit dem Modell von Koch/Oesterreicher statt. Diese gestaltet sich in der Textlinguistik – wie im Falle von Hausendorf et al. (2017) – tendenziell kritisch, in anderen Arbeiten eher affirmativ (so z.B. in der germanistischen Sprachdidaktik). Doch auch die kritischen Stellungnahmen machen deutlich, dass die Begrifflichkeiten ‘Nähe/Distanz’, ‘Medium/Konzeption’ und ‘Mündlichkeit/Schriftlichkeit’ in der Germanistik wichtige Referenz- bzw. Reibungspunkte darstellen.14 Das gilt insbesondere für den Medienbegriff, der in der Literatur zum Teil kritisch diskutiert wird. In ihrem Beitrag zur Rezeption des Nähe/Distanz-Modells bringt Maria Selig diese Reaktionen wie folgt auf den Punkt: „Die Argumentationen im Zusammenhang mit dem Modell sind häufig gekennzeichnet von einer Art Frontstellung der Medialität gegenüber“ (Selig 2017, 119).15 Um welche Frontstellungen es sich dabei handelt, ist Gegenstand des nächsten Abschnitts.

3 Medienindifferenz und Medienvergessenheit

Koch/Oesterreicher beziehen den Ausdruck ‘Medium’, wie sie in ihrem 1985er-Aufsatz schreiben, auf „die beiden Realisierungsformen für sprachliche Äußerungen“ (1985, 17), auf die phonische und auf die graphische Ebene. Man mag diese Engführung problematisch finden (siehe dazu einzelne Beiträge in dem Sammelband von Feilke/Hennig 2016); man muss dies aber zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Das gilt um so mehr, wenn man das Modell aus medienlinguistischer Sicht betrachtet. In der Medienlinguistik (und so auch in der neueren Internetforschung) herrscht ein anderes Medienverständnis vor, Medien werden hier als Institutionen (z.B. Fernsehanstalten), als Publikationsformen (z.B. Zeitungen) oder als technische Hilfsmittel gesehen – und schnell besteht die Gefahr, diese Konzepte in Verbindung zu ‘Medium’ bei Koch/Osterreicher zu bringen. Auf den Umstand, dass sie ihrerseits von einem anderen Medienbegriff ausgehen, weisen Koch/Oesterreicher in ihren neueren Arbeiten aber deutlich hin (vgl. Koch/Oesterreicher 2011, 14).

Einen instruktiven Überblick über die verschiedenen Deutungen des Medienbegriffs findet man sowohl in der Medien-Kulturgeschichte von Wolfgang Raible (vgl. Raible 2006, 12) als auch in der Textlinguistik-Einführung von Kirsten Adamzik (vgl. Adamzik 2016, 61). Adamzik stellt fest, dass man für das, was Koch/Oesterreicher unter ‘Medium’ verstehen, „inzwischen […] einen anderen Terminus vorzieht, nämlich Modus bzw. Modalität“ (Adamzik 2016, 64; Fettdruck im Original). Koch/Oesterreicher verwenden den Ausdruck ‘Modalität’ gelegentlich auch selbst, so z.B., wenn sie in ihrer letzten gemeinschaftlichen Publikation erläutern, dass Medien (in ihrem Sinne, C.D.) bestimmte „sensorische Modalitäten“ ansprechen und dieses Konzept von Medien von „Speicher- und Übertragungsmedien, Telefon, Internet usw.“ (Oesterreicher/Koch 2016, 53) zu unterscheiden sei. Diese beiden Medienbegriffe werde ich im Folgenden mit Medium1 (modalitätsbezogen) und Medium2 (technikbezogen) unterscheiden und damit deutlich machen, um welches Medienkonzept es jeweils geht. Denn wie wir noch sehen werden, beziehen sich die kritischen Überlegungen zur ‘Medienindifferenz’ auf den Medium1-Begriff (der für Koch/Oesterreicher zentral ist). Dagegen legt die Kritik an der ‘Medienvergessenheit’ (s.u.) den Medium2-Begriff (der in der neueren Medienlinguistik zentral ist) zugrunde.

Darüber hinaus wird dem Modell noch eine zweite Art von Medienvergessenheit angelastet, und die Vertreter dieser Position (z.B. Jan Georg Schneider) setzen nochmals ein anderes Medienkonzept an (Medium3). Sie vertreten die Auffassung, dass das „Zeichen mitsamt seinen medial-materiellen Eigenschaften“ in der Zeichenprozessierung nicht nur übermittelt, sondern dadurch erst konstituiert werde (vgl. Schneider 2016, 343; siehe auch Schneider et al. 2018, 57–69). Schneider bezieht sich hier auf Fehrmann/Linz (2009) und stellt in Anlehnung an deren Publikation fest, „dass es keine nichtmediale Kommunikation“ (Schneider 2016, 343) gebe. Daran wiederum übt Thomas Krefeld Kritik. Er merkt an:

Energisch widersprechen muss man allerdings der ‘Auffassung […], dass es keine nichtmediale Kommunikation gibt’ (S. 343). Es zeigt sich hier, dass Schneider die eigentliche linguistische Schwachstelle des Medienbegriffs von Peter Koch & Wulf Oesterreicher ebenso wenig gesehen hat wie die anderen Autoren des Bandes. (Krefeld 2018, 12)

Krefeld argumentiert, dass das Phonische eine Sonderstellung habe; in der linguistischen Analyse könne man dabei nicht von der Artikulation/Audition abstrahieren, es sei ein „unmittelbares Sprechen, ohne irgendein zusätzliches Mittel“ (Krefeld 2018, 12) – und dieses Sprechen sei nicht medial. Das schließe natürlich nicht aus, dass akustische Sprache medial übermittelt werden könne; es sei aber falsch, die Materialität des Zeichens mit seiner Medialität gleichzusetzen.1

Man muss in der Diskussion um das Modell von Koch/Oesterreicher also zwischen mindestens drei Medienbegriffen – Medium1, Medium2 und Medium3 – und zwei Arten von Medienvergessenheit unterscheiden. Das mag verwirrend erscheinen, hängt aber damit zusammen, dass der Medienbegriff selbst so facettenreich ist. Doch vermutlich hätten Koch/Oesterreicher gut daran getan, nicht ihrerseits den Terminus ‘Medium’ zu bemühen; besser hätten sie von Beginn an von ‘Modalität’ gesprochen und folglich von ‘Modalität und Konzeption’, nicht von ‘Medium und Konzeption’.2 Die vielen medientheoretischen Auseinandersetzungen rund um ihr Modell wären dann vielleicht ausgeblieben.

Worauf bezieht sich der Vorwurf der Medienindifferenz nun aber genau, und was wird unter dem Schlagwort ‘Medienvergessenheit’ verstanden? Kommen wir zunächst zur Medienindifferenz: Ich übernehme diesen Ausdruck von Selig (2017); in anderen Arbeiten ist von Medienunabhängigkeit oder Medienneutralität die Rede (z.B. Feilke 2016). Ausgangspunkt der Kritik ist die Aussage von Koch/Oesterreicher, dass die Ebenen ‘Konzeption’ und ‘Medium’ unabhängig voneinander seien. Das zeige sich unter anderem daran, dass es keine festen Korrelationen zwischen der Einordnung von Äußerungsformen im Nähe/Distanz-Kontinuum und ihrer medialen Realisierung gebe. Es bestünden zwar Affinitäten, d.h. bevorzugte Beziehungen (z.B. medial schriftlich – konzeptionell schriftlich), es seien aber auch gegenläufige Kombinationen möglich (z.B. medial schriftlich – konzeptionell mündlich). Dieser Punkt ist in der Rezeption des Modells unbestritten und hat dem Ansatz gerade in der Medienlinguistik viel Zustimmung eingebracht. Was aber als problematisch angesehen wird, ist die „medium transferability“, die Koch/Oesterreicher in diesem Zusammenhang geltend machen (vgl. z.B. Oesterreicher/Koch 2016, 21). Sie orientieren sich dabei sowohl an Ludwig Söll als auch an John Lyons, dessen Arbeiten in den 1980er Jahren breit rezipiert wurden. In seiner mehrfach aufgelegten Einführung „Language and Linguistics“ schreibt Lyons:

A distinction must be drawn between language-signals and the medium in which the signals are realized. Thus it is possible to read aloud what is written and, conversely to write down what is spoken. […] In so far as language is independent, in this sense, of the medium in which language-signals are realized, we will say that the language has the property of medium-transferability. (Lyons 1981, 11; Fettdruck im Original)

In ihrem 1985er-Aufsatz verweisen Koch/Oesterreicher nur in einer Fußnote auf die hier mit dem Ausdruck „medium-transferability“ bezeichnete Übertragbarkeit von einem Medium in das andere (vgl. Koch/Oesterreicher 1985, 17),3 in späteren Arbeiten bauen sie diesen Aspekt in den Text selbst ein. Sie wollen damit der Aussage Nachdruck verleihen, dass „selbstverständlich […] Transpositionen aller genannten Äußerungsformen in das jeweils andere Realisierungsmedium jederzeit möglich sind“ (Koch/Oesterreicher 1985, 21). Als Beispiel nennen sie einen Tagebucheintrag, den man laut vorlesen kann, oder den Vortrag, den man abdrucken kann.

Ihre Aussagen zur „medium-transferability“ haben Koch/Oesterreicher den Vorwurf der Medienindifferenz bzw. Medienneutralität eingebracht (vgl. dazu ausführlich Feilke 2016, 143–148; Adamzik 2016, 70–72; Selig 2017, 119–123). Helmuth Feilke stellt z.B. fest, dass sich die „Autoren durch ihre apodiktische Trennung von Medialität und Konzeption […] in der Linguistik und Sprachdidaktik vielfacher Kritik ausgesetzt haben“ (2016, 145), und Maria Selig merkt an: „Vollständig zurückzuweisen ist schließlich der Gedanke an die mediale Äquivalenz beim Transkript eines spontanen Gesprächs“ (2017, 122). Ein transkribiertes Gespräch sei eben kein Gespräch, nur aus der Perspektive des Wissenschaftlers könne man von Äquivalenz und Austauschbarkeit sprechen. Doch eine solche Austauschbarkeit meinten Koch/Oesterreicher meines Erachtens nicht; sie schreiben ja selbst, dass ein Brief, wenn er vorgelesen werde, einen anderen Charakter bekomme und die dadurch entstehenden Veränderungen (z.B. durch die dialektale Aussprache) „eben auch für Modifikationen im konzeptionellen Profil der Äußerungen verantwortlich sind“ (Oesterreicher/Koch 2016, 22). Was sie aus meiner Sicht einzig betonen wollten, ist, dass Sprache prinzipiell von einer Modalität in die andere transponierbar ist (vgl. dazu auch Feilke 2016, 144). Wie sonst könnte man als literaler Mensch laut lesen, was man schreibt, und aufschreiben, was man spricht? Das bedeutet aber nicht, dass die Äußerungen im Nähe/Distanz-Kontinuum an derselben Stelle eingeordnet werden müssten. Wie wir weiter unten auch am Vergleich von Chat-Konversationen und Gesprächen sehen werden, gibt es hier wesentliche Unterschiede, die eine Eins-zu-Eins-Entsprechung in der Positionierung solcher Kommunikationspraktiken auf phonischer und graphischer Ebene verbieten (vgl. Abschnitt 4). WhatsApp-Chats beispielsweise unterliegen, stellt Jakob (2018) fest, spezifischen pragmatischen Bedingungen, und diese „Affordanzbündel“ sind nicht dieselben wie in einer Face-to-Face-Kommunikation. Insofern ist auch die Rede von „getippten Gesprächen“ (vgl. den Titel eines Beitrags von Angelika Storrer aus dem Jahr 2001) in Bezug auf die Chat-Kommunikation irreführend.

Weiter oben wurde schon festgestellt, dass die Kritik an dem Modell von Koch/Oesterreicher an verschiedene Medienbegriffe anschließt. Wenn Jannis Androutsopoulos in seinem Aufsatz „Neue Medien – neue Schriftlichkeit?“ von einer „Medienvergessenheit“ des Ansatzes spricht, „der den Medienbegriff nur auf die grafische Realisierung des Zeichensystems Sprache bezieht und die Rolle technischer Medien kaum reflektiert“ (Androutsopoulos 2007, 80), dann legt er einen technischen Medienbegriff (= Medium2) zugrunde.4 Diese Kritik lässt sich aber schnell entkräften. Denn es war gar nicht der Anspruch Koch/Oesterreichers, die Rolle technischer Medien zu „reflektieren“; sie haben (nun einmal) einen anderen Medienbegriff (vgl. dazu Dürscheid 2016). Das Problem liegt hier eher in der Medienlinguistik, die den Koch/Oesterreicher’schen Ansatz an ihrem Medienbegriff misst, nicht am Modell selbst.

Was den zweiten Vorwurf zur Medienvergessenheit betrifft, der oft fälschlich mit dem ersten gleichgesetzt wird, geht dieser von einem anderen Medienbegriff aus: Medien sind dieser Position zufolge Verfahren der Zeichenprozessierung (s.o.), sprachliche Zeichen seien von diesem Prozess (und damit den Kommunikationsbedingungen, unter denen sie produziert werden) nicht abtrennbar und nicht auf den phonischen und graphischen ‘Kode’ reduzierbar (vgl. Schneider 2016, 343). In diesem Sinne könne es keine „Medientheorie ohne Medien“ geben (so der Titel des Beitrags von Fehrmann/Linz 2009), jede Kommunikation sei medial; in der Face-to-Face-Kommunikation sei es z.B. die „Stimmlichkeit der Stimme etwa, die Mimik und Gestik, die Interaktion im gemeinsamen Wahrnehmungsraum, der Augenkontakt“ (Schneider 2016, 340), die „mehrdimensionale mediale Bezugnahmen“ (Fehrmann/Linz 2009, 138) darstellten.

Jan Georg Schneider wendet sich damit gegen einen seiner Meinung nach verkürzten Medienbegriff, in dem die Kommunikationsbedingungen (z.B. die Entkoppelung von Produktion und Rezeption) von der Medialität abgetrennt werden und der Umstand nicht berücksichtigt wird, dass es „sowohl im Mündlichen wie auch im Schriftlichen unterschiedlichste mediale Verfahren“ (Schneider et al. 2018, 62) gebe. Dieser Ansatz erinnert in gewisser Weise an das Interaktionskonzept von Hausendorf et al. (2017), nur ist jenes soziologisch, dieses medientheoretisch ausgerichtet: Auch Hausendorf et al. (2017, 41) betonen, dass die Face-to-Face-Kommunikation „weit über Mund und Ohren“ hinausgehe und hierbei nicht notwendig gesprochen werden müsse. Sie schlagen deshalb vor, auf die Termini ‘Mündlichkeit’ und ‘Schriftlichkeit’ zu verzichten und sie durch das Begriffspaar ‘Anwesenheit’ und ‘Lesbarkeit’ zu ersetzen (s.o.). Schneider seinerseits fordert dazu auf, die konzeptionelle Dimension nicht von der Medialität zu trennen und den Medienbegriff anders zu definieren. Er kritisiert, dass „in der Linguistik bis heute ein dinglicher Medienbegriff“ vorherrsche (mit dem er vermutlich sowohl Medium1 als auch Medium2 meint) und an diese Stelle ein prozessorientierter Medienbegriff (= Medium3) treten solle (vgl. Schneider 2016, 553). Daran freilich übt wiederum Thomas Krefeld Kritik (s.o.). Er wendet sich dagegen, die Materialität des Zeichens (also seine Artikulation/Audition) mit der Medialität zu identifizieren (vgl. Krefeld 2018, 12), und vertritt seinerseits einen Medienbegriff, der ansatzweise in eine technische Richtung geht (= Medium2).

Es gibt also zahlreiche Diskussionen rund um den Koch/Oesterreicher’schen Medienbegriff und verschiedene kritische Stimmen zu dem von ihnen beschriebenen Verhältnis von Medium und Konzeption. Auf einige wichtige Publikationen wurde Bezug genommen (Schneider, Feilke, Androutsopoulos, Selig, Krefeld), auf andere konnte hier nicht eingegangen werden. Deshalb sei an dieser Stelle nochmals auf den instruktiven Sammelband von Feilke/Hennig (2016) verwiesen. Darin findet man sowohl im zweiten Themenblock unter der Überschrift „Zur wissenschaftstheoretischen und -historischen Verortung“ (S. 73–186) als auch im vierten Themenblock „Zur medialen Dimension von Nähe und Distanz“ (S. 333–415) gute weiterführende Literaturhinweise zur Rezeption des Modells.

4 Koch/Oesterreicher und das Internet

Kommen wir nun abschließend zu der Frage, was Peter Koch und Wulf Oesterreicher in ihren neueren Publikationen selbst zum Thema ‘neue Medien’ (die ja so neu nicht mehr sind) schreiben und wo die aktuelle Internetforschung in Bezug auf das Verhältnis von Schriftlichkeit (Graphie) und Mündlichkeit (Phonie) steht. Zunächst zum ersten Punkt: In der überarbeiteten Auflage ihres Studienbuchs halten Koch/Oesterreicher fest:

Die völlig neuen Kommunikationsformen, die sich vor unseren Augen im Bereich der computergestützten Medien inzwischen eingebürgert haben (E-Mail, SMS, chat etc.), sind längst auch auf das Interesse der Linguisten gestoßen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, dass das Schema in Abb. 5, das allein die Medien Phonie und Graphie berücksichtigt, nicht ausreicht, die Komplexität dieser neuesten medialen Entwicklungen zu erfassen. Einer solchen Einschätzung ist jedoch entschieden zu widersprechen. (Koch/Oesterreicher 2011, 12–14)

Warum dieser Einschätzung zu widersprechen ist, führen sie im Anschluss daran kurz aus; die Begründung entspricht der, die sie – hier etwas ausführlicher – in ihrer letzten gemeinschaftlichen Publikation vortragen. In diesem Beitrag widmen sie dem Thema sogar ein eigenes Kapitel, das die Überschrift „Neue Medien und Korpuslinguistik“ trägt. Hier stellen sie fest, dass man der Meinung sein könne, dass die „Nähe-Distanz-Unterscheidung […] für die Behandlung dieser medialen Entwicklungen unbrauchbar sei“ (Oesterreicher/Koch 2016, 53), dass diese „irrige Meinung“ aber zurückzuweisen sei. Dann legen sie dar, dass auch die neuesten Kommunikationsformen „im sensorischen Bereich letztlich immer auf dem akustischen Prinzip der Phonie oder auf dem visuellen Prinzip der Graphie“ (Kursivierung im Original) aufbauen würden und deshalb selbstverständlich auch diese „mit den anthropologisch fundierten kommunikativen Kategorien erfasst“ (2016, 53) werden können.1

In der Tat sind alle drei von ihnen genannten Kommunikationsformen (die E-Mail-, die SMS- und die Chatkommunikation) schriftbasiert; sie basieren auf dem „Prinzip der Graphie“ (s.o.). Daran ändert auch nichts der Umstand, dass in eine E-Mail Audio- oder Videodateien integriert oder in Kombination mit einer Chatnachricht Fotos verschickt werden können. Dagegen beruhen beispielsweise Internettelefonate wie auch das Versenden von Sprachnachrichten auf dem „Prinzip der Phonie“ (s.o.). Natürlich lassen sich beide Modalitäten, Phonie und Graphie, kombinieren, wie dies z.B. ja auch in der massenmedialen Kommunikation, etwa in Fernsehnachrichten, der Fall ist. In einem Nachrichtendienst wie WhatsApp kann beispielsweise umstandslos zwischen Sprechen und Schreiben hin und her gewechselt werden; über ein soziales Netzwerk kann man Texte, Fotos und Videos hochladen, in Skype kann man einen Text-, Video- oder einen Audiochat führen und parallel dazu eine Textdatei oder eine PowerPoint-Präsentation geöffnet haben, über die man sich austauscht. Es wäre aber trotzdem falsch zu behaupten, dass die Grenzen von Phonie und Graphie deshalb aufgehoben würden. Davon gehen z.B. Hausendorf et al. (2017, 377) aus. Sie sprechen davon, dass „die Trennung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit schon auf den ersten Blick brüchig geworden“ sei und „das Lesen mehr und mehr einhergehen mag mit dem Betrachten von Bildern und Videos und dem Hören von Stimmen“. Auch Bahlo/Klein (2017, 181) argumentieren in diese Richtung:2

Aufkommen und lawinenartige Verbreitung neuer Medien wie E-Mail, Chats, SMS, WhatsApp oder Twitter […] haben zum einen zu einer gewaltigen Ausweitung der Adressaten, mit denen man kommunizieren kann, geführt. Zum anderen haben sie Kommunikationsweisen geschaffen, in denen die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache verwischt und in denen auch nichtsprachliche Mittel wie Bilder oder Musik leicht eingebunden werden können.

Halten wir dazu fest: Gesprochene und geschriebene Sprache können in Kombination miteinander auftreten, und sie können gemeinsam rezipiert werden (so wenn in Fernsehnachrichten zu Ton und Bild ein Textband läuft). Doch im Produktionsprozess verwischen sich die Unterschiede nicht, man spricht oder man schreibt. Die Komplexität digitaler Äußerungsprodukte (also z.B. von Fernsehnachrichten oder Skype-Konferenzen) macht es aber umso schwieriger, sie adäquat auf das Modell von Koch/Oesterreicher zu beziehen. Ein WhatsApp-Dialog etwa kann aus Sprachnachrichten, Textnachrichten, Fotos oder nur Emojis bestehen. Durch das Internet haben sich zudem die Kommunikationsbedingungen verändert (z.B. hinsichtlich Privatheit und Öffentlichkeit), so dass es auch auf dieser Ebene problematisch ist, das Modell anzuwenden. Koch/Oesterreicher wagen zwar einen Vorstoß in diese Richtung (etwa in Bezug auf den Chat), doch sind die neueren Kommunikationsformen, die sie nennen, oft Teil komplexerer Kommunikationsszenarien (z.B. Facebook), so dass auch deshalb die Einbettung in das Modell an ihre Grenzen stößt (vgl. Dürscheid 2016, 382).

Schaut man sich aktuelle Arbeiten zur Internetforschung an, stellt man denn auch fest, dass meist nur noch knapp auf das Modell von Koch/Oesterreicher Bezug genommen wird; auch von ‘nähe-’ und ‘distanzsprachlich’ bzw. ‘konzeptionell mündlich’ und ‘konzeptionell schriftlich’ ist nicht mehr so oft die Rede.3 Stattdessen wird in Anlehnung an die Arbeiten von Angelika Storrer zwischen einer interaktionsorientierten und einer textorientierten Schreibhaltung unterschieden (vgl. Storrer 2017). Beim textorientierten Schreiben, so erläutert Storrer, ist das Schreibziel ein Produkt, das aus sich selbst heraus verständlich sein muss, beim interaktionsorientierten Schreiben stehen die Schreiber in einem wechselseitigen Austausch und verfassen ihre Äußerungen in diesem Bewusstsein. Ob diese Unterscheidung sinnvoll ist und ob sie auch auf die mündliche Internetkommunikation übertragen werden kann (z.B. das Telefonat als interaktionsorientierte, die Sprachnachricht als textorientierte Handlung), sei hier dahingestellt. Auf jeden Fall sollte man in der aktuellen linguistischen Internetforschung den Blick nicht mehr nur auf die schriftliche (und bildliche) Kommunikation richten, sondern auch die neueren Entwicklungen in der Internetmündlichkeit berücksichtigen.

Zum Schluss möchte ich auf einen Punkt zurückkommen, der noch einer Begründung bedarf: Weiter oben wurde darauf hingewiesen, dass Chat-Konversationen (graphisch) nicht mit Gesprächen (phonisch) gleichzusetzen seien. Vergleichen wir z.B. ein privates Gespräch in der Familie mit einem Familienchat zum selben Thema (z.B. über eine Geburtstagsfeier). Auch wenn das Thema dasselbe ist und die Beteiligten in derselben Beziehung zueinander stehen: Es gibt Unterschiede, die eine Eins-zu-Eins-Entsprechung dieser beiden Kommunikationsereignisse im Nähe/Distanz-Kontinuum verbieten. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass der Familienchat anderen kommunikativen Bedingungen unterliegt als das Gespräch: Im einen Fall sind Produktion und Rezeption der Äußerungen minimal zeitversetzt (im Chat), im anderen Fall vollziehen sie sich zeitgleich (im Gespräch). Ein weiterer Unterschied ist der, dass die Beteiligten im Familienchat vermutlich Ausdrucksweisen verwenden (z.B. Emojis, Ausrufe- und Fragezeichen), die im Gespräch nicht möglich sind – und umgekehrt (z.B. Gesten). Und noch ein dritter Punkt sei genannt: Bestimmte grammatische Konstruktionen sind im Chat unauffällig, in der gesprochenen Sprache dagegen sind sie auch in einem informellen Duktus markiert (z.B. Artikelellipsen). So hat Karina Frick in ihrer Dissertation zu deutschsprachigen SMS gezeigt, dass in SMS-Nachrichten Artikel- und Präpositionsellipsen auftreten (Frick 2017), die spezifischen syntaktischen Bedingungen unterliegen.

Als Beispiele für solch elliptische Strukturen seien hier einige Auszüge aus schweizerdeutschen Textnachrichten angeführt, die aus dem Schweizer SMS-Korpus stammen: Ø Film ish mega lang gange; das isch Ø hauptsach; bin am sa Ø zürich, am morge bini Ø st. galle.4 Auch zum Französischen findet man in dem SMS-Korpus interessante Belege (z.B. zur Weglassung des Subjekts, vgl. Hey, comment Ø va?). An solchen Daten sieht man, dass durch die neuen Medien (im Sinne von Medium2) neue kommunikative Praktiken entstehen, die spezifische sprachliche Merkmale aufweisen. Mag sein, dass diese Merkmale auch in anderen schriftlich-informellen Kontexten auftreten können (z.B. im Tagebuchschreiben; vgl. Stark/Robert-Tissot 2018), anders als bei der Analyse von Tagebucheinträgen ist man beim Chat aber schnell geneigt, eine Parallele zum Gespräch zu ziehen. Und das wäre falsch: Eine schriftliche Internetkommunikation ist nun einmal kein Gespräch, auch wenn die Nachrichten in kürzesten Abständen hin und her wechseln.

Zu den neuen kommunikativen Praktiken im Internet gehört aber nicht nur die schriftliche, quasi-synchrone Kommunikation, dazu gehört auch, wie weiter oben bereits betont, das Versenden von Sprachnachrichten. Wie aktuelle Studien zeigen, werden diese immer populärer (vgl. Schlobinski/Siever 2018). Und auch die Mensch-Maschine-Kommunikation (z.B. die Kommunikation mit Sprachassistenten wie Siri oder Alexa) spielt in unserem Alltag eine immer größere Rolle.5 Es bleibt abzuwarten, ob diese neuen Formen der digital-mündlichen Kommunikation ebenfalls auf der Basis des Modells von Koch/Oesterreicher beschrieben werden bzw. auch im Hinblick auf solche Interaktionen die Frage diskutiert wird, ob das Modell darauf anwendbar ist. Peter Koch und Wulf Oesterreicher können sich dazu leider nicht mehr äußern.

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